Offene Fragen an ein modernes Suchthilfesystem


Götz Mundle, Berlin, und Josef Aldenhoff, Kiel

Das heute im internationalen Vergleich sehr erfolgreiche und gut etablierte Suchthilfesystem in Deutschland weist einige strukturelle und inhaltliche Besonderheiten auf. Die Trennung der Finanzierung des ärztlichen Teils der Suchttherapien (u.a. Hausarzt und Psychiatrie) durch die Krankenkassen von der Finanzierung der primär psychotherapeutisch ausgerichteten Entwöhnungsbehandlungen durch die Rentenversicherungen erschwert die Etablierung von integrierten Versorgungsmodellen und Behandlungspfaden für Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen. Folge sind längere Wartezeiten und Finanzierungshürden, die gerade bei einer von Stigma und Rückzug gekennzeichneten Erkrankung zu Behandlungsabbrüchen und Chronifizierung führen können. Die inhaltliche Besonderheit des primären und ausschließlichen Therapieziels der lebenslangen Abstinenz führt dazu, dass nur ein geringer Teil der Menschen mit Suchtproblemen sich in Behandlung begeben und Patienten mit mehrmaligen Rückfällen aus dem Behandlungssystem ausgeschlossen werden. Zu diskutieren ist, inwiefern eine zweite Säule des Suchthilfesystems mit dem Ziel einer Trinkmengenreduktion für einige Patienten die Möglichkeit darstellt, schneller in das Suchthilfesystem integriert und bei mehrmaligen Rückfällen eher im Suchthilfesystem weiter behandelt werden zu können. Offen zu diskutieren ist die Frage, wie eine zweite Säule mit Trinkmengenreduktionsprogramm in ein modernes Suchthilfesystem als Ergänzung oder Kombination eventuell mit der Möglichkeit der Wahlfreiheit für den Patienten integriert werden kann.
Schlüsselwörter: Suchthilfe, Finanzierung, Therapieziele, Abstinenz, Trinkmengenreduktion, Wahlfreiheit
Psychopharmakotherapie 2013;20:225–30.

Die Behandlung von körperlichen Erkrankungen erfolgt in einem eng verzahnten Netzwerk aus Hausarzt, ambulantem Spezialisten und stationären Behandlungseinrichtungen, an die sich – falls notwendig – eine Rehabilitation als Nachbehandlung direkt anschließt.

Bei Suchterkrankungen ist vieles anders, aber leider nicht besser

Die ambulante und stationäre Versorgung ist aufgeteilt in zwei mehr oder weniger getrennte Behandlungsnetzwerke. Der Hausarzt und psychiatrische Kliniken sind primär für die medizinische Versorgung, d.h. die Behandlung von körperlichen Folgeerkrankungen und von Entgiftungs- und Motivationsbehandlungen (qualifizierter Entzug) zuständig. Die Entwöhnungsbehandlung selbst wird in einem getrennten Netz aus Suchtberatungsstellen, Fachkliniken und Selbsthilfegruppen durchgeführt [34]. Erschwerend kommt hinzu, dass die Finanzierung beider Systeme getrennt ist. Die Versorgung durch Hausärzte und psychiatrische Kliniken erfolgt durch die gesetzlichen Krankenkassen, Entwöhnungen werden von Rentenversicherungen finanziert. Bedingt durch die zwei getrennten Finanzierungssysteme kommt es zu Lücken zwischen den einzelnen Behandlungssystemen, mit der Folge, dass nicht wenige Patienten nach einer abgeschlossenen Entgiftung in einer psychiatrischen Klinik vor der notwendigen Entwöhnungstherapie abspringen oder hierfür keine Genehmigung erhalten.

Auch bei den Therapiezielen zeigt sich ein relevanter Unterschied zwischen der Behandlung von körperlichen Erkrankungen und der Behandlung von Suchterkrankungen. Bei körperlichen Erkrankungen mit chronischem Verlauf erfolgt bei vermehrtem Auftreten von Krankheitssymptomen üblicherweise ein abgestuftes Vorgehen ambulanter oder stationärer Behandlungsangebote mit differenzierten, auf den Patienten abgestimmten Therapiezielen. Die Finanzierung der Behandlung – auch von chronischen Verläufen – ist gewährleistet. Die Frage, ob ein Patient mit einem schwer einstellbaren Diabetes mellitus oder einem chronischen Asthma bronchiale weiter im medizinischen System behandelt wird, stellt sich nicht. Im Gegensatz hierzu gilt bei Suchterkrankungen bis heute als ausschließliches Therapieziel die lebenslange Abstinenz. Selbst wenn dieses Ziel im Verlauf nicht erreicht werden kann, gibt es heute kaum bis keine alternativen Behandlungsangebote. Bei chronifizierten Behandlungsverläufen mit häufigen Rückfällen wird mit dem Argument einer mangelnden Motivation zusätzlich die Finanzierung von weiteren Behandlungsmaßnahmen infrage gestellt. Das hat zur Folge, dass nur ein geringer Teil der Suchtkranken trotz des im internationalen Vergleich in Deutschland gut etablierten Suchthilfesystems integriert und behandelt wird. Diese Gesamtsituation wirft inhaltliche und strukturelle Fragen auf, die im Folgenden in Ansätzen gestellt und diskutiert werden. Aufgrund der Komplexität der Situation ist es nicht Ziel des Beitrages, diese Fragen abschließend zu beantworten, sondern eine Diskussion über mögliche Ergänzungen und Differenzierungen unseres heutigen Suchthilfesystems in der Praxis anzustoßen.

Strukturelle Besonderheiten moderner Suchttherapie

Die ambulante Versorgung von Alkoholkranken erfolgt in einem vom ärztlichen System unabhängigen Netz aus Suchtberatung und Selbsthilfe, in dem die Ärzte, die in unserem Gesundheitssystem ansonsten etablierte Schlüsselfiguren sind, nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Dieses Netz aus Suchtprävention und -hilfe wird in den „Landesstellen für Suchtfragen“ der einzelnen Bundesländer organisatorisch zusammengefasst. Sie bieten eine Kommunikationsstruktur für alle, die mit dem Thema „Sucht“ befasst sind,

  • auf Trägerseite die Kommunen, Kreise, Gesundheitsämter, Vereine und Verbände,
  • die haupt- und ehrenamtlichen Suchtpräventionskräfte,
  • die Gruppierungen der Selbsthilfe, wie Anonyme Alkoholiker, Blaues Kreuz etc.

und ein Diskussionsforum für die Zusammenarbeit mit landes- und bundesweiten Einrichtungen, wie Sozialministerien, Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern, Ärztekammern und kassenärztlichen Vereinigungen, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und den Universitäten.

Die Kernstruktur bilden meist Suchtprävention und Selbsthilfe, von denen insbesondere die Selbsthilfe einen sehr dezidierten Einfluss auf die im Netzwerk vertretenen Grundüberzeugungen ausübt. Der Einfluss medizinischer Theorien ist im Vergleich zu anderen Krankheitsschwerpunkten eher gemindert.

Welchen Einfluss haben diese strukturellen Eigenheiten für die Behandlung Alkoholkranker? Ganz allgemein kann man zunächst festhalten, dass die Alkoholkranken schlechter gestellt sind als körperlich Kranke.

Kaum Prävention durch Hausärzte

Die für körperliche Störungen typische und durchaus bewährte Primärbehandlung durch den Hausarzt entfällt bei der Alkoholkrankheit fast völlig, und damit eine sinnvolle institutionalisierte Primärprävention. Der Hauptgrund dürfte im fehlenden Problembewusstsein auf beiden Seiten liegen: nur wenige Hausärzte nehmen die Frühwarnzeichen für einen Alkoholmissbrauch oder eine Alkoholabhängigkeit wahr und von sich aus suchen die Betroffenen aufgrund der für sie schwierigen Unterscheidung zwischen Norm- und Risikoverhalten nur in den seltensten Fällen ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe. Hauptbehandlungsgründe sind Alkoholfolgeerkrankungen inklusive alkoholbedingter Unfälle oder, im fortgeschrittenen Stadium, manifeste Entzugssymptome. Die teilweise beachtliche Suchtprävention, die von den sogenannten Landesstellen für Suchtfragen betrieben wird, wendet sich in erster Linie an besondere Risikogruppen, wie zum Beispiel die Jugendlichen, kann aber kaum im Sinne einer globalen Primärprävention wirksam werden.

Trennung von Entgiftung und Entwöhnung

Die gravierendste Diskriminierung der Alkoholkranken liegt in der finanziellen Trennung von Entgiftung und Entwöhnung und der durch die zeitraubende Genehmigung bedingten Verzögerung des Therapiebeginns. Schon für einen Außenstehenden ist nicht zu verstehen, wieso der körperliche Alkoholentzug und die anschließende konsolidierende Entwöhnungstherapie nicht eine sinnvolle Einheit bilden sollen. Die Betroffenen können das noch viel weniger einsehen, weil sie ja nur zu gut wissen, dass ein Entzug ohne Therapie geringe Chancen hat, sondern nur mehr Kosten verursacht. Dieses System ist „gewachsen“, was ihm eine hohe, wenngleich nicht sinnhafte Stabilität verleiht.

Wie in vielen Bereichen der Medizin wirkt sich die Dominanz der in diesem Fall durch Krankenkassen und Rentenversicherung vorgegebenen finanziellen Struktur auf die medizinisch-therapeutischen Abläufe negativ aus, und dies besonders durch den erzwungenen Abbruch der Beziehung zwischen Krankem und Therapeuten. Gerade die Suchtkranken erleben ihre Problematik oft sehr schambesetzt und tun sich deshalb schwer, sich immer wieder neuem Therapiepersonal zu öffnen; die Ärzte in der Entgiftung und später die Suchttherapeuten der Entwöhnung müssen aufs Neue die Vorgeschichte, das Bedingungsgefüge und die Risikofaktoren der individuellen Suchtgeschichte erheben.

Lange Wartezeiten

Ein weiteres, die Prognose noch vor Beginn der eigentlichen Therapie verschlechterndes Problem sind die Wartezeiten, die gerade für noch nicht therapierte Suchtkranke eine erhebliche Motivationsklippe darstellen.

Neue Ansätze

Dass ein Ansatz, der Entgiftung und Therapie in einem ambulanten Langzeitprogramm integriert, nicht nur funktionieren kann, sondern auch beachtlich gute Ergebnisse bringt, wurde von dem am Göttinger MPI für experimentelle Medizin entwickelten ALITA-Programm (Ambulante Langzeit-Intensivtherapie für Alkoholkranke, www.alita-olita.de/de/index_de.html) gezeigt [21]. Die große Systemstabilität in Deutschland hat offensichtlich bisher verhindert, dass dieser Ansatz Nachahmer gefunden hätte.

Zwischenfazit

Aufgrund der Trennung zwischen primär psychotherapeutisch ausgerichteten Entwöhnungsbehandlungen, die von der Rentenversicherung finanziert werden, und dem von den Krankenkassen finanzierten ärztlichen System, das primär körperliche Folgeerkrankungen behandelt, liegen integrierte strukturierte Hausarztprogramme für die körperliche und psychotherapeutische Behandlung von Suchterkrankungen nicht vor.

Inhaltliche Besonderheiten moderner Suchttherapie

In zahlreichen Untersuchungen wurde die generelle Wirksamkeit der Suchtpsychotherapie nachgewiesen. Zwischen den einzelnen Behandlungsverfahren bzw. Psychotherapiebausteinen konnten keine signifikanten Unterschiede gefunden werden, sodass heute meist eklektische Therapien angeboten werden, die Elemente der Motivationstherapie, kognitiv-behavioralen Therapie, interaktionellen Therapie, Paar- und Familientherapien sowie von Selbsthilfegruppen (z.B. des 12-Schritte-Programms) beinhalten [3, 16, 27, 31].

Standardisierte Behandlungsprogramme wie das modular aufgebaute Manual „Alkoholismus-spezifische Psychotherapie“ [6] oder der Gruppenleitfaden Alkoholabhängigkeit [17] integrieren die einzelnen Bausteine der Suchttherapie und ermöglichen mittlerweile einen hohen Qualitätsstandard in dieser. Abgebildet werden im Regelfall die typischen Phasen der Suchttherapie (Motivationsaufbau, Verhaltensanalyse, Analyse der Grundkonflikte, Ermittlung des sozialen Funktionsniveaus, Fertigkeitentraining, Umgang mit Rückfall). Vermittelt wird meist ein umfassendes Suchtmodell mit neurobiologischen Elementen [15], insbesondere dem Suchtgedächtnis, psychosozialen und intrapsychischen Zusammenhängen und Auswirkungen der Substanz selbst.

Suchtmodelle

Modelle für die Entstehung von Rückfällen sind heute mehrdimensional und berücksichtigen sehr differenziert unterschiedliche Aspekte wie Suchtgedächtnis, Stresstoleranz, negative Emotionen, daraus resultierende Gedanken und Verhaltensweisen oder Alkoholreagibilität [2].

Therapieverfahren

Neue Therapieverfahren integrieren spezifische Therapiebausteine wie Emotionskontrolle, Stresstoleranz oder Impulskontrolle. Methoden der Achtsamkeit im Sinne der dritten Welle der Verhaltenstherapie werden in standardisierten Behandlungsmanualen wie der achtsamkeitsbasierten Rückfallprävention MBRP (Mindfulness-based relapse prevention) [4, 5, 40], der dialektisch behavioralen Therapie (DBT) nach M. Linehan [12, 18] und der Akzeptanz- und Commitment-Therapie nach C. Hayes [23, 26] angeboten.

Trotz dieser sehr differenzierten Suchtbehandlung bleiben einige Eigenheiten bestehen, die sie von der Behandlung anderer seelischer oder körperlicher Störungen unterscheidet:

  • Das Prinzip der medikamentösen Behandlung, das für körperliche Störungen selbstverständlich ist, findet sich bei der Alkoholkrankheit nicht.
  • Auch die Kombinationsbehandlung aus Psychotherapie und Pharmakotherapie, die heute bei den meisten seelischen Krankheiten etabliert ist, spielt keine Rolle.
  • Während wir sonst in der Medizin abgestufte Behandlungskonzepte kennen, wo je nach Verlauf und Schweregrad unterschiedliche Strategien vorgeschlagen werden, ist das entscheidende Therapieziel in der Behandlung des Alkoholismus nach wie vor die Abstinenz.
  • In Entzugskliniken ist das langfristige Ziel der Abstinenz weiterhin alleiniges Therapieziel. Auch wenn Rückfälle während einer Therapie mittlerweile nicht mehr zum Behandlungsabbruch führen, sondern pro-aktiv in die Therapie integriert werden, hat sich am primären Therapieziel nichts verändert. Für Patienten, die das Abstinenzziel nicht erreichen und mehrmalige Rückfälle haben, gibt es kaum Behandlungsalternativen. Ein abgestuftes Vorgehen z.B. mit dem primären Ziel einer psychosozialen Stabilisierung, bei dem das Abstinenzgebot zumindest vorübergehend durch eine Trinkmengenreduktion ersetzt wird, existiert im heutigen Suchthilfesystem nicht.

Erfolg und Scheitern

Gerade eine differenzierte Betrachtung der Behandlungserfolge nach Entwöhnungsbehandlungen macht es jedoch notwendig, das Abstinenzgebot als alleiniges Therapieziel zu hinterfragen:

In einer deutschen Langzeituntersuchung über insgesamt 16 Jahre [24] zeigte nur eine kleine Gruppe von ca. 25% der Patienten eine langfristig stabile Abstinenz. Bei der Mehrheit der Patienten kam es zu erneuten Trinkepisoden. Etwa 25% zeigten einen kurzfristigen Alkoholkonsum ohne soziale Konsequenzen, ca. 50% einen langfristig hohen Alkoholkonsum mit sozialen, psychischen und körperlichen Konsequenzen. Interessanterweise zeigten sich bei den einzelnen Untersuchungszeitpunkten Veränderungen in alle Richtungen. Wenngleich die Gruppe der konsequent Abstinenten insgesamt am stabilsten war, so wurden auch abstinente Patienten erneut rückfällig, genauso wie rückfällige Patienten teilweise selbst nach 10 Jahren Rückfälligkeit erneut ihren Weg in die Abstinenz fanden. Rund 25% der Patienten waren nach 16 Jahren verstorben, ca. 80% der Verstorbenen waren rückfällig.

Dies bedeutet, dass rund 50% der Patienten von einer hochstrukturierten Suchttherapie profitieren, also entweder alkoholabstinent leben oder nur kurzfristige Phasen erneuten Konsums zeigen. Die andere Hälfte der Patienten ist durch häufige Episoden mit schwerem Konsum charakterisiert. Bestätigt werden diese Ergebnisse durch internationale Studien, die einen ähnlichen Wechsel im Konsummuster von konsequenter Abstinenz über moderaten Konsum bis zu schwer rückfälligem Verhalten aufweisen [10, 38, 39].

Offene Fragen an eine moderne Suchttherapie

Gerade diese nicht unerheblichen Rückfallraten führen dazu, die Grundphilosophie der im Kern durchaus erfolgreichen Suchttherapie für Alkoholabhängige zu hinterfragen. Gibt es wirklich keine Alternativen für die Gruppe, die nicht erfolgreich behandelt werden kann? Nicht zu ignorieren ist auch die Tatsache, wie gering die Quote derjenigen Patienten ist, die vom heutigen abstinenzorientierten Suchthilfesystem erreicht werden [11]. Seit vielen Jahren ist die Wirksamkeit zieloffener Therapieangebote bekannt; sie werden in England und den Niederlanden bereits angeboten und haben für einen nicht geringen Teil an Patienten erfolgreiche Veränderungen des Trinkverhaltens zur Folge. Obwohl die Abstinenzraten dieser Programme im Regelfall nicht so hoch wie bei abstinenzorientierten Ansätzen sind, ist der langfristige Erfolg, gemessen an Lebensqualität und sozialer Integration, nur unwesentlich schlechter [1, 14]. Patienten, die zwischen Abstinenz und Trinkmengenreduktion wählen können, zeigten in rund 50% der Fälle eine Verbesserung des Trinkverhaltens. Rund ein Viertel der Patienten entschied sich aus eigener Motivation für eine abstinente Lebensweise, etwa weiteren 25% der Patienten gelang es, ihre Trinkmengen zu reduzieren. Zwar kommt es bei diesen Therapieansätzen kurzfristig häufiger zu einem Wechsel von Abstinenz zu reduziertem Konsummuster, langfristig unterscheiden sich die Ergebnisse von klassischen abstinenzorientierten Langzeittherapien jedoch kaum. Ganz entscheidend erscheint die Tatsache, dass selbst diese offenen Ansätze in der Lage sind, durch Reduktion der Trinkmengen alkoholbedingte Schäden zu vermindern [7, 29, 30].

All dies legt den Schluss nahe, dass eine zweite Säule der Suchttherapie neben der strikt abstinenzorientierten Therapie möglich und sinnvoll sein könnte.

Welche Elemente sollte eine moderne Suchttherapie enthalten?

  • Die Wahlfreiheit des Patienten bezüglich des Therapieziels. Möglich wäre, dass durch derartige Angebote deutlich mehr Patienten erreicht werden, weil sie nicht durch die sehr langfristigen stationären Behandlungsprogramme mit dem alternativlosen Abstinenzziel abgeschreckt werden.
  • Die Möglichkeit der zusätzlichen Wahl eines unterstützenden medikamentösen Angebots. Die Studienergebnisse zu den heute verfügbaren Anticravingmitteln bieten durchaus sinnvolle Perspektiven zur Ergänzung der bisher allein dominierenden Psychotherapieprogramme [13]. Dass sie in der Praxis bisher allenfalls marginale Bedeutung haben, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit in ihrem konzeptionellen Widerspruch zur Abstinenzphilosophie der Selbsthilfe begründet. Ein Miteinander beider Behandlungsangebote wäre aufgrund der genannten Überlegungen wünschenswert, aus heutiger Sicht in der Praxis kaum vorstellbar.
  • Eine stärkere Einbeziehung der hausärztlich ambulanten Behandlungsebene in die Suchttherapie. Dies könnte vor und nach dem etablierten Setting aus Entzug und „Rehabilitation“ der Fall sein, möglicherweise aber auch als eigenständiger Ersatz bei Patienten, die sich zu einer stationären Therapie nicht durchringen können [32, 33].

Auch wenn die Einführung einer zweiten Säule aus den genannten Gründen sinnvoll erscheint, so stellt die praktische Umsetzung im klinischen Alltag des Suchthilfesystems eine Herausforderung mit noch vielen offenen Fragen dar:

  • Ist ein Behandlungsangebot mit Wahlfreiheit in einer klassischen stationären Entwöhnungseinrichtung möglich? Können zeitgleich hochstrukturierte abstinenzorientierte Programme einer Fachklinik mit Programmen einer Trinkmengenreduktion kombiniert werden? Für Patienten mit mehreren Rückfällen, die das Ziel einer langfristigen Abstinenz nicht erreichen, könnte ein Spezialangebot als zweiter Schritt bei einer nicht erfolgreichen abstinenzorientierten Entwöhnungsbehandlung durchaus sinnvoll sein. Ein Miteinander beider Angebote in einem Haus erscheint sowohl aus Patienten- als auch aus Therapeutensicht heute jedoch nur schwer vorstellbar.
  • Können Suchtberatungsstellen und psychiatrische Kliniken mit Entgiftungs- und Motivationsstationen beide Säulen in ihr Behandlungsangebot integrieren? Bisher besteht Klarheit in der Zielsetzung. Das Abstinenzgebot ist das primäre Therapieziel, entsprechend werden die notwendigen Behandlungsschritte geplant. Bei der Etablierung einer zweiten Säule muss zum Beispiel die Frage nach Kriterien für die Zuordnung zu den einzelnen Säulen diskutiert werden [19, 20]. Außerdem könnten Befürchtungen vorhanden sein, dass eine Motivation für eine abstinenzorientierte Behandlung nicht mehr möglich ist, wenn zeitgleich andere Patienten sich für ein Programm mit dem Ziel einer Trinkmengenreduktion frei entscheiden können.
  • Können Hausärzte motiviert werden, sich aktiver an der Suchttherapie zu beteiligen und im Sinne eines gestuften Vorgehens ein strukturiertes Trinkmengenreduktionsprogramm anzubieten? Wie erfolgt die Fortbildung und Qualitätssicherung? Wie wird eine enge Kooperation mit dem Suchthilfesystem gewährleistet, sodass im Interesse des Patienten ein sinnvolles Miteinander entsteht [8, 9, 22, 35]?
  • Wie können Mitarbeiter des Suchthilfesystems motiviert werden, offen über Chancen und Grenzen einer zweiten Säule zu diskutieren? In dem heute sehr gut etablierten Suchthilfesystem mit klaren therapeutischen Vorstellungen und Zielen stellt eine zweite Säule für viele einen Paradigmenwechsel dar, der vor allem Befürchtungen auslöst [28, 33]. Hier muss geprüft werden, wie langjährig in ihrem System erfolgreiche Einrichtungen und Therapeuten in den Prozess der Etablierung einer zweiten Säule aktiv eingebunden werden können. Ansonsten besteht die Gefahr, dass nicht ein Miteinander, sondern ein Gegeneinander beider Systeme entsteht, was letztendlich für Patienten die größten Nachteile hätte. Ähnliches gilt für Selbsthilfegruppen, die ein wichtiger Bestandteil unseres heutigen Suchthilfesystems sind und deren zentrales Selbstverständnis die Abstinenz darstellt.

Diskussion

Aufgrund der Komplexität des Suchthilfesystems und der Krankheitsverläufe von Patienten mit Suchterkrankungen gibt es keine einfachen Antworten auf die aktuellen Fragestellungen. Legt man die unterschiedlichen Verläufe und vor allem die Bedürfnisse von Suchtpatienten bei der künftigen Planung der Suchttherapie zugrunde, ergibt sich der im Interesse der Patienten fast zwingende Schluss, unterschiedliche Therapieangebote für unterschiedliche Krankheitsverläufe auszubauen. Abstinenzorientierte Entwöhnungsbehandlungen sind für die überwiegende Mehrheit von Patienten mit Suchterkrankungen die primär anzustrebende Behandlung. Die Etablierung einer zweiten Säule mit Elementen einer Trinkmengenreduktion als Ergänzung der bestehenden Suchttherapie erscheint aus jetziger Sicht am ehesten im hausärztlichen und ambulanten Bereich möglich. Wie bei anderen Erkrankungen könnte das bestehende Therapieangebot so erweitert und hierdurch mehr Patienten erreicht werden.

Die Geschichte des Suchthilfesystems belegt, dass Veränderungen möglich sind. Noch vor hundert Jahren waren Suchthilfeeinrichtungen primär Erziehungsanstalten, Suchttherapeuten hatten selbst abstinent zu leben [36]. Noch vor 20 Jahren waren Rückfälle im Rahmen einer Behandlung im Regelfall Grund für Behandlungsabbrüche. Heute stellen Entwöhnungsbehandlungen differenzierte multiprofessionelle psychotherapeutische Behandlungsangebote dar, in denen Rückfälle integriert und aktiv therapeutisch genutzt werden [25]. Die Etablierung einer zweiten Säule der Suchttherapie erscheint daher in kleinen Schritten möglich. In der Hausarztpraxis kann ein Therapiemodul, bei dem die Therapieziele, sprich Abstinenz oder Trinkmengenreduktion, mit dem Patienten gemeinsam besprochen werden, einen wichtigen Motivationsschritt für eine abstinenzorientierte Therapie darstellen [33, 37]. Nach einer erfolglosen Entwöhnungstherapie kann ein Programm mit einem moderaten Konsum eine zusätzliche Therapieoption vor Behandlungsabbruch darstellen. Im Interesse derjenigen Patienten, die wir heute nur unzureichend erreichen, ist die Diskussion über Chancen und Risiken einer zweiten Säule, die für viele noch einen Paradigmenwechsel darstellt, wünschenswert.

Interessenkonflikterklärung

Eine Einrichtung, für die HM tätig ist, hat Gelder von der Firma Lundbeck erhalten.

Literatur

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Prof. Dr. Götz Mundle, Ärztlicher Geschäftsführer Oberbergkliniken, Charlottenstraße 60, 10117 Berlin, E-Mail: goetz.mundle@oberbergkliniken.de

Prof. Dr. Josef Aldenhoff, em. Direktor Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Zentrum für integrative Psychiatrie, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Quinckestraße 19, 24106 Kiel, E-Mail: ja@josefaldenhoff.de

Open questions concerning a successful addiction treatment system

The addiction treatment system in Germany is very well established and successful when compared to international settings. Still there are a number of open questions concerning treatment goals and treatment structure.

The financing system of the therapy is a major issue: The medical part of the addiction treatment (including GP and Psychiatry) is paid by the health care system and the primary psychotherapeutic oriented rehabilitation is paid by the social pension funds. This separation complicates the establishment of integrated care models and care pathways for patients with addictions.

Consequences are longer waiting times, treatment interruptions or even dropouts and financial hurdles for highly stigmatized patients who have serious difficulties to accept their disease and especially their treatment.

Also the primary treatment goal of lifelong abstinence means that only a small proportion of people with addiction problems are seeking treatment, and patients with multiple relapses are in danger to be excluded of the treatment system. Therefore it has to be discussed if a second treatment option in the current addiction system with the aim of reducing alcohol consumption could be helpful for some patients. Open to debate is the question how a second treatment option with an alcohol reduction program can be integrated in a modern addiction treatment system as a supplement or a combination. It might be possible, that by choosing their goals by themselves more patients can be motivated and integrated in our addiction treatment system.

Key words: Addiction, treatment, financing, abstinence, treatment goal, alcohol reduction program, treatment options

Psychopharmakotherapie 2013; 20(05)