Priv.-Doz. Dr. Dieter Angersbach, Wolfratshausen
Agomelatin wurde zu Beginn 2009 von der Europäischen Arzneimittelagentur zur Behandlung der Depression zugelassen. Es ist ein melatonerger (MT1- und MT2-Rezeptoren-)Agonist und 5-HT2C-Antagonist. Die Substanz erhöht im frontalen Cortex die Freisetzung von Dopamin und Noradrenalin und beeinflusst nicht den extrazellulären Serotoninspiegel. In Studien zur Behandlung der Depression verringerte Agomelatin wirksam die depressionsbegleitende Angst. Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von 25 bis 50 mg/Tag Agomelatin in der Behandlung der generalisierten Angststörung wurden in einer Plazebo-kontrollierten Phase-II-Studie gezeigt. In der vorliegenden Studie sollten die Langzeitwirksamkeit und Sicherheit von Agomelatin bei nicht depressiven Patienten mit einer generalisierten Angststörung untersucht werden.
Studiendesign
Die Studie wurde in der Zeit von November 2007 bis September 2009 von 31 Zentren in Kanada und fünf europäischen Ländern durchgeführt. Die Studie begann mit einer 16-wöchigen offenen Behandlung mit 25 mg/Tag Agomelatin. Bei unzureichendem Ansprechen auf die Behandlung konnte die Dosis auf 50 mg/Tag gesteigert werden. Die Entscheidung darüber wurde mit Unterstützung eines interaktiven Interactive-Voice-Response-(IVR-)Systems getroffen (die Kriterien waren für Arzt und Patienten verblindet). Nach Woche 16 wurden geeignete Patienten randomisiert einer 6-monatigen doppelblinden Behandlung mit Agomelatin oder Plazebo zugeteilt. Geeignet waren Patienten mit einem Score von ≤10 auf der Hamilton Anxiety Scale (HAMA; 0–56 Punkte; >30 Punkte für sehr schwere Angstzustände) in Woche 16. Zudem durfte der HAMA-Score zwischen Woche 12 und Woche 16 um nicht mehr als vier Punkte gestiegen sein. Diese Kriterien wurden wiederum (für Arzt und Patient verblindet) mithilfe eines zentralen IVR-Systems bewertet. Nach sechs Monaten wurden die Agomelatin-Patienten randomisiert einer einwöchigen Behandlung mit Agomelatin oder Plazebo zugewiesen. Danach wurde das Auftreten von Absetzsymptomen mithilfe der 43-Item Discontinuation Emergent Signs and Symptoms Checkliste (DESS) evaluiert.
Patienten
Eingeschlossen wurden Patienten im Alter von ≥18 Jahren mit der Diagnose einer generalisierten Angststörung nach DSM-IV-TR (Diagnostic and statistical manual of mental disorders IV text revision) und einem HAMA-Score von ≥22 sowie mit einem Score der Items 1 und 2 (ängstliche Stimmung und innere Anspannung) von jeweils ≥2 (wenigstens mäßiger Schweregrad) und der Summe beider Scores von ≥5. Der Score auf der Montgomery-Åsberg Depression Rating Scale (MADRS) lag unter 17. Patienten mit anderen psychischen Erkrankungen innerhalb der letzten sechs Monate wurden nicht eingeschlossen. Ausgeschlossen blieben auch behandlungsresistente Patienten und Patienten, die kürzlich anxiolytisch behandelt wurden.
Studienvisiten
Wirksamkeit und Verträglichkeit wurden während der offenen Behandlung nach 2, 4, 8, 12 und 16 Wochen und während der Doppelblindphase alle vier Wochen beurteilt.
Primärer Endpunkt war die Zeit bis zum Rückfall ab dem Zeitpunkt der Randomisierung. Rückfall war definiert als ein HAMA-Score von ≥15 oder die klinische Beurteilung des Fehlens von Wirksamkeit. Sekundäre Wirksamkeitsparameter waren unter anderen der HAMA-Gesamtscore und der Score des klinischen Gesamteindrucks, Teil Schweregrad der Erkrankung (Clinical Global Impression, Severity of Illness; CGI-S). Weiterhin wurden Selbstbeurteilungsskalen eingesetzt: die Hospital Anxiety and Depression-Scale (HAD) und die Sheehan Disability-Scale (SDS). Die Verträglichkeit wurde aufgrund der berichteten unerwünschten Ereignisse sowie durch Kontrolle der Vitalparameter und der hämatologischen Parameter bewertet.
Studienergebnisse
Patienten
Von den 477 eingeschlossenen Patienten beendeten 329 (69,0%) die offene Behandlungsphase, von denen wiederum 227 randomisiert einer doppelblinden Behandlung mit Agomelatin (n=113) oder Plazebo (n=114) zugeteilt wurden. Bei Einschluss lag der mittlere HAMA-Score bei 28,0±3,7, der mittlere CGI-S-Score bei 4,8±0,7 (deutlich krank) und der mittlere Angst-Score der HAD bei 14,4±2,8 (Vorliegen einer Angsterkrankung). Die drei Subscores der SDS (Arbeit, Familie, soziales Leben) lagen bei 6,0 bis 6,3 (moderat bis deutlich beeinträchtigt).
Wirksamkeit in der offenen Phase
Der mittlere HAMA-Score fiel bis zur Woche 16 von 28,0±3,7 auf 9,7±5,9 (Completer-Analyse; LOCF-Analyse: 11,6±7,6), der CGI-S-Score von 4,8±0,7 auf 2,4±1,1 (LOCF: 2,7±1,7) und der Angst-Score der HAD von 14,4±2,8 auf 8,4±4,3 (Completer-Analyse). Die Scores der SDS fielen auf 3,6 bzw. 3,4.
Wirksamkeit in der Doppelblindphase
Der Anteil der Patienten mit einem Rückfall war in der Agomelatin-Gruppe (19,5%) niedriger als in der Plazebo-Gruppe (30,7%). Das Rückfallrisiko über sechs Monate war in der Agomelatin-Gruppe signifikant niedriger als unter Plazebo (stratifizierter Log-Rank-Test: p=0,046; Abb. 1). Auch in der Subgruppe der schwer erkrankten Patienten (HAMA-Score ≥25; CGI-S-Score ≥5) traten in der Agomelatin-Gruppe weniger Rückfälle auf (20,8%) als unter Plazebo (42,9%). Das Rückfallrisiko war 21,2% in der Agomelatin- und 44,0% in der Plazebo-Gruppe (p=0,006). Der mittlere HAMA-Score blieb in der Agomelatin-Gruppe stabil, während er in der Plazebo-Gruppe leicht anstieg (+3,6±8,4). Auch die HAD- und SDS-Scores blieben unter Agomelatin stabil.
Abb. 1. Zeit von der Randomisierung bis zu einem Rückfall bei Patienten mit einer generalisierten Angststörung unter einer doppelblinden Behandlung mit Agomelatin oder Plazebo über 6 Monate (primärer Endpunkt; Kaplan-Meier-Analyse) [nach Stein et al.]
Verträglichkeit
Unter der Agomelatin-Behandlung (offene plus verblindete Phase) meldeten insgesamt 272 von 476 Patienten (57,1%) wenigstens ein unerwünschtes Ereignis. Die häufigsten Ereignisse waren Kopfschmerz (11,3%), Nasopharyngitis (9,9%), Schwindel (8%), Übelkeit (6,5%), Mundtrockenheit (5,7%), Somnolenz (5%) und Müdigkeit (4,4%). Dreizehn Agomelatin-Patienten hatten klinisch signifikant abnormale Leberenzymwerte, die sich alle nach Ende der Studie wieder normalisierten. Nach der Rerandomisierung der Agomelatin-Patienten in Woche 42 traten unter Plazebo nicht mehr Absetzsymptome auf als bei den Patienten, die weiterhin Agomelatin erhielten. Aus den Ergebnissen schließen die Autoren, dass Agomelatin eine vielversprechende Option für eine Langzeitbehandlung der generalisierten Angst ist.
- Kommentar
Es ist bemerkenswert, dass insbesondere die schweren Fälle von der Agomelatin-Behandlung profitiert haben. Während die Rückfallrate unter Agomelatin in dieser Gruppe nicht von der des Gesamtkollektivs verschieden war, lag sie unter Plazebo deutlich höher.
Allerdings ist fraglich, inwieweit sich die Ergebnisse dieser Studie direkt auf den klinischen Alltag übertragen lassen, da hier eine sehr ausgesuchte Patientenpopulation mit geringer psychischer Komorbidität behandelt wurde. Die meisten Patienten mit einer generalisierten Angststörung leiden jedoch an weiteren psychischen Erkrankungen, wie anderen Angsterkrankungen oder affektiven Störungen, die in der vorliegenden Studie ausgeschlossen waren.
Glossar |
|
CGI-S |
Clinical Global Impression – Severity Scale |
DESS |
Discontinuation Emergent Signs and Symptoms |
DSM-IV-TR |
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV Text Revision |
HAD |
Hospital Anxiety and Depression-Scale |
HAMA |
Hamilton Anxiety Scale |
IVR |
Interactive Voice Response |
LOCF |
Last observation carried forward |
MADRS |
Montgomery-Åsberg Depression Rating Scale |
SDS |
Sheehan Disability-Scale |
Quelle
Stein DJ, et al. Agomelatine prevents relapse in generalized anxiety disorder: A 6-month randomized, double-blind, placebo-controlled discontinuation study. J Clin Psychiatry 2012; 73:1002–8.
Psychopharmakotherapie 2013; 20(03)