Demenz

Die meisten Patienten erhalten nach der Diagnose keine geeignete medikamentöse Behandlung


Priv.-Doz. Dr. Dieter Angersbach, Wolfratshausen

Auf der Basis von Abrechnungsdaten einer gesetzlichen Krankenversicherung der Jahre 2004 bis 2006 wurden Verschreibungen von Antidementiva durch deutsche Ärzte im Hinblick auf die Fachrichtung der verschreibenden Ärzte, Eignung der Medikamente, Dosierungen und Kontinuität der Verschreibungen ausgewertet. Erfasst wurden die Daten von Patienten mit der Diagnose einer Demenz nach ICD-10, wenn die Diagnose in drei aufeinanderfolgenden Quartalen bestand, jedoch davor noch nicht gestellt worden war. Die Mehrheit der Fälle mit einer neu diagnostizierten Demenz-Erkrankung, einschließlich einer Alzheimer-Krankheit, erhielten keine Behandlung gemäß den Leitlinien für eine Pharmakotherapie innerhalb des ersten Jahres nach Diagnosestellung. Eine unangemessene Behandlung stand im Zusammenhang mit der Behandlung durch einen Nichtspezialisten, dem Leben in einer Stadt und den Begleiterkrankungen.

In den nationalen Leitlinien wird die Gabe von Cholinesterasehemmern (ChEH; Donepezil, Rivastigmin und Galantamin) bei leichter bis mäßiger Alzheimer-Krankheit und von Memantin, einem NMDA-Rezeptorantagonisten, bei mäßigen bis schweren Formen empfohlen. In Deutschland können alle im ambulanten Bereich arbeitenden Ärzte Antidementiva verschreiben. Kliniken spielen bei der Verschreibung dieser Medikamente keine große Rolle. Am häufigsten verordnet werden Antidementiva von Allgemeinärzten/Internisten sowie von Nervenärzten/Psychiatern/Neurologen. Beide Gruppen haben ein Budget für die Verschreibung von Arzneimitteln. Die Überschreitung dieses Budgets kann Regressforderungen nach sich ziehen, jedoch wurde ein Regress, der sich auf die Verschreibung von Antidementiva bezieht, bisher noch nicht berichtet. Aktuell garantieren die gesetzlichen Krankenversicherungen die Kostenerstattung für Antidementiva über wenigstens zwei Jahre, wenn die Therapie als erfolgreich angesehen und der Erfolg ausreichend dokumentiert wird.

Die vorliegende Untersuchung ist eine einjährige Verlaufskontrollstudie, die im Anschluss an die Diagnosestellung begann [1]. Das Verschreibungsmuster von Antidementiva wurde auf der Basis von Abrechnungsdaten einer gesetzlichen Krankenversicherung ausgewertet. Die wesentlichen Fragen dieser Studie waren:

  • Wie hoch ist der Anteil der Patienten mit einem geeigneten Medikament in der richtigen Dosis während des ersten Jahres nach der Diagnose?
  • Wie hoch ist der Anteil der Patienten, die eine Behandlung unterbrechen oder abbrechen?
  • Wie hoch ist der Anteil derer, die bei dem ersten Medikament und der initialen Dosis bleiben und derer, die das Medikament wechseln?
  • Welche Faktoren beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, eine geeignete antidementive Behandlung zu erhalten?

Methoden

Die Studie basiert auf den Abrechnungsdaten der Gmünder ErsatzKasse (GEK) für Neuerkrankungen von Versicherten in den Jahren 2004 bis 2006. Die Kriterien für den Einschluss der Daten in die Auswertung waren:

1. Ein Alter von 65 Jahren und darüber

2. Ein ICD-10-Code für Demenz (F00, F01, F02, F02.3, F03, G30, G31, G31.1, G31.82, G31.9, R54) in wenigstens drei von vier aufeinanderfolgenden Quartalen

3. Eine ununterbrochene Folge von vier Quartalen ohne einen solchen ICD-10-Code vor dem ersten Quartal mit diesem Code

4. Während der zweijährigen Beobachtung ununterbrochen bei der GEK versichert

Die Kriterien (2) und (3) beinhalten, dass die Person wenigstens einen Arztbesuch pro Quartal hatte. Die so gefundene Stichprobe umfasste 1848 Fälle. Sie wurde mit einer übereinstimmenden Kontrollgruppe von 7392 Personen verglichen. Die Kontrollen hatten keine Diagnose einer Demenz. Die Kontrollgruppe stimmte aber mit der untersuchten Stichprobe in der Geschlechter- und Altersverteilung (weiblich jeweils 47,6%, mittleres Alter jeweils 78,7 Jahre), in der Anzahl der Besuche verschiedener Ärzte (2,3 vs. 2,4) und der Häufigkeit der Arztbesuche (8,1 vs. 8,4) im ersten Beobachtungsquartal überein [2].

Die Eignung der Dosis wurde anhand der international definierten täglichen Dosis beurteilt (Defined daily dose, DDD). Die in dieser Studie herangezogenen DDDs waren für Memantin 20 mg, für Donepezil 7,5 mg, für Rivastigmin 9 mg und für Galantamin 16 mg. Daneben wurden auch Verschreibungen pflanzlicher (Ginkgo) und anderer Nootropika (z.B. Dihydroergotoxin, Nicergolin oder Piracetam) ausgewertet.

In Übereinstimmung mit der deutschen S3-Leitlinie „Demenzen“ wurde eine Behandlung mit Memantin oder einem ChEH als geeignete Therapie beurteilt. Beide Behandlungen werden nicht nur für die Alzheimer-Krankheit, sondern auch (weniger gut belegt und nicht arzneimittelrechtlich zugelassen) für die vaskuläre Demenz und für gemischte Formen empfohlen. Eine geeignete Dosis wurde eingenommen, wenn die über ein Jahr gemittelte Tagesdosis bei wenigstens 75% der DDD lag. Die Kontinuität der Einnahme wurde durch den Anteil der Verschreibungen der geeigneten Substanz in der geeigneten Dosis in allen vier Quartalen berechnet.

Ergebnisse

Patienten. Das mittlere Alter der 1848 Patienten war 78,7 Jahre (Bereich: 65 bis 102 Jahre); von ihnen waren 47,6% Frauen. Die Hälfte der Stichprobe (50,2%) hatte den Code für eine nicht näher bezeichnete Demenz (F03). Den Code für eine Demenz bei Alzheimer-Krankheit (F00) hatten 7,7%, den für eine vaskuläre Demenz (F01) 13,9%, und 27,4% der Fälle erhielten mehrere Codes (von verschiedenen Ärzten oder aufgrund wechselnder Diagnosen).

Eignung der Verschreibungen. Insgesamt wurden 4227 Rezepte ausgewertet, davon 1683 mit ChEH, 1043 mit Memantin und 1501 mit pflanzlichen oder anderen Nootropika. Nur 27% der Neuerkrankten erhielten ein Antidementivum. Demnach wurden 73% überhaupt nicht medikamentös behandelt (Tab. 1). Der Anteil der Patienten mit einer geeigneten Dosis eines ChEH oder von Memantin an allen Neuerkrankten betrug nur knapp 8%.

Tab. 1. Verschreibungsmuster von Antidementiva im ersten Jahr nach Diagnosestellung

Behandlungskategorie

n

Anteil an allen Neuerkrankungen [%]

Anteil an allen medikamentös Behandelten [%]

Patienten mit Antidementivum in geeigneter Dosis

Geeignete Dosis eines ChEH

103

5,6

20,4

Geeignete Dosis Memantin

40

2,2

7,9

Geeignete Dosen der Kombination ChEH
und Memantin


1


0,1


0,2

Patienten mit Antidementivum in ungeeigneter Dosis

Ungeeignete Dosis eines ChEH

117

6,3

23,1

Ungeeignete Dosis Memantin

83

4,5

16,4

Ungeeignete Dosen der Kombination ChEH
und Memantin


17


0,9


3,4

Andere Antidementiva in verschiedenen Dosen

145

7,9

28,7

Alle Patienten mit Antidementiva

506

27,4

100,0

Alle Patienten ohne Antidementiva

1342

72,6

Patienten insgesamt

1848

100,0

ChEH: Cholinesterasehemmer

Regelmäßige Verschreibung geeigneter Dosen. Für 58,5% (n=41) der ChEH-Patienten und 50% (n=20) der Memantin-Patienten wurde das jeweilige Medikament regelmäßig verschrieben. Eine regelmäßige Verschreibung mit geeigneter Dosis erhielten nur 3 dieser 20 Memantin-Patienten (15%) und 18 dieser 41 ChEH-Patienten (44%). Somit erhielten von den 506 Patienten, die ein Medikament erhielten, nur 21 (4,2%) eine adäquate Behandlung mit einem ChEH oder Memantin.

Einflüsse auf das Verschreibungsmuster. Die Verschreibungsrate leitlinienkonformer Medikamente war bei Alzheimer-Patienten (35%; n=50) und Patienten mit gemischter Diagnose (40,5%; n=205) höher als bei vaskulärer und nicht näher bezeichneter Demenz (7%).

Der Anteil der Alzheimer-Patienten, die ein geeignetes Medikament erhielten, war höher, wenn die Diagnose von einem Facharzt gestellt wurde (53,9%), als wenn sie von einem Allgemeinarzt gestellt wurde (18,6%).

Weitere Faktoren, die das Verschreibungsmuster beeinflussten, waren unter anderen Lebensalter und Begleiterkrankungen. Zunehmendes Alter und Komorbidität verringerten die Wahrscheinlichkeit für eine geeignete Behandlung. Bemerkenswerterweise war die Aussicht auf eine adäquate Behandlung in ländlicher Umgebung größer als in städtischer.

Kommentar

Die Studie ist eine Bestandsaufnahme, die zeigt, dass im untersuchten Zeitraum nur wenige Demenzpatienten ein geeignetes Medikament verschrieben bekamen und dass die wenigen, die eines bekamen, die Behandlung abbrachen, die Dosis reduzierten oder zu einem anderen Medikament wechselten. Die jeweiligen Gründe dafür wurden in der Studie nicht untersucht.

Zu Faktoren, die beim Behandlungsabbruch oder einer Dosisänderung eine Rolle spielen können, gibt die Literatur einige Hinweise (z.B. Unverträglichkeit, behandlungsbedürftige Begleiterkrankungen, keine oder wenige Arztbesuche). Schwieriger ist es, Angaben über Gründe für das Nichtverschreiben empfohlener Medikamente, beispielsweise nach der Diagnose einer Alzheimer-Demenz oder vaskulären Demenz, zu finden. Vermutlich spielen dabei nicht nur Zweifel von Ärzten am Nutzen der Behandlung eine Rolle (geringe Effekte, keine Änderung des Verlaufs der Erkrankung), sondern auch Gründe aufseiten der Patienten. Da es sich um Abrechnungsdaten der GKV handelt, ist eine weitere Klärung nicht möglich.

Quellen

1. Van den Bussche H, et al. Antidementia drug prescription sources and patterns after the diagnosis of dementia in Germany: results of a claims data-based 1-year follow-up. Int Clin Psychopharmacol 2011;26:225–31.

2. Eisele M, et al. Utilization patterns of ambulatory medical care before and after the diagnosis of dementia in Germany – results of a case-control study. Dement Geriatr Cogn Disord 2010;29:475–83.

Psychopharmakotherapie 2012; 19(04)