Paradigmenwechsel in der Suchttherapie

Verringerung der „Heavy Drinking Days“ als Behandlungsziel


Dr. Alexander Kretzschmar, München

In der Behandlung der Alkoholabhängigkeit gilt nicht mehr nur die Abstinenz als Studienziel. Die europäische Zulassungsbehörde EMA akzeptiert als primäre Studienendpunkte jetzt auch eine Verringerung der „Heavy Drinking Days“ (HDD) und die Menge des pro Monat konsumierten Alkohols (Total alcohol consumption, TAC). Dieses Konzept wurde jetzt erstmals mit dem bei der EMA zur Zulassung eingereichten oralen Opioidrezeptor-Modulator Nalmefen geprüft. Auf dem Kongress der European Psychiatric Association wurden erste Ergebnisse des Phase-III-Studienprogramms vorgestellt.

Eine Reduktion des Alkoholkonsums wird auch von Suchttherapeuten inzwischen als Behandlungsziel anerkannt. Damit wird eine therapeutische Lücke geschlossen zwischen dem Anspruch auf vollständige Abstinenz und überhaupt keiner Therapie als Resultat der fehlenden Behandlungsbereitschaft der Betroffenen. So wird auch die Therapieschwelle gesenkt, um die Patienten „bei der Stange zu halten“. Letztendlich kann (und sollte) die Reduktion des Alkoholkonsums aber der erste Schritt zur vollständigen Abstinenz sein.

Diese Haltung setzt sich auch immer mehr in den internationalen Therapieleitlinien sowie bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA durch. In dem für die Europäische Kommission erarbeiteten Report „Alcohol in Europe: a public health perspective“ wird ausdrücklich festgestellt, dass auch eine Reduzierung des Alkoholkonsums im Hinblick auf chronische Begleit- und Folgeerkrankungen wie Leberzirrhose und depressive Verstimmungen zu einer raschen Verbesserung der Gesundheit führt [1]. Auch die Leitlinien des britischen National Institute of Clinical Excellence (NICE) sehen bei Alkoholmissbrauch oder leichterer Abhängigkeit ohne signifikante Komorbidität eine Reduktion des Alkoholkonsums als Behandlungsziel.

EMA akzeptiert neuen Studienendpunkt

Die EMA hat in ihren Empfehlungen zur Durchführung klinischer Studien neben der nach wie vor favorisierten Abstinenz eine klinisch signifikante Verringerung der Alkoholaufnahme als Studienziel akzeptiert [2]. Primäre Wirksamkeitsparameter sind dabei:

  • Die Zahl der Tage mit starkem Alkoholkonsum (HDD), definiert als Tage mit einer Aufnahme von ≥60 g reinem Alkohol bei Männern bzw. ≥40 g bei Frauen
  • Die Menge des pro Monat konsumierten Alkohols (Total alcohol consumption, TAC), angegeben in g/Tag

Die US-Zulassungsbehörde FDA akzeptiert die Verringerung der Trinkmenge nicht als Endpunkt. Sie steht mit ihrer ablehnenden Haltung weltweit allerdings ziemlich allein. Die fehlende Akzeptanz erklärt der niederländische Suchttherapeut Wim van der Brink vor allem mit weltanschaulichen Gründen und einer fundamentaleren religiösen Orientierung.

Der Paradigmenwechsel in der Suchttherapie wird jetzt erstmals mit dem oralen Opioidrezeptor-Modulator Nalmefen einer klinischen Prüfung unterzogen. Nalmefen bindet als Antagonist an die My- und Delta-Rezeptoren und wirkt agonistisch an den Kappa-Rezeptoren. Die Substanz wird rasch absorbiert (tmax: 0,5 bis 3 Stunden) und besitzt eine Halbwertzeit von rund 13 Stunden. Nalmefen erreicht eine hohe Rezeptorbesetzung (nach 3 Stunden: 94–100%; nach 26 Stunden: 83–100%). Bei der Metabolisierung sind nur geringe Interaktionen mit dem Cytochrom-P450-System zu erwarten.

Ergebnisse des Phase-III-Studienprogramms

Das Phase-III-Studienprogramm umfasst die drei randomisierten, Plazebo-kontrollierten Studien ESENSE 1, ESENSE 2 (mit identischem Design) und SENSE mit 1997 Patienten über 18 Jahren mit einer DSM-IV-Diagnose einer Alkoholabhängigkeit. Insgesamt 70 bis 80% der Teilnehmer in der ESENSE 1 und ESENSE 2 und 51 bis 55% in der SENSE-Studie wurden als Patienten mit einem hohen oder sehr hohen Risiko eines Alkoholkonsums eingestuft. Alle Patienten absolvierten zunächst eine ein- bis zweiwöchige Screeningphase, in der die Baseline-Daten (u.a. der Alkoholkonsum in den vorangegangenen vier Wochen) ermittelt wurden. Der Beobachtungszeitraum der anschließenden randomisierten doppelblinden Behandlung betrug in den Studien ESENSE 1 und ESENSE 2 sechs Monate, bei SENSE zwölf Monate.

Die Einnahme von Nalmefen 20 mg/Tag – nicht mehr als eine Tablette pro Tag – erfolgte nach Bedarf („as needed“), das heißt, wenn der Patient ein steigendes Verlangen nach Alkohol verspürte oder möglichst rasch nach Beginn des Konsums von Alkohol. Als ko-primäre Endpunkte wurden die Anzahl der HDD und der TAC ermittelt.

In allen drei Studien kam es zwischen Studienaufnahme (Baseline) und -ende zu einer ausgeprägten Reduktion des Alkoholkonsums, mit einer Abnahme der Zahl der HDD um etwa 9 bis 12 Tage und der TAC um circa 50 bis 60 g/Tag. Hierbei ließen sich zwei Patiententypen unterscheiden: Über ein Drittel der Studienteilnehmer reduzierte bereits in dem Zeitraum zwischen Baseline (Beginn der Sreeningperiode) und Randomisierung/Therapiebeginn eigenständig deutlich den Alkoholkonsum (mittlere HDD: von 12,9–15 auf 2,6–3,1 Tage; mittlere TAC: von 64–81 g/Tag auf 15–18 g/Tag). Dieses Phänomen ist aus einschlägigen Studien bekannt und wird als Zeichen eines studienbedingten, initialen Motivationsschubs zur Suchtüberwindung gewertet. Die Therapie mit Nalmefen führte bei dieser Kohorte zu keiner weiteren signifikanten Reduktion der HDD und TAC.

Die übrigen Patienten reduzierten ihren Alkoholkonsum in der Screeningphase nur unwesentlich (mittlere HDD: von 16,4–20,4 auf 16,0–20,0 Tage; mittlere TAC: von 82–96 g/Tag auf 77–86 g/Tag). In der Doppelblindphase kam es aber zu einer merklichen Verringerung des Alkoholkonsums, die in der Nalmefen-Gruppe statistisch signifikant stärker ausfiel als in der Plazebo-Gruppe, und zwar sowohl in Bezug auf die Reduktion der HDD (ESENSE 1, ESENSE 2 und SENSE) als auch der TAC (ESENSE 1 und SENSE) (p<0,05). Der statistisch signifikante Unterschied zeigte sich bereits nach dem ersten Behandlungsmonat. Nach sechs Monaten hatte beispielsweise in der ESENSE 1 die Zahl der HDD gegenüber Baseline in der Plazebo-Gruppe um etwa acht Tage und in der Nalmefen-Gruppe um etwa elf Tage abgenommen.

Verträglichkeit. Laut der gepoolten Daten der drei Phase-III-Studien betrug die Abbruchrate wegen intolerabler Nebenwirkungen (Inzidenz ≥0,5%) unter Plazebo 5,9% und unter Nalmefen 13%. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Übelkeit (Nalmefen: 22,1%, Plazebo: 5,9%), Schwindel (18,2% vs. 5,5%), Insomnien (13,4% vs. 5,4%) und Kopfschmerzen (12,3% vs. 8,3%). Die Nebenwirkungen traten kurz nach der ersten Dosis auf, waren vorübergehend und wurden überwiegend als leicht bis moderat eingestuft.

Fazit

Die Studienergebnisse zeigen, dass eine Behandlung mit Nalmefen Alkoholabhängige darin unterstützen kann, ihren Alkoholkonsum zu verringern. Inzwischen wurde die Zulassung bei der EMA beantragt. In den drei Studien kam es auch in den Plazebo-Gruppen zu einer deutlichen, anhaltenden Reduktion des Alkoholkonsums, was die Bedeutung einer engmaschigen Betreuung Alkoholabhängiger unterstreicht.

Quelle

Prof. Wim van den Brink, Amsterdam, Niederlande; Dr. Antoni Gual, Barcelona, Spanien; Prof. Dr. Karl Mann, Mannheim; Satellitensymposium „Reduction of alcohol consumption – a new treatment paradigm in alcohol dependence“, veranstaltet von Lundbeck GmbH im Rahmen der 20. Jahrestagung der European Psychiatric Association (EPA), Prag, 5. März 2012.

Literatur

1. Anderson P, Baumberg B. Alcohol in Europe. London: Institute of Alcohol Studies, 2006. Deutsche Zusammenfassung: http://ec.europa.eu/health-eu/doc/alcoholineu_sum_de_en.pdf (Zugriff am 03.05.2012)

2. EMA. Guideline on the development of medicinal products for the treatment of alcohol dependence. EMA/CHMP/EWP/20097/2008. www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Scientific_guideline/2010/03/WC500074898.pdf (Zugriff am 03.05.2012).]

Psychopharmakotherapie 2012; 19(03)