Prof. Dr. Christoph Hiemke, Mainz
Landauf, landab wird beklagt, dass die Entwicklung von Psychopharmaka in der pharmazeutischen Industrie stagniert. Innovationen waren in den letzten zehn Jahren eine Rarität und die vergleichenden metaanalytischen Nutzenbewertungen von neuen und alten Antidepressiva bzw. Antipsychotika kommen zu dem ernüchternden Schluss, dass der durch die Neuentwicklungen erzielte therapeutische Fortschritt bescheiden ist. Verbessert wurden in erster Linie die Verträglichkeit und Sicherheit von Psychopharmaka, zum Teil erkauft mit anderen unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Gleichzeitig ist der Aufwand für die Entwicklung und Zulassung von neuen Arzneimitteln enorm gestiegen. Viele Firmen haben deshalb die Entwicklung von neuen Psychopharmaka eingeschränkt oder sogar aufgegeben.
Die aktuelle Situation der schwächelnden Psychopharmaka-Entwicklung sollte nicht nur Anlass sein, das Ausbleiben von innovativen Psychopharmaka zu beklagen, sondern auch ein Denkanstoß sein, wie man die vorhandenen mehr als 150 Wirkstoffe besser nutzen kann. Viele Einzelpatienten haben erheblich von neu eingeführten Psychopharmaka profitiert, aber man weiß oft nicht warum. Ein Verfahren für die individualisierte Steuerung einer Pharmakotherapie ist das therapeutische Drug-Monitoring (TDM).
Viele Patienten bauen unter klinisch üblichen Dosen ungewöhnlich hohe oder niedrige Wirkspiegel im Körper auf, weil ihr Arzneimittelabbau genetisch bedingt oder durch Begleitmedikamente oder Lebensgewohnheiten verändert ist. Diese pharmakokinetische Variabilität ist ein häufiger Grund für unzureichendes Therapieansprechen oder schlechte Verträglichkeit der Medikamente.
Pharmakokinetisches Wissen ist in den vergangenen zehn Jahren enorm gewachsen. Es wurden zahlreiche, funktionell bedeutsame genetische Polymorphismen von Arzneimittel abbauenden Enzymen der Cytochrom-P450(CYP)-Familie entdeckt. Für fast alle Psychopharmaka sind Substrat-, Inhibitor- und Induktor-Eigenschaften von CYP-Isoenzymen bekannt. Dieses umfangreiche Wissen kann im Rahmen von TDM für die Steuerung der Psychopharmakotherapie genutzt werden. Es ist von der TDM-Gruppe der AGNP zusammengetragen worden, um neue Leitlinien für TDM in der Psychiatrie zu formulieren.
Dieses Schwerpunktheft enthält die deutsche Übersetzung der Konsensus-Leitlinien. Es ist ein umfangreiches Update der ersten Leitlinien der TDM-Gruppe des Jahres 2004, die unter Erstautorenschaft von Baumann verfasst wurden [Baumann P, Hiemke C, Ulrich S, et al. The AGNP-TDM expert group consensus guidelines: therapeutic drug monitoring in psychiatry. Pharmacopsychiatry 2004;37:243–65]. Das Update 2011 wurde Ende letzten Jahres in englischer Sprache veröffentlicht [Hiemke C, Baumann P, Bergemann N, et al. AGNP consensus guidelines for therapeutic drug monitoring in psychiatry: Update 2011. Pharmacopsychiatry 2011;44:195–235]. Die Autoren, 27 Experten für TDM aus Kliniken und Laboren Deutschlands, Italiens, Österreichs und der Schweiz, die seit vielen Jahren TDM entwickeln und nutzen, haben dies durch vorbildliche Kooperation geschafft. Die TDM-Leitlinien des Jahres 2004, die in der Literatur häufig zitiert wurden, sind von vielen psychopharmakologischen und klinisch-chemischen Laboren als Standard übernommen worden. Auch sie sind in einem Schwerpunktheft von Psychopharmakotherapie in gekürzter und leicht aktualisierter Form veröffentlicht worden [Hiemke C, Baumann P, Laux G, et al. Therapeutisches Drug-Monitoring in der Psychiatrie. Konsensus-Leitlinie der AGNP. Psychopharmakotherapie 2005;12:166–82].
Für die aktuellen Leitlinien hat die TDM-Gruppe bei ihrer systematischen Analyse der Literatur 749 Arbeiten berücksichtigt. Insgesamt wurden Informationen für 128 Neuropsychopharmaka zusammengetragen. Es wurden die therapeutischen Referenzbereiche (therapeutische Fenster), Dosis-bezogene Referenzbereiche und potenziell toxische Plasmakonzentrationen entsprechend dem aktuellen Stand des Wissens definiert. Da viele psychiatrische Patienten auch neurologische Arzneimittel erhalten, hat die TDM-Gruppe nicht nur Psychopharmaka, sondern auch neurologische Medikamente eingeschlossen und dabei kompetente epileptologische Unterstützung durch Dr. Bernhard Rambeck als Koautor erhalten. Er ist Leiter des Pharmakologischen Labors der Gesellschaft für Epilepsieforschung e.V. in Bielefeld, die seit Jahrzehnten TDM in der Epilepsie entwickelt und anwendet. Neu aufgenommene Informationen betreffen vor allem Hilfen für die Interpretation der Laborbefunde. Um den bestmöglichen Nutzen für TDM in der Psychiatrie möglichst breit zu erzielen, sind Übersetzungen notwendig, in diesem Schwerpunktheft die deutsche Version. Weitere Übersetzungen sind in Vorbereitung bzw. bereits erfolgt, auf Ungarisch (I. Bitter, Budapest), Französisch (E. Corruble, Paris), Italienisch (A. Conca, Bozen) und auf Portugiesisch (C. Lima, Guimarães, Portugal).
Der praktische Nutzen von TDM ist in diesem Schwerpunktheft an einem hoch aktuellen Fallbeispiel von Unterecker und Mitarbeitern dargestellt. Bei einer Intoxikation mit Citalopram fanden die Autoren, dass die gefürchteten QT-Zeit-Verlängerungen bei supratherapeutischen Konzentrationen von Citalopram auftraten, das heißt bei Plasmakonzentrationen, die nach Definition der TDM-Gruppe oberhalb der neu eingeführten Warnschwelle des Labors lagen. Wenn im Labor Werte oberhalb dieser Warnschwelle gemessen werden, dann soll der behandelnde Arzt telefonisch informiert werden, dass das Risiko einer Intoxikation besteht. Der Einzelfallbericht spricht dafür, dass man mit TDM das Risiko von Intoxikationen auch bei neuen Psychopharmaka senken kann.
Auch wenn die TDM-Gruppe mit ihrem Update der Konsensus-Leitlinien viele neue Informationen liefert, so regelt die Darstellung des bestmöglichen TDM noch nicht alles definitiv. Es bleiben Unklarheiten bei den therapeutischen Referenzbereichen und auch bei den Methoden zu deren Evaluierung. Bereits wenige Monate nach Erscheinen der englischen Version gibt es neue Erkenntnisse. Einige neue Erkenntnisse wurden in die deutsche Übersetzung bereits eingearbeitet. Ein konkreter Vorschlag, wie ein optimaler Befund eines TDM-Labors aussehen sollte, fehlt bisher. Es gibt erhebliche Unterschiede in der Befund-Darstellung von Labor zu Labor. Die TDM-Gruppe empfiehlt, dass jeder mitgeteilte Plasmaspiegel eines Psychopharmakons mit einem Kommentar zu versehen ist. Wie der optimale Befundkommentar erzeugt werden und aussehen kann, veranschaulicht der Beitrag von Haen (Regensburg). Es wird für die internetbasierte Software KONBEST dargestellt, wie man sich das umfangreiche psychopharmakologische Wissen für die Befundinterpretation beim TDM verfügbar macht, indem man Informationstechnologie einsetzt.
Somit sollen die drei Beiträge in diesem Schwerpunktheft zu und um das therapeutische Drug-Monitoring in der Psychiatrie zeigen, dass mit TDM und implementiertem umfangreichen psychopharmakologischen Wissen ein Instrumentarium verfügbar ist, mit dem man den Nutzen derzeit verfügbarer Neuropsychopharmaka bei vielen Einzelpatienten steigern und viele spezifische Probleme lösen kann.
Psychopharmakotherapie 2012; 19(03)