Katharina Wenzel-Seifert und Ekkehard Haen, Regensburg*
Am 31. Oktober 2011 informierte die Firma Lundbeck, die das Originalpräparat des Wirkstoffs Citalopram unter dem Handelsnamen Cipramil® vertreibt, in einem Rote-Hand-Brief die Ärzte und Apotheker („Fachkreise“) über den Zusammenhang von Cipramil® (Citalopramhydrobromid/Citalopramhydrochlorid) mit Verlängerungen des herzfrequenzkorrigierten QT-Intervalls (QTc) im EKG und formulierte in diesem Zusammenhang neue Empfehlungen zur Anwendung von Cipramil® [1]:
1. Citalopram wird mit dosisabhängiger QT-Intervall-Verlängerung in Zusammenhang gebracht.
2. Die „Maximaldosis“ (gemeint ist hier sicher die empfohlene Tagesdosis) beträgt nun 40 mg täglich. Bei älteren Patienten und Patienten mit eingeschränkter Leberfunktion wird die Maximaldosis auf 20 mg pro Tag gesenkt.
3. Citalopram ist bei Patienten mit bekannter QT-Intervall-Verlängerung oder angeborenem Long-QT-Syndrom kontraindiziert.
4. Die gleichzeitige Anwendung von Citalopram mit anderen Arzneimitteln, die bekannterweise das QTc-Intervall verlängern, ist kontraindiziert.
5. Bei Patienten mit erhöhtem Risiko für eine Torsade-de-Pointes-(TdP-)Tachykardie, beispielsweise bei denen mit Herzinsuffizienz, einem kürzlich aufgetretenen Myokardinfarkt, Bradyarrhythmien oder einer aufgrund von Begleiterkrankungen oder Begleitmedikation bestehenden Neigung zu Hypokaliämie oder Hypomagnesiämie, ist Vorsicht geboten.
Am 5. Dezember 2011 folgte ein im Wesentlichen inhaltsgleicher Rote-Hand-Brief zu Escitalopram (Cipralex®) [2], der sich in den folgenden Punkten unterschied:
1. Die „Maximaldosis“ (gemeint ist auch hier sicher die empfohlene Tagesdosis) von 20 mg wurde zwar beibehalten, bei älteren Patienten und Patienten mit eingeschränkter Leberfunktion jedoch auf 10 mg pro Tag gesenkt.
2. Ärzte und Apotheker wurden außerdem aufgefordert, Patienten anzuweisen, sofort einen Arzt aufzusuchen, wenn sie während der Einnahme von Escitalopram eine anormale Herzfrequenz oder einen anormalen Herzrhythmus feststellen.
Diese Neubewertung von Citalopram führte bei Ärzten und Patienten zu starker Verunsicherung und vielen Fragen, die jetzt in gleicher Weise für Escitalopram aufkommen werden. Wir möchten daher über die bislang vorliegenden Berichte und Befunde zum Risiko von Citalopram und Escitalopram für Verlängerungen des QTc-Intervalls und, wichtiger noch, TdP-Episoden informieren und Empfehlungen zum Umgang mit diesen weitverbreiteten Antidepressiva geben.
Rote-Hand-Briefe
Rote-Hand-Briefe sind Schreiben von Arzneimittelherstellern zur Information der „Fachkreise“ (nach Arzneimittelgesetz [AMG] sind dies Ärzte und Apotheker) über Arzneimittelrisiken. Die Verbände der Arzneimittelhersteller haben sich darauf geeinigt, ihrer Verpflichtung, wichtige Informationen zur Arzneimittelsicherheit zu verbreiten, auf diese Weise nachzukommen. Sie werden in Absprache mit den Arzneimittelzulassungsbehörden (es gibt zwei Zulassungsbehörden in Deutschland: für Arzneimittel und Medizinprodukte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte [BfArM], für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel das Paul-Ehrlich-Institut [PEI]) abgefasst. Der Kodex der Mitgliedsfirmen des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) sagt dazu (§27):
„Die Mitgliedsfirmen sind verpflichtet, für Mitteilungen von neu erkannten schwerwiegenden Nebenwirkungen, Zurückziehungen fehlerhafter Chargen oder andere Informationen, die den Arzt und/oder Apotheker erreichen sollen, um eine Gefährdung des Patienten nach Möglichkeit auszuschließen, sowohl auf den Briefumschlägen als auch auf den Briefen das Symbol einer roten Hand mit der Aufschrift „Wichtige Informationen über ein Arzneimittel“ zu benutzen“ [3].
Rote-Hand-Briefe haben zunächst keinen administrativen Charakter. Sie dienen lediglich der Minimierung haftungsrechtlicher Folgen für den Hersteller. In den vorliegenden Fällen wird allerdings in den Schreiben bereits darauf hingewiesen, dass die Beipackzettel und die Informationen für Fachkreise entsprechend überarbeitet werden. Im Falle von Citalopram wurde am 9. Januar 2012 von BfArM ein im AMG vorgeschriebenes „Stufenplanverfahren“ eingeleitet. Nach einem nun erforderlichen Informationsaustausch mit den Herstellern wird es höchstwahrscheinlich zu den bereits im Rote-Hand-Brief empfohlenen Änderungen in der Fachinformation und im Beipackzettel kommen. Diese Neufassungen geben dann eine Änderung des Zulassungsstatus wieder, über die sich Ärzte im Rahmen ihrer Therapiefreiheit zwar hinwegsetzen dürfen, sie behandeln dann aber „off-label“. Das heißt, die Ärzte müssen im Zweifelsfall nachweisen, dass ihre therapeutische Maßnahme medizinisch sinnvoll war und, ganz wichtig, dass sie die betroffenen Patienten sowohl über die bestehenden Risiken als auch den zu erwartenden Nutzen und mögliche Alternativen aufgeklärt haben.
Risiko für QTc-Verlängerung und Torsades de Pointes
Viele Pharmaka können zu einer Verlängerung der ventrikulären Repolarisationszeit – im EKG als eine Verlängerung des QTc-Intervalls erkennbar – und infolge zum Auftreten ventrikulärer Tachyarrhythmien, so genannter „Torsades de Pointes“ (TdP), führen. Charakteristische klinische Symptome der meist selbstlimitierenden TdPs sind Krampfanfälle, Schwindel und Synkopen. Sie können aber auch in Kammerflimmern übergehen und zum plötzlichen Herztod führen. Dosisabhängige Verlängerungen der QTc-Zeit sind insbesondere für Neuroleptika und trizyklische Antidepressiva bekannt, während SSRI bislang als unbedenklich galten [4–7]. Der Verlängerung der Repolarisationszeit von Kardiomyozyten liegt eine Bindung von Arzneistoffmolekülen an langsame Kaliumkanäle (IKr) und damit eine Hemmung des Kaliumausstroms aus den Herzmuskelzellen zugrunde [8, 9]. Die Bindung an die Kanäle ist unspezifisch und betrifft Arzneistoffe unterschiedlichster chemischer Struktur. Sie lässt sich daher nicht einem, für einen bestimmten Wirkstoff spezifischen Wirkungsmechanismus zuordnen.
Nach dem Glossar der AGATE [23] ist eine QTc-Verlängerung auf >470 ms bei Frauen, >450 ms bei Männern oder eine Zunahme um (geschlechtsunabhängig) >60 ms nach Behandlungsbeginn als schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) zu betrachten. Frauen haben nach gängiger Meinung ein höheres TdP-Risiko, weil sie durchschnittlich längere QTc-Intervalle aufweisen. Obwohl dies in der Literatur so gemacht wird, erscheint es daher aber nicht sinnvoll, den Grenzwert für Frauen höher als den für Männer anzusetzen. Es gibt Autoren, die keine geschlechtsspezifischen Grenzwerte angeben. Haverkamp & Deuschle sprechen zum Beispiel von einem geschlechtsbereinigten pathologischen Wert von >440 ms, weisen aber darauf hin, dass diesem Grenzwert keine gesicherten Daten zugrunde liegen [5]. Als „gefährlich“ (im Sinne von „drastisch“ erhöhtem Risiko für TdP) sehen diese Autoren für beide Geschlechter QTc-Intervalle >500 ms an [5].
Citalopram
Am 24. August 2011 warnte die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde, die Food and Drug Administration (FDA), dass Citalopram in hoher Dosierung zur Verlängerung des QTc-Intervalls führen kann, und begrenzte die Maximaldosis von Citalopram auf 40 mg pro Tag [10]. Oberhalb dieser Dosierung seien nach klinischen Studien bei der Therapie von Depressionen keine stärkeren erwünschten Wirkungen mehr zu erwarten. Basis dieser Neubewertung von Citalopram waren diverse Berichte über TdP-Fälle unter Therapie mit Citalopram und eine von der Firma Forest Laboratories, die in den USA Citalopram vertreibt, in Auftrag gegebene randomisierte, doppeltverblindete Cross-over-Studie mit 164 erwachsenen Probanden. Dabei fand sich im Vergleich zu Plazebo unter 20 mg Citalopram eine QTc-Verlängerung von 8,5 ms und unter 60 mg von 18,5 ms [10].
Escitalopram
Auch der Rote-Hand-Brief zu Escitaloporam beruht auf einer bislang noch nicht publizierten klinischen Studie an gesunden Probanden, bei denen im Vergleich zu Plazebo unter einer Tagesdosis von 10 mg durchschnittliche Abweichungen der QTc von +4,3 ms und unter einer Tagesdosis von 30 mg von +10,7 ms beobachtet worden waren. Außerdem wird auf dem Hersteller bekannte Fälle von QTc-Verlängerungen und ventrikulären Arrhythmien, darunter auch TdP-Episoden, hingewiesen. Beide UAW traten vorwiegend bei Patienten auf, die die bekannten Risikofaktoren zeigten.
Ein Klasseneffekt für SSRI?
Vor dem Bekanntwerden der Auftragsstudie der Firma Forest Laboratories waren Veränderungen der QTc-Zeit unter Therapie mit SSRI sowie Venlafaxin nur in Fällen von Intoxikation bekannt geworden [11]. Die bei der US-amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde (FDA) eingereichten klinischen Studien der Phase III für Citalopram und Escitalopram fanden im Vergleich zu Plazebo lediglich sehr moderate Verlängerungen des QTc-Intervalls von 3–4 ms. Ein Review der Datenbank des Adverse Event Reporting Systems (AERS) der US Food and Drug Agency (FDA) hatte allerdings bereits 2006 für Citalopram und Escitalopram im Vergleich zu den anderen SSRI ein über 50% höheres Risiko für QTc-Intervall-Verlängerungen (Odds-Ratio Citalopram 1,58; Escitalopram 1,56) ergeben [12]. In großen klinischen Studien nach der Zulassung von Citalopram und Escitalopram ließen sich dagegen unter therapeutischer Dosierung (im Fall von Citalopram bis 60 mg pro Tag) auch bei älteren Patienten keine Verlängerungen des QTc-Intervalls nachweisen [13].
Bei einer am 13. November 2011 online publizierten Auswertung der AERS-Datenbank der FDA wurden insgesamt 22 Fälle von QTc-Intervall-Verlängerung unter Escitalopram gefunden. Davon traten 88% innerhalb des ersten Monats nach Beginn der Medikation auf [14]. Des Weiteren wurde kürzlich ein Fall einer Patientin mittleren Lebensalters berichtet, bei der nach Behandlung mit 5 mg Escitalopram bereits nach zwei Tagen ein pathologisches QTc-Intervall aufgetreten war [15].
Während für Escitalopram bislang noch keine TdP-Fälle publiziert wurden, der Herstellerfirma aber Meldungen vorliegen, gibt es für Citalopram, aber auch für Fluoxetin und Paroxetin eine größere Zahl von Fällen, die in Auswertungen der Datenbanken von Spontanerfassungssystemen für unerwünschte Nebenwirkungen oder als Einzelfallberichte publiziert wurden:
Dem schwedischen Spontanerfassungssystem für unerwünschte Nebenwirkungen SWEDIS (Swedish Drug Information System) wurden zwischen 1991 und 2006 insgesamt 88 TdP-Fälle gemeldet. Überraschenderweise war Citalopram mit neun Fällen (10% der dokumentierten Kasuistiken), nach Sotalol (58 Fälle) und Digoxin (10 Fälle), der dritthäufigste Arzneistoff mit torsadogenem Risiko. Bei keinem dieser Fälle lag eine Überdosierung vor; bei fünf Citalopram-assozierten TdP-Fällen war Citalopram das einzige Medikament, das als Auslöser der TdP infrage kam [16].
Dem Adverse Event Reporting System (AERS) der FDA wurden zwischen 2004 und 2006 insgesamt 1665 TdP-Fälle gemeldet [17]. Darunter entfielen jeweils 12 Fälle auf Citalopram bzw. Fluoxetin, 11 auf Paroxetin und 10 auf Mirtazapin. Im Vergleich dazu wurden für Amiodaron, den Wirkstoff mit dem höchsten torsadogenen Risiko, 113 Fälle, für Ziprasidon, das Antipsychotikum mit dem höchsten TdP-Risiko, 28 Fälle und für Haloperidol, vor dessen intravenöser Anwendung erst kürzlich gewarnt wurde [18, 19], 19 Fälle berichtet [17]. Leider berücksichtigten die Autoren in dieser Analyse nicht die jeweiligen Komedikationen.
Darüber hinaus wurden für Citalopram, Fluoxetin und Paroxetin weitere Einzelfallberichte publiziert [11]. Als Beispiel sei der Fall einer 40-jährigen Patientin angeführt, die nach einer Durchfallerkrankung mit Elektrolytverlusten (K+2,1 mmol/l, Mg2+ 1,6 mmol/l) unter Monotherapie mit 20 mg Citalopram eine TdP-Episode erlitt [20].
Risikofaktoren
In 85% der medikamenteninduzierten TdP-Fälle, die SWEDIS gemeldet worden waren, kamen zwei oder mehr Risikofaktoren hinzu: Herzerkrankung (77%), Alter >65 Jahre (54%), weibliches Geschlecht (69%) und Hypokaliämie (30%) [16]. Dies zeigte sich auch in den im Detail dokumentierten Einzelfallberichten [11].
Das Risiko eines Patienten für eine QTc-Verlängerung oder eine TdP hängt somit in fast allen bislang berichteten Fällen nicht nur vom eingenommenen Arzneistoff, der Dosis und der Applikationsform ab, sondern wird ganz wesentlich durch äußere und individuelle Einflüsse mitbestimmt. Ein erhöhtes Risiko liegt beim Vorliegen folgender Faktoren vor [5]:
1. Alter: Zunahme der QTc mit dem Alter
2. Weibliches Geschlecht: Längere QTc-Intervalle und zweifach höheres Risiko für medikamenteninduzierte TdP im Vergleich zu Männern
3. Elektrolytstörungen
a. Hypokaliämie
b. Hypomagnesiämie
4. Hohe Plasmakonzentrationen (nicht zwingend identisch mit hoher Dosis!) bei
a. Überdosierung/Intoxikation
b. gleichzeitiger Hemmung des Metabolismus durch die Begleitmedikation und/oder der Ausscheidung aufgrund von Nieren- oder Leberinsuffizienz
c. schneller Injektion
5. Myokardiale Hypertrophie (z.B. bei arterieller Hypertonie)
6. Kongenitales QT-Syndrom
7. Bradykardien führen per se zu Verlängerungen des QTc-Intervalls
a. Sinusbradykardie
b. AV-Blockierungen 2. und 3. Grades
Schlussfolgerungen
Wenn auch die Anzahl publizierter Fallberichte kein ausreichendes Maß für die Höhe des torsadogenen Risikos darstellt, lässt sich zumindest feststellen, dass es beim Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren oder bei Überdosierung auch unter Therapie mit SSRI, vor allem mit Citalopram, Fluoxetin und Paroxetin, zu TdP-Episoden kommen kann. Für Escitalopram, Sertralin und Duloxetin wurden bislang noch keine TdP-Fälle publiziert [7].
Es bleibt unklar, ob es sich bei QTc-Verlängerungen und TdP um einen Gruppeneffekt aller SSRI handelt, wie er auch für die Antipsychotika angenommen wird. Angesichts der Vielzahl von Psychopharmaka, die mittlerweile mit einer Verlängerung des QTc-Intervalls diskutiert werden [7], lässt sich aber auch kein Wirkstoff benennen, der dieses Risiko mit Sicherheit nicht in sich trägt. Man muss jedoch berücksichtigen, dass Psychopharmaka-assoziierte Verlängerungen des QTc-Intervalls und TdP-Episoden erst in den letzten zehn Jahren in den Fokus der Pharmakovigilanz gerieten, so dass von einem Reporting-Bias für die neueren SSRI, Citalopram und Escitalopram, die zudem in den letzten Jahren weltweit deutlich häufiger als die älteren SSRI verordnet wurden, auszugehen ist. Es ist nicht auszuschließen, dass die Wirkstoffe, die in entsprechenden Zusammenstellungen als risikoärmer erscheinen, dies lediglich tun, weil entsprechende Ereignisse bislang nicht publiziert oder entsprechende Studien zur Abklärung des Risikos nicht durchgeführt wurden. Es handelt sich überwiegend um Wirkstoffe, die deutlich seltener als Citalopram und Escitalopram verordnet wurden [21]. Torsade-de-Pointes-Tachyarrhythmien treten zudem so selten auf, dass es unmöglich ist, zuverlässige Inzidenzraten zu berechnen.
Empfehlungen für die Praxis
Citalopram und Escitalopram sind zwei in der Therapie affektiver Erkrankungen weit verbreitete Antidepressiva. Sie werden bei schwer kranken psychiatrischen Patienten sehr häufig mit Antipsychotika und anderen Antidepressiva kombiniert. Leider lässt es sich in der Praxis in begründeten Fällen kaum vermeiden, auch Psychopharmaka einzusetzen, die ebenfalls die myokardiale Repolarisation beeinflussen können. Diese Verordnungen sind ab sofort wie „off-label“-Verschreibungen zu sehen, was aber einen medizinisch begründeten Einsatz nicht ausschließt. Wichtig ist, dass die jeweilige medizinische Begründung (der Nutzen) in den Krankenakten dokumentiert wird und die Patienten über das bestehende Risiko und mögliche Alternativen aufgeklärt werden. Das individuelle Risiko des Patienten muss sorgfältig abgewogen und zusätzliche Risikofaktoren verringert werden. Umsetzen auf einen anderen Wirkstoff, der (noch?) nicht in die Diskussion geraten ist, löst das Problem für den individuellen Patienten nicht. Folgende Maßnahmen sind empfehlenswert [4, 5, 7, 22]:
1. Langsame Aufdosierung mit Dosisanpassung bei Ausscheidungsstörungen und unter Begleitmedikation mit konkurrierendem Abbauweg.
2. Serumkalium- und Magnesiumkonzentrationen kontrollieren und gegebenenfalls anheben. Ernährungsbedingt tendieren Mitteleuropäer zu eher niedrigen Kaliumkonzentrationen. Die Serumkaliumkonzentration sollte im oberen therapeutischen Referenzbereich liegen!
3. Aufzeichnung jeweils eines EKGs vor Therapiebeginn, nach Erreichen des pharmakokinetischen Gleichgewichtes (d.h. nach 5 Halbwertszeiten des Wirkstoffes, was in den meisten Fällen 3 bis 5 Tage nach Therapiebeginn sein wird) und nach Änderungen der Dosis bzw. der Komedikation. Ein QTc-Intervall von >440 ms oder eine Zunahme um >60 ms nach Behandlungsbeginn ist als schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) zu betrachten. In diesen Fällen ist die Indikation für Citalopram bzw. Escitalopram besonders sorgfältig und kritisch zu überprüfen.
4. Bei Risikopatienten, das sind Patienten mit erhöhtem Risiko für eine Torsade-de-Pointes-(TdP-)Tachykardie (z.B. Patienten mit Herzinsuffizienz, einem kürzlich aufgetretenen Myokardinfarkt, Bradyarrhythmien), gegebenenfalls weitere EKG-Kontrollen nach klinischem Bedarf. Bei diesen Patienten sollte ein QTc-Intervall von >440 ms bzw. eine Verlängerung um >60 ms zum Absetzen von Citalopram bzw. Escitalopram führen.
5. Bei QTc-Intervallen über 480 bis 500 ms nimmt das Risiko für das Auftreten von TdP auch bei normalen Serumkalium- bzw. Magnesiumkonzentrationen und normaler QRS-Dauer drastisch zu [5]. Daher sollten Citalopram und Escitalopram dann auch beim Fehlen klinischer Symptome abgesetzt werden.
6. Bestimmungen der Wirkstoffkonzentrationen von Citalopram und Escitalopram und Einstellen der Dosierung so, dass der therapeutische Referenzbereich nicht überschritten wird.
7. Bestimmungen der Wirkstoffkonzentration risikoreicher Arzneimittel der Komedikation nach Aufdosierung und nach Änderungen der Dosis bzw. der Komedikation.
8. Bei verlängertem QTc-Intervall sollte Magnesiumsulfat oral oder intravenös zugeführt werden.
9. Bei neu auftretenden Palpitationen, Schwindel, Synkopen und Krampfanfällen an Rhythmusstörungen als Ursache denken!
10. Bei Erkrankungen bzw. Behandlungen, die mit potenziellen Elektrolytverlusten einhergehen können (Diarrhö, Erbrechen, Diuretika, starkes Schwitzen, Mangelernährung bei Alkoholabusus, Essstörungen), Kalium- und Magnesiumkonzentration im Serum kontrollieren und gegebenenfalls anheben (vgl. Punkt 1).
Vor allem in den Fällen, in denen die empfohlenen Dosierungen überschritten werden, sollte die Dokumentation besonders sorgfältig erfolgen:
1. Nachdem in den offiziellen Dokumenten zwar immer von einer Dosisabhängigkeit der QTc-Verlängerung die Rede ist, dies aber eine Konzentrationsabhängigkeit ist, empfehlen wir eine Wirkstoffkonzentrationsbestimmung, die belegt, dass in diesen Einzelfällen der dosisbezogene Referenzbereich unterschritten wird [24, 25] und der therapeutische Referenzbereich nur mit der höheren Dosis zu erreichen ist [26].
2. Es muss dokumentiert werden, dass die erwünschte Wirkung erst unter der höheren Dosierung eintritt. Im Umkehrschluss muss erwartet werden, dass der Nichteintritt der erwünschten Wirkung Anlass zum Absetzen des Medikaments ist.
Bei bislang erfolgreich mit Citalopram oder Escitalopram behandelten Patienten sollte aus unserer Sicht die Medikation nur dann überdacht und gegebenenfalls geändert werden, wenn im EKG eine deutliche Verlängerung des QTc-Intervalls (siehe Punkt 3) zu verzeichnen ist. Ansonsten sollten die oben ausgeführten Empfehlungen beachtet werden.
Nochmals möchten wir darauf hinweisen, dass die Höhe des Risikos unerwünschter Arzneimittelwirkungen nicht von der Höhe der verordneten Dosis des Arzneistoffs, sondern von der Wirkstoffkonzentration im Blut abhängt. Zu einer in Relation zur verordneten Dosis höher als erwartet ausfallenden Wirkstoffkonzentration kann es bei einer Verminderung der Eliminationsgeschwindigkeit unter Cytochrom-P450-hemmender Komedikation, Leberschäden, bei Vorliegen bestimmter Genotypen von CYP450-Enzymen („langsame Metabolisierer“) oder höherem Lebensalter kommen [25, 26]. Wir empfehlen daher insbesondere bei Risikopatienten die Wirkstoffkonzentrationen im pharmakokinetischen Gleichgewicht, das nach ungefähr fünf Halbwertszeiten des Arzneistoffes (in den meisten Fällen nach fünf Tagen) erreicht wird, zu bestimmen.
Literatur
1. Lundbeck GmbH. Rote Hand Brief vom 31.10.2011 zu Cipramil® (Citalopram): Zusammenhang von Cipramil® (Citalopramhydrobromid/Citalopramhydrochlorid) mit dosisabhängiger QT-Intervall-Verlängerung. www.bfarm.de/DE/Pharmakovigilanz/stufenplanverf/Liste/stp-citalopram.html.
2. Lundbeck GmbH. Rote Hand Brief vom 05.12.2011 zu Escitalopram (Cipralex®): Zusammenhang von Escitalopram (Cipralex®) mit dosisabhängiger QT-Intervall-Verlängerung. www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/20111205.pdf.
3. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie Service GmbH. KODEX der Mitglieder des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie. www.bpi.de.
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*Ein Beitrag des Arzneimittelinformationsdiensts der AGATE (Arbeitsgemeinschaft Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen) unter Berücksichtigung von Diskussionsbeiträgen von Prof. Dr. med. Dr. phil. Günter Niklewski (Nürnberg), Dr. med. Claus-Peter Ostermeier (Werneck), Dr. Dieter Schön (Regensburg), Dr. med. Monika Singer (Agatharied) und Dr. med. Rainhold Waimer (Nürnberg)
Dr. med. Katharina Wenzel-Seifert, Prof. Dr.med. Dr. rer. nat. Ekkehard Haen, Klinische Pharmakologie, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg, Universitätsstraße 84, 93053 Regensburg, E-Mail: ekkehard.haen@klinik.uni-regensburg
Psychopharmakotherapie 2012; 19(01)