Bettina Christine Martini, Legau
In den vergangenen zehn Jahren nahmen die Verordnungen von Methylphenidat, Amfetamin und Atomoxetin stark zu, insbesondere bei Erwachsenen. Ein Grund dafür ist, dass auch bei Erwachsenen immer häufiger die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gestellt wird. Daneben dürften (Off-Label-)Verordnungen von ADHS-Medikamenten bei anderen Erkrankungen, etwa bei Fettsucht oder Fatigue, eine Rolle spielen.
Aus Plazebo-kontrollierten Studien ist bekannt, dass sowohl Stimulanzien als auch Atomoxetin den systolischen und den diastolischen Blutdruck sowie die Herzfrequenz erhöhen. Im Spontanmeldesystem der amerikanischen Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA) sind kardiale Ereignisse unter den am häufigsten gemeldeten unerwünschten Arzneimittelwirkungen einer ADHS-Medikation.
Studiendesign
In einer retrospektiven Kohortenstudie wurden nun die Daten von 150359 Erwachsenen (25 bis 64 Jahre), denen Methylphenidat, Amfetamin, Atomoxetin oder andere ADHS-Medikamente verordnet wurden, mit den Daten der doppelten Anzahl von Kontrollen verglichen. Erfasst wurden die schweren kardiovaskulären Ereignisse Herzinfarkt, plötzlicher Herztod und Schlaganfall.
Bei der Auswertung wurde unterschieden zwischen Patienten, denen ADHS-Medikamente fortlaufend, neu oder zu einem früheren Zeitpunkt verordnet wurden.
Ergebnisse
Die ADHS-Medikation war weder bei Patienten mit fortlaufender Verordnung noch bei Patienten mit neuer Verordung mit einem gegenüber Nicht-Anwendern erhöhten Risiko schwerer kardiovaskulärer Ereignisse assoziiert.
Das adjustierte Rate-Ratio für schwere kardiovaskuläre Ereignisse betrug für Personen mit Verordnung einer ADHS-Medikation gegenüber Personen ohne Verordnung einer ADHS-Medikation 0,83 (95%-Konfidenzintervall [KI] 0,72–0,96), wobei das Ergebnis unabhängig von der Art der Medikation (Abb. 1) und der Art des kardiovaskulären Ereignisses war. Für Personen, denen eine ADHS-Medikation neu verordnet wurde, wurde gegenüber Nicht-Anwendern ein Rate-Ratio von 0,77 (95%-KI: 0,63–0,94) berechnet. Für fortlaufende Anwender gegenüber ehemaligen Anwendern ergab sich ein Rate-Ratio von 1,03 (95%-KI 0,86–1,24).
Abb. 1. Rate-Ratios für schwere kardiovaskuläre Ereignisse (Herzinfarkt, plötzlicher Herztod, Schlaganfall) bei Erwachsenen mit und ohne ADHS-Medikation [Habel et al].
KI: Konfidenzintervall
Entgegen den Erwartungen zeigten sich sogar leicht protektive Effekte der Medikation. Sie sind aber möglicherweise einem Bias geschuldet: ADHS-Medikamente wurden tendenziell häufiger weißen Amerikanern und Personen mit höherer Bildung verordnet als beispielsweise Personen afroamerikanischer Abstammung und Personen mit geringerer Schulbildung. Das kardiovaskuläre Risiko der Anwender könnte sich daher aus anderen Gründen von dem der Nicht-Anwender unterscheiden. Eine protektive Wirkung durch ADHS-Medikamente wird jedenfalls nicht als plausibel bewertet.
Diskussion
Die Studienautoren betonen in ihrem Fazit, dass ein leicht erhöhtes kardiovaskuläres Risiko durch ADHS-Medikamente trotz der Ergebnisse nicht sicher ausgeschlossen werden kann.
Die Aussagekraft der Studie ist unter anderem dadurch eingeschränkt, dass die ADHS-Medikation anhand von Verordnungen ermittelt wurde: Niemand weiß, wie gut die Compliance der Patienten ist.
Eine Häufung kardiovaskulärer Ereignisse unter ADHS-Medikamenten in Spontanmeldesystemen könnte darauf zurückzuführen sein, dass die bekannte Blutdruckerhöhung einen Meldebias bewirkt. Zu beachten ist, dass in der Studie nur Daten von Patienten bis zu einem Alter von 64 Jahren erfasst wurden; für ältere Patienten liegen bisher keine Daten zur kardiovaskulären Sicherheit der ADHS-Medikamente vor.
Quelle
Habel LA, et al. ADHD medications and risk of serious cardiovascular events in young and middle-aged adults. JAMA 2011;306(24):doi10.1001/jama2011.1830.
Psychopharmakotherapie 2012; 19(01)