Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2011*


Jürgen Fritze, Pulheim

Der Arzneiverordnungsreport ist erneut eine Fundgrube für die Pharmakoepidemiologie, die hier für neurologische und psychiatrische Indikationen wieder zusammengefasst werden soll, weil sie dem einzelnen Arzt erlaubt, die Rationalität seines Verordnungsverhaltens gegenüber der Gesamtheit zu „benchmarken“. Das ist ein – bescheidener – Beitrag zur ansonsten bisher weitgehend fehlenden systematischen Qualitätssicherung in diesen Fachgebieten. Um das Benchmarking zu erleichtern, werden auch wieder Daten der GKV-Arzneimittelschnellinformation (GAmSi) beigezogen, die einen regionalen Bezug zumindest auf Ebene der Bundesländer erlauben.
Schlüsselwörter: Psychopharmaka, Pharmakoepidemiologie
Psychopharmakotherapie 2011;18:245–56.

Nicht überraschend bleibt auch der jüngste Arzneiverordnungsreport bei seiner Kritik an der klinischen Relevanz der Wirksamkeit von Psychopharmaka, hier insbesondere der modernen Antidepressiva, und der Kritik am Zusatznutzen der modernen Neuroleptika. Die Rechtfertigung der – ausgeprägten – weiteren Zunahme der Verordnung von Antidepressiva und der – geringen – Zunahme der Verordnung von Neuroleptika, hier aber mit einem erheblichen Shift zugunsten der modernen, wird weiterhin in Frage gestellt, ohne dass neue Argumente geliefert werden, weshalb im Wesentlichen auf frühere Kommentare verwiesen werden kann [11–13].

Zu Recht fragt der Report: „Wer bekommt diese Medikamente von wem verordnet und mit welcher Indikation?“ Zur Indikation können weder die Daten des Reports noch GAmSi Erhellung bieten; dies kann nur durch die – grundsätzlich mögliche – Zusammenführung der Verordnungsdaten mit den Abrechnungsdaten bei den einzelnen Krankenkassen gelingen, was derzeit beispielhaft in einem von der Bundesärztekammer geförderten Projekt der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) gemeinsam mit der DAK, KKH-Allianz, hkk, dem Verband der Ersatzkassen (VdEK) und der Deutschen Rentenversicherung Bund betrieben wird [14].

Entwicklung des Arzneimittelmarktes

Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) für Arzneimittel sind 2010 gegenüber 2009 um 1% auf 32 Mrd. Euro gestiegen, die Ausgaben für die im Report detailliert untersuchten Fertigarzneimittel um 4,3% auf 29,7 Mrd. Euro. Die Psychopharmaka, also gemäß ATC Psychoanaleptika (Antidepressiva, Psychostimulanzien, Antidementiva) und Psycholeptika (Antipsychotika, Lithium, Anxiolytika, Hypnotika), liegen mit einem Anteil an den verordneten Tagesdosen (DDD) von 5,5% nach den Herz-Kreislauf-Mitteln (41%; Angiotensinhemmstoffe, Antihypertonika, Beta-Rezeptorenblocker, Calciumantagonisten, Diuretika, Herztherapeutika) und Ulkustherapeutika (6,7%) an Rang 3 der am häufigsten verordneten Arzneimittelgruppen und mit einem Umsatzanteil von 8,7% nach den Herz-Kreislauf-Mitteln (13,8%) an Rang 2.

Neue Neuropsychopharmaka

Unter den 23 im Jahre 2010 neu zugelassenen Wirkstoffen findet sich nur ein Psychopharmakon – Asenapin (Sycrest®) – und ein Wirkstoff mit neurologischer Indikation – Amifampridin (Firdapse®).

Asenapin ist als atypisches Neuroleptikum zur Behandlung mäßiger bis schwerer manischer Episoden bei Bipolar-1-Störung des Erwachsenen zugelassen und wird im Report gemäß den „Fricke-Kriterien“ als „Analogpräparat mit keinen oder nur marginalen Unterschieden zu bereits eingeführten Präparaten” (Bewertung C) klassifiziert. Der Grund liegt wohl darin, dass sich Asenapin in den Zulassungsstudien in der Wirksamkeit zwar klar von Plazebo, nicht aber von Olanzapin als aktive Referenz (und damit mutmaßlich nicht von anderen Neuroleptika) abgrenzte, weshalb die Tagesbehandlungskosten nicht gerechtfertigt seien. Asenapin ist chemisch den Antidepressiva Mianserin und Mirtazapin verwandt, woraus sich seine hohe Affinität als Antagonist unter anderem zu alpha-adrenergen Rezeptoren ergibt. Das darin liegende therapeutische Potenzial von Asenapin wurde bisher noch nicht detailliert in klinischen Studien ausgelotet.

Amifampridin (3,4-Diaminopyridin) wurde unter Orphan-Drug-Status zur symptomatischen Behandlung des Lambert-Eaton-Syndroms zugelassen. Amifampridin verlängert als Kaliumkanalblocker das Aktionspotenzial, was die Freisetzung von Acetylcholin an den motorischen Endplatten erhöht. Der Report klassifiziert Amifampridin als „innovative Struktur bzw. neuartiges Wirkprinzip mit therapeutischer Relevanz“ (Bewertung A). Der Wirkstoff stand ohne spezifische Zulassung mit allerdings ungenügender Galenik bereits seit Jahren mit Jahrestherapiekosten von etwa 1200 Euro zur Verfügung, weshalb die Jahrestherapiekosten von Firdapse® in Höhe von etwa 63000 Euro schwer nachvollziehbar erscheinen.

Generika

Generika haben inzwischen im Gesamtmarkt einen Verordnungsanteil von 71,1% mit einem Umsatzanteil von 34,7% erreicht. Im generikafähigen Markt ist der Verordnungsanteil der Generika bei 86,2% geblieben, der Umsatzanteil diskret auf 75,3% gesunken. Für die generikafähigen Neuropsychopharmaka liegen die Generika-Anteile an den Verordnungen laut Liste des Arzneiverordnungsreports bei 90%, die entsprechenden Umsatzanteile erwartungsgemäß etwas niedriger. Leider ist ein Bezug zu den DDD nicht gegeben, so dass sich keine sinnvoll aggregierten Gesamtzahlen für die Neuropsychopharmaka ableiten lassen. Soweit dem Report zu entnehmen, sind Einsparungen der GKV aus den Rabattverträgen nach §130a SGB V nicht berücksichtigt. Der Apotheker ist verpflichtet, das rabattierte Arzneimittel abzugeben, wenn der Arzt aut idem nicht ausgeschlossen hat oder der GKV-Versicherte von seinem mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) in §129 Absatz 1 SGB V eingeräumten Recht Gebrauch macht, bei Verordnung eines Generikums ad hoc Kostenerstattung zu wählen, um das Fertigarzneimittel seiner Wahl zu erhalten. Die GKV hat aus Rabattverträgen im Jahr 2010 Einsparungen in Höhe von 1309 Mio. Euro erzielt. Es ist nicht zu ermitteln, welche Anteile davon auf Neuropsychopharmaka entfallen.

Verordnungsspektren

Antidepressiva

Die verordneten Tagesdosen (DDD) von Antidepressiva haben von 2009 auf 2010 erneut – um 11% – zugenommen, die Umsätze um 9%. Die Zunahme weicht vom allgemeinen Trend des Gesamtmarktes (DDD +2,5%, Umsatz 4,3%) ab (Abb. 1), was auf einen weiteren Rückgang der Unterbehandlung hinweist. Da dem Report kein Indikationsbezug möglich ist und der Umfang des Off-Label-Use unbekannt ist, sind Schlussfolgerungen bezüglich einzelner der zahlreichen gesicherten Indikationen (Übersicht bei [6]) der Antidepressiva unmöglich. Zum weiteren Wachstum können Indikationserweiterungen (bzgl. Angstkrankheiten) beigetragen haben. Der Report bezweifelt wegen der geringen Evidenz insbesondere die Berechtigung des Wachstums bei leichter Depression; indem dem Report der Indikationsbezug unmöglich ist, fehlen allerdings Informationen, inwieweit Antidepressiva hier eingesetzt werden. Der Indikationsbezug ist auf Ebene der einzelnen Krankenkasse grundsätzlich herstellbar [14].

Abb. 1. Arzneiverordnungen und -umsätze zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Seit 1994 haben die verordneten Tagesdosen (DDD) der chemisch definierten Antidepressiva rund 4,2fach zugenommen, die Umsätze 4fach. Eine zu erwartende Sättigungstendenz zeichnet sich bisher nicht ab. Die modernen Antidepressiva haben inzwischen einen Anteil von rund 73% (2009: 70%) der gesamten (ohne Johanniskraut-Extrakte) Antidepressiva-Verordnungen (DDD; Abb. 2) und rund 81% (2009: 79%) am Umsatz (Abb. 3). Wahrscheinlich ist der Rückgang der Verordnung von Reboxetin (DDD –15%) der Bewertung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG), die anderenorts kommentiert wurde [13], zuzuschreiben. In der Tat ergibt sich die Frage nach dem medizinischen Rationale für das weitere Wachstum von Duloxetin (DDD +11%, Umsatz +14,6%), das damit inzwischen einen Anteil von 3,5% der verordneten Tagesdosen (DDD) erreicht und daraus einen Anteil am Gesamtumsatz aller Antidepressiva von fast 18% generiert.

Abb. 2. Verteilung der Antidepressiva-Verordnungen (DDD) zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]; SSRI: selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer; TCA: trizyklische Antidepressiva

Abb. 3. Verteilung der Antidepressiva-Umsätze zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]; SSRI: selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer; TCA: trizyklische Antidepressiva

Die – vom Gesetzgeber gewollte – Vorgabe von Citalopram als Leitsubstanz seit Start der „Rahmenvorgaben Arzneimittel“ der Spitzenverbände der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gemäß §84 Absatz 7 SGB V bedeutet einen Eingriff in den Wettbewerb. Zeitlich kontingent ist die Verordnung von Citalopram jährlich um 15 bis 20% (DDD +67% gegenüber 2007) gewachsen; im Jahr 2010 hat Citalopram einen Anteil von über 57% an den DDD der selektiv-serotonergen Antidepressiva (SSRI). Das anteilige Wachstum von Citalopram war allerdings schon vor Start des Leitsubstanz-Konzepts zu verzeichnen, so dass ein ursächlicher Zusammenhang unbeweisbar sein dürfte. Demgegenüber hat sich der Anteil des einzig noch patentgeschützten SSRI Escitalopram an den DDD von SSRI bei 11,8% eingependelt. Bupropion wächst – relativ – erheblich und hat 0,9% der DDD (1,5% des Umsatzes) der Antidepressiva erreicht. Darin könnten sich auch laut §34 SGB V (Negativliste) ausgeschlossene Verordnungen für die Raucherentwöhnung verbergen, die für Elontril® off Label wären.

Diesmal geht der Report über die schon in früheren Jahren geäußerten Zweifel an der Rechtfertigung von Antidepressiva bei leichter Depression hinaus: „Schließlich aber sind Zweifel aufgekommen, ob nicht die verbreitete langfristige Verordnung von Antidepressiva den Verlauf der Depression ungünstig beeinflussen kann und zu ihrer heutigen Erscheinungsform als chronischer rezidivierender Erkrankung entscheidend beigetragen hat“, wofür Fava und Offidan [4] als Zeugen benannt werden. Wenn Antidepressiva Ursache für den chronisch rezidivierenden Verlauf wären, dann wäre ihr Nutzen tatsächlich zweifelhaft. Woher aber weiß der Report, dass Antidepressiva „verbreitet langfristig“ verordnet werden? Leitlinienkonform wäre das, aber das Verordnungsvolumen ist mit einer „verbreitet langfristigen Verordnung“ unvereinbar. Was hier als neuer Zweifel als Ergebnis neuer Erkenntnisse suggeriert wird, ist ein jahrelanges Thema von Frau Fava [2] ohne neue Erkenntnisse und Ausfluss ihrer – auch berechtigten – Kritik am Einfluss der pharmazeutischen Industrie [3].

Der rezidivierende Verlauf der Depression war aber Jahrzehnte vor Entdeckung der Antidepressiva bekannt und ist mit familiärer Belastung assoziiert. Warum muss sich der Report, der doch die Fahne evidenzbasierter Medizin hochhält, solcher Suggestionen bedienen? Evidenz und Lehrbuchwissen ist, dass abruptes Absetzen von Antidepressiva Entzugssymptome hervorruft, die in Art und Ausprägung von den pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Eigenschaften der Antidepressiva abhängen („antidepressant discontinuation syndrome“), und eine erhöhte Relapse- bzw. Rezidivrate nach sich zieht [16]. Evidenz ist auch, dass Antidepressiva, wenn sie denn langfristig verordnet und eingenommen werden, das Risiko von Relapse und Rezidiv (Recurrence) in klinisch bedeutsamem Maße senken [15], sehr wohl im Bewusstsein, dass die in die Studien einbezogenen Patienten für Response selektiert sind. Evidenz ist auch, dass die rezidivprophylaktische Wirkung jedenfalls von Imipramin für fünf Jahre belegt ist [5, 18]. Evidenz ist schließlich, dass die Relapserate (ohne Erhaltungstherapie) nach Psychotherapie mit 27% geringer ist als nach Pharmakotherapie mit 57% [1]. Vor dem Hintergrund der Zweifel an der Wirksamkeit von Antidepressiva bei leichter Depression ist zumindest interessant, dass in dieser Metaanalyse die Remissionsraten unter Psychotherapie und Pharmakotherapie bei leichter Depression „gleich“ (46,47% vs. 44,37%, p=0,34) und signifikant höher als bei mittelschwerer Depression (33,15% vs. 31,9%) waren.

Neuroleptika

Die Verordnung von Neuroleptika steigt seit etwa 2005 jährlich um zwischen 2% und 5% (Abb. 1), soweit sich über die Jahre ändernde Definitionen der DDD (2010 +19% gegenüber 2005) für Neuroleptika durch die WHO eine Beurteilung erlauben. Das ist dem Wachstum moderner Antipsychotika auch mit Indikationserweiterungen auf bipolare Störungen und Off-Label-Use zuzuschreiben. Nachdem der Umsatz 2008 um 9,4% gegen 2007 gesunken war, im Wesentlichen weil Risperidon und Olanzapin den Patentschutz verloren hatten, ist er 2009 um 22% und 2010 um weitere 7% gewachsen, unter anderem weil der BGH Olanzapin wieder unter Patentschutz stellte.

Die modernen Antipsychotika können nicht als einheitliche Gruppe aufgefasst werden. Die atypischen Neuroleptika (Abb. 4) im engeren Sinne haben inzwischen einen Anteil von 49% bei den verordneten Tagesdosen (87% des Umsatzes; Abb. 5). Bezieht man Sulpirid, Zotepin und Melperon in diese Gruppe mit ein, so liegt der Anteil der DDD bei 55% mit 90% des Umsatzes. Nachdem die Verordnungen von Amisulprid nach Verlust des Patentschutzes ohne erkennbare medizinische Rationalität zunächst zurückgingen, ist sein Anteil an den Tagesdosen inzwischen wieder dezent auf 2,3% gestiegen. Quetiapin hat Olanzapin und Risperidon überflügelt und ist mit 14% der DDD das am häufigsten verordnete Neuroleptikum mit dem höchsten Umsatz (30%). Paliperidon spielt keine Rolle mehr, nachdem es vom Gemeinsamen Bundesausschuss einer Festbetragsgruppe zugeordnet wurde und der Hersteller seinen Preis nicht entsprechend gesenkt hat. Das ist insofern beachtlich, als Paliperidon (Invega®) seit 2011 das erste und einzige Neuroleptikum ist, das für schizoaffektive Störung zugelassen ist.

Abb. 4. Verteilung der Verordnungen (DDD) von Neuroleptika zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Abb. 5. Verteilung der Umsätze von Neuroleptika zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Der Report stellt erneut die – zweifellos heterogenen – Vorteile der modernen Antipsychotika in Frage unter Berufung unter anderem auf die Studien EUFEST, CATIE und CutLASS, was anderenorts hinterfragt wurde [7, 9], so dass es sich nicht lohnt, die Debatte hier wieder aufzunehmen.

Antidementiva/Nootropika

Nach dem Einbruch 2004 infolge des grundsätzlichen gesetzlichen Ausschlusses nichtverschreibungspflichtiger Arzneimittel sind die verordneten DDD der Antidementiva 2008 und 2009 um jeweils 9% (Umsatz +20% bzw. +15%) gestiegen, bedingt durch einen absoluten Zuwachs bei den Verordnungen von Cholinesterasehemmern (DDD +17% bzw. +13%) und Memantin (+17% bzw. +16%), der mit einer Umsatzsteigerung von 20%/15% bzw. 17%/16% verbunden. 2010 sind die Verordnungen der Cholinesterasehemmer um weitere 8% (DDD; Umsatz +7%) gewachsen, während Memantin stagnierte.

Trotz der Zunahme ihrer Verordnungen haben die Cholinesterasehemmer und Memantin die Kranken nicht sachgerecht erreicht: Donepezil, Rivastigmin und Galantamin hatten im Jahre 2010 einen Anteil von 50% an den Verordnungen (DDD; Abb. 6), aber von 66% am Umsatz (Abb. 7). Memantin verzeichnet einen Anteil von 26% an den Tagesdosen und 30% an den Umsätzen. Geht man von aktuell 650000 Alzheimer-Kranken aus und postuliert (realitätsfern) eine – wie eigentlich geboten – kontinuierliche Behandlung, so können diese Therapieoptionen bisher nominal etwa 33% der Betroffenen nutzen. Nominal würde eine 100%ige Behandlung zusätzlich 689 Mio. Euro verbrauchen.

Abb. 6. Verteilung der Verordnungen (DDD) von Antidementiva/Nootropika zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Abb. 7. Verteilung der Umsätze von Antidementiva/Nootropika zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Entwöhnungsmittel

Bereits vielfach wurde in den Kommentaren zum Arzneiverordnungsreport auf die Widersprüchlichkeit des Ausschlusses von Mitteln zur Raucherentwöhnung (Bupropion [Zyban®]; Nicotin, Vareniclin [Champix®]) aus dem Leistungskatalog der GKV (§34 SGB V) hingewiesen: Der Ausschluss ist angesichts der Bedeutung des Rauchens als Risikofaktor für die führenden Todesursachen (u.a. Herzinfarkt und Malignome) medizinisch unplausibel. Er ist angesichts des Bekenntnisses auch der Bundesregierung zur Prävention, hier ein rauchfreies (Raucher-freies) Land zu realisieren (das Bundes-Nichtraucherschutzgesetz ist seit 01.09.2007 in Kraft), wenig plausibel: Der Ausschluss bleibt unlogisch. Der Gemeinsame Bundesausschuss prüft seit mehreren Jahren, ob im Rahmen von Disease-Management-Programmen (DMP) vom Ausschluss abgewichen werden kann.

Acamprosat wird in Anlage 4 der Arzneimittelrichtlinien ausdrücklich als bei Alkoholkrankheit verordnungsfähig genannt, wobei „zur Vermeidung eines nicht sachgerechten Einsatzes auf die bestimmungsgemäße Anwendung von Acamprosat ausschließlich als Zusatztherapeutikum im Rahmen einer psychosozial betreuten Abstinenzbehandlung“ hingewiesen wird. Die Verordnungen von Acamprosat (Abb. 8) sind 2010 auf niedrigem Niveau stabil geblieben. Allenfalls 5% der geeigneten Patienten werden erreicht, es bleiben also therapeutische Chancen ungenutzt. Dem leistet der Report Vorschub, indem er immer wieder die Datenlage unvollständig wiedergibt.

Abb. 8. Acamprosat: Verordnungen und Umsatz [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Ein entsprechender Cochrane-Review [19] über 24 Plazebo-kontrollierte randomisierte klinische Studien (RCTs) wurde 2010 publiziert. Danach reduziert Acamprosat das Risiko des Trinkens mit einer Number needed to treat (NNT)=9. Ebenfalls 2010 wurde ein Cochrane-Review [20] zu Naltrexon bei Alkoholabhängigkeit mit 50 RCTs publiziert. Auf Basis der drei verfügbaren Studien wurden keine signifikanten Unterschiede der Wirksamkeit zwischen Acamprosat und Naltrexon gefunden. Kiefer et al. [17] haben additive Effekte der Kombination von Acamprosat mit Naltrexon nachgewiesen: Die absolute Reduktion des Rückfallrisikos innerhalb 80 Tagen gegenüber Plazebo betrug unter Acamprosat etwa 10%, unter Naltrexon 25% und mit der Kombination 40% (extrahiert aus Fig. 2 bei Kiefer et al.). Basierend auf dieser und einer weiteren Studie fand der Cochrane-Review von Rösner et al. [20] keinen signifikanten Vorteil der Kombination. Naltrexon ist seit 2011 in dieser Indikation zugelassen.

Psychostimulanzien

Seit 1992 ist die Verordnung von Methylphenidat um den Faktor 80 gestiegen (Abb. 9), was auch der Report als Hinweis auf einen Abbau der Unterversorgung von Patienten mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) interpretiert. In den letzten beiden Jahren zeichnet sich ein Sättigungseffekt ab (Abb. 9). Seit 2008 sind die Ausgaben tendenziell rückläufig (Abb. 9). Atomoxetin spielt mit 4,2% der verordneten Tagesdosen eine untergeordnete Rolle, verursacht aber beachtliche 20% der Umsätze in diesem Indikationssegment. Modafinil verzeichnete in den letzten Jahren auf niedrigem Niveau ein deutliches Wachstum; es war nie für ADHS zugelassen. 2011 hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die bisherigen Indikationen „mittelschweres bis schweres obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) mit exzessiver Schläfrigkeit trotz adäquater nCPAP-Therapie“ und das Schichtarbeiter-Syndrom zurückgenommen, so dass Modafinil nur noch für die Narkolepsie zugelassen ist.

Abb. 9. Verordnungen und Umsätze von „Psychostimulanzien“ [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Im Nordbaden-Projekt [21] ergab sich für das Jahr 2003 eine epidemiologisch nachvollziehbare Behandlungsprävalenz der ADHS von 1,7% bzw. 0,6% für die Gruppe der männlichen und weiblichen 13- bis 19-Jährigen. Es fragt sich aber, ob die auffällige Konzentration der Behandlung mit einer gleichmäßigen, bedarfsgerechten (§70 SGB V) Versorgung vereinbar ist: 25% der Kinderärzte behandelten 79% aller von Kinderärzten gesehenen ADHS-Patienten, in der Gruppe der Kinder- und Jugendpsychiater betreuten 40% der Ärzte 86% aller von dieser Arztgruppe gesehenen ADHS-Patienten, während 20% dieser Ärzte keine einzige ADHS-Diagnose berichteten. Dem Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen, das – nun für den GKV-Spitzenverband – die auch dem Arzneiverordnungsreport zugrunde liegenden Daten für die GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (GAmSi) aufbereitet, wäre es möglich, detaillierte Informationen zur regionalen Verteilung der Verordnungen zu veröffentlichen, was einen wunderbaren Qualitätsindikator darstellen könnte.

Seit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.03.2002 bestand das Problem des angeblichen Off-Label-Use bei Verordnung von Methylphenidat an Erwachsene mit ADHS [8]. Die Expertenkommission Off-Label-Use beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemäß §35c SGB V musste den Prüfauftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses wegen laufender Zulassungsantragsverfahren unerledigt zurückgegeben. 2011 wurde ein Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat für ADHS im Erwachsenenalter zugelassen; definitionsgemäß muss das ADHS hier bereits in der Kindheit nachweisbar gewesen sein.

Antiepileptika

Die Verordnung von Antiepileptika hat über die Jahre massiv zugenommen (Abb. 10). Die Prävalenz der Epilepsien dürfte sich nicht bedeutsam geändert haben, möglicherweise aber die Angemessenheit der Pharmakotherapie. Der Report diskutiert, dass die verordneten DDD des Jahres 2010 mit der Prävalenz der Epilepsien vereinbar seien. Der Zuwachs ist im Wesentlichen der Einführung moderner Antiepileptika zu verdanken. Parallel haben einige Antiepileptika Indikationserweiterungen gewonnen, insbesondere den neuropathischen Schmerz, die bipolare Störung und die generalisierte Angststörung (nur Pregabalin). Eine Quantifizierung der Indikationsanteile ist anhand der Daten des Reports unmöglich (wenn auch den Krankenkassen grundsätzlich möglich), also auch eine Abschätzung des Versorgungsgrades. Pregabalin, das 2010 18% der DDD ausmachte, soll laut Arzneiverordnungsreport (ohne Quellenangabe) zu 89% bei neuropathischem Schmerz eingesetzt werden.

Abb. 10. Verordnungsspektrum (DDD) von Antiepileptika zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Parkinsonmittel

Die Verordnungen (DDD) sowohl von Levodopa (nahezu ausschließlich in Kombination mit Decarboxylasehemmern) als auch Dopaminagonisten steigt grundsätzlich seit Jahren (Abb. 11), worin sich zumindest teilweise der demographische Wandel widerspiegeln kann. Gemäß Statistischem Bundesamt haben die vollstationären Fälle wegen Parkinson-Krankheit (ICD-10 G20.-) von 26488 im Jahr 2000 um 36% auf 34966 im Jahr 2009 (jüngste verfügbare Daten) zugenommen. Was dies aber für die Zahl der betroffenen Personen bedeutet, ist nicht abzuschätzen. Nachdem für die Ergolinderivate Pergolid und Cabergolin ein deutlich erhöhtes Risiko unter anderem für Herzfibrosen mit Valvulopathien erkannt wurde, ist deren Verordnung massiv zurückgegangen. Zu den Umsatzsteigerungen (Abb. 12) der letzten Jahre tragen ausschließlich die Dopaminagonisten und COMT-Inhibitoren bei.

Abb. 11. Verordnungen (DDD) von Parkinsonmitteln zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Abb. 12. Umsätze für Parkinsonmittel zu Lasten der GKV [Arzneiverordnungsreport 1995–2011]

Regionale Verordnungsgewohnheiten

Die föderale Struktur Deutschlands bietet grundsätzlich die Möglichkeit des Benchmarkings der Versorgung – hier mit Arzneimitteln – als quasi ideales Instrument der Qualitätskontrolle. Solches Benchmarking ist auch geboten, um zu prüfen, inwieweit der gesetzliche Anspruch auf eine gleichmäßig bedarfsgerechte Versorgung (§70 SGB V) eingelöst wird. Die dem Arzneiverordnungsreport zugrunde liegenden Daten enthalten den regionalen Bezug, werden aber bisher vom Arzneiverordnungsreport nicht in diesem Sinne genutzt. Regionalen Bezug (auf jede Kassenärztliche Vereinigung) bieten nur die auf derselben Datenbasis erstellten Berichte des GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystems (GAmSi) des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Diese berichten aber nur über die jeweils 30 umsatzstärksten Fertigarzneimittel, ansonsten nur aggregiert auf Ebene von Indikationsgruppen.

Das GAmSi gibt aggregierte Informationen zu „Psychopharmaka“ und fasst unter diesem Begriff wie der Arzneiverordnungsreport Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquillanzien, Phasenprophylaktika (z.B. Lithium) und Psychostimulanzien zusammen. Danach gab es im Jahr 2010 (kumuliert bis 12/2010) und ähnlich 2007, 2008, 2009 ein Süd-Nord-Gefälle (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern) mit den höchsten Verordnungsraten in Bayern, Rheinland-Pfalz und im Saarland (Abb. 13).

Abb. 13. Verordnungen (DDD) und Ausgaben (brutto) je GKV-Versicherten nach Bundesländern (Stand 12/2010) von Psychopharmaka im Vergleich zu allen Arzneimitteln [GKV-Arzneimittel-Schnellinformation der GKV, GamSi]

Der Variationskoeffizient zwischen den Bundesländern erreicht für die Tagesdosen je GKV-Versicherten wie auch die Bruttoumsätze (Euro) je Versicherten rund 10%. Da Verteilung und Variabilität der Verordnung von Psychopharmaka im Wesentlichen derjenigen in den Vorjahren und im Jahr 2003 entsprechen, dürfte es sich eher nicht um zufällige regionale Schwankungen handeln. Das Verteilungsmuster der gesamten Arzneimittelverordnungen weist eher ein Nord-Süd- und ein Ost-West-Gefälle auf, so dass wohl kein generell unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten der Bevölkerung für Arzneimittel zugrunde liegt. Ohne Indikationen- und Wirkstoffbezug müssen tragfähige Deutungsversuche scheitern.

Auch bei den Parkinsonmitteln zeigt sich eine über die Jahre weitgehend stabile, erhebliche Variabilität (VK 16%) der je GKV-Versicherten verordneten Tagesdosen zwischen den Bundesländern, wobei aber eine gute Übereinstimmung des Verteilungsmusters mit dem des Bevölkerungsanteils der über 64-Jährigen erkennbar ist (Abb. 14), so dass die Variabilität grundsätzlich medizinisch plausibel ist. Das davon abweichende Verteilungsmuster der damit verbundenen Ausgaben je GKV-Versicherten (Variationskoeffizient 20%) ist dagegen erklärungsbedürftig.

Abb. 14. Verordnungen (DDD) und Ausgaben (brutto) je GKV-Versicherten nach Bundesländern (Stand 12/2010) von Parkinsonmitteln im Vergleich zum Anteil der über 64-Jährigen [GKV-Arzneimittel-Schnellinformation der GKV (GAmSi) bzw. Statistisches Bundesamt]

Für die Variabilität der je GKV-Versicherten verordneten Tagesdosen von Antiepileptika und der dafür investierten Ausgaben (Abb. 15; Variationskoeffizient 13% bzw. 15%) ist Plausibilität nicht ohne Weiteres zu erkennen.

Abb. 15. Verordnungen (DDD) und Ausgaben (brutto) je GKV-Versicherten nach Bundesländern (Stand 12/2010) von Antiepileptika [GKV-Arzneimittel-Schnellinformation der GKV (GamSi)]

Wer verordnet was?

Der Report differenziert die Verordnungen auf Ebene der dreistelligen ATC-Codes auch nach Fachgebieten. Dies erlaubt selbstverständlich keine Rückschlüsse auf die behandelten Krankheiten. Der Anteil der von Nervenärzten, Neurologen und Psychiatern verordneten Tagesdosen am Gesamtvolumen ist von 2,78% im Jahr 2007 auf 2,9% gestiegen, womit sie allerdings einen – wachsenden – Umsatzanteil von inzwischen 10,2% (3 Mrd. Euro; 2007: 8,8%, 2,2 Mrd. Euro) beisteuern und damit an dritter Stelle nach Allgemeinärzten (37%) und hausärztlichen Internisten (15%) stehen. Die verordneten Tagesdosen verteilen sich auf vertragsärztliche Nervenärzte (2010: n=2 753), Neurologen (n=1 470) und Psychiater (n=1 938) im Verhältnis 59%, 19% und 22%, die damit verbundenen Umsätze 59%, 27%, 14%. Das Verordnungsspektrum von Nervenärzten und hier insbesondere Neurologen ist also eher hochpreisig. 33%, 56% bzw. 11% der von neuropsychiatrischen Fachärzten verordneten Tagesdosen mit 63%, 84% bzw. 24% der Umsätze entfallen auf neurologische (u. a. nichtpsychiatrische) Indikationen. Psychoanaleptika (Antidepressiva, Psychostimulanzien, Antidementiva) machen – mit steigendem Trend – 48%, 34% bzw. 65% der von neuropsychiatrischen Fachärzten verordneten Tagesdosen und 18%, 9% bzw. 39% des Umsatzes aus. Für Psycholeptika (Antipsychotika, Lithium, Anxiolytika, Hypnotika) sind es 20%, 10% bzw. 24% der Verordnungen (DDD) bzw. 19%, 6% bzw. 36% des Umsatzes. Wegen der 2007 erfolgten Umstellung der Berichterstattung auf ATC-Codes sind andere Differenzierungen innerhalb psychiatrischer Indikationen nicht mehr möglich.

Bezogen auf das Gesamt-Verordnungsvolumen verordneten neuropsychiatrische Fachärzte im Jahr 2010 40% der definierten Tagesdosen (DDD) von Psychoanaleptika (Allgemeinärzte 36%) und 36% der Psycholeptika (Allgemeinärzte 34%). 62% der DDD von Parkinsonmitteln wurden von neuropsychiatrischen Fachärzten verordnet, immerhin 24% von Allgemeinärzten (Abb. 16). Neuropsychiatrische Fachärzte verordneten 36% der DDD der Muskelrelaxanzien (Allgemeinärzte 26%). Unverändert nur 0,5% der DDD von Antithrombotika wurden nervenärztlich verordnet (Allgemeinärzte 64%), was nahe legt, dass sich Patienten nach ischämischem Hirninfarkt überwiegend nicht in andauernder nervenärztlicher Behandlung befinden.

Abb. 16. Verordnungen (DDD) von Neuropsychopharmaka nach Fachgebieten im Jahr 2010 [Arzneiverordnungsreport 2011]

Literatur

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*Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2011. Berlin-Heidelberg: Springer-Verlag, 2011.

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim

Prescribing patterns of psychotropic drugs in Germany: Results and comments to the Drug Prescription Report 2011

The Drug Prescription Report 2011 again questions the adequacy of the considerable absolute increase of the prescription of modern antidepressants as well as the increasing share of modern antipsychotics. Generic prescription and sales of antidepressants and neuroleptics are high and correspond to average. Prescriptions (DDD) of total antidementia drugs have been stable after 2 years of rise since 15 years while the share of modern antidementia drugs is increasing dramatically but covering, however, only about 33% of those in need. The report ignores the majority of the evidence for acamprosate and thus contributes to the undertreatment where only 5% of those potentially profiting are reached. The growth of methylphenidate is levelling off; the concentration of prescriptions to a minority of physicians is suspect of inadequacy. The growth of antiepileptic prescriptions might fit to the prevalences. The growth of antiparkinsonian prescriptions might be due to the aging of the population where the shift to non-ergolide dopamine agonists corresponds to current hope to reduce progression. The medical rationale of the heterogeneity of prescribing patterns within Germany is unclear and needs more in depth clarification and explanation.

Key words: Antipsychotic drugs, pharmacoepidemiology

Psychopharmakotherapie 2011; 18(06)