Dipl.-Biol. Anne Bleick, Stuttgart
Leitlinien sind keine Richtlinien, die starre Vorschriften machen. Sie dienen vielmehr als Gerüst, an dem sich die individuelle Diagnostik und Therapie jedes Patienten orientieren soll. Die S3-Leitlinie Demenz versteht sich als eine systematisch entwickelte Hilfe zur Entscheidungsfindung in Diagnostik, Therapie, Betreuung und Beratung [1]. An der Entwicklung der Leitlinie waren Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. maßgeblich beteiligt. Sie wurde erstmals im November 2009 veröffentlicht und soll alle zwei Jahre aktualisiert werden.
Einen Überblick über die empfohlenen antidementiven pharmakologischen Therapien bei verschiedenen Demenzformen und in den jeweiliegen Stadien gibt Abbildung 1. Dabei handelt es sich nur um „Sollte-“ (B) und „Kann-Empfehlungen“ (C), aber nicht um den höchsten Empfehlungsgrad „Soll“ (A).
Eine Alzheimer-Demenz sollte demnach im Stadium der leichten und der mittelschweren Demenz mit einem der Acetylcholinesterasehemmer Donepezil, Galantamin oder Rivastigmin behandelt werden. In der Leitlinie heißt es: „Acetylcholinesterasehemmer sind wirksam in Hinsicht auf die Fähigkeit zur Verrichtung von Alltagsaktivitäten, auf die Besserung kognitiver Funktionen und auf den ärztlichen Gesamteindruck bei der leichten bis mittelschweren Alzheimer-Demenz und eine Behandlung wird empfohlen (Empfehlungsgrad B).“
Abb. 1. Übersicht über die Empfehlungen zur antidementiven Pharmakotherapie gemäß S3-Leitlinie Demenz [2]. In Klammern sind die Empfehlungsgrade angegeben: Soll-Empfehlung (A), Sollte-Empfehlung (B) und Kann-Empfehlung (C)
Bei einer gemischten Demenz kann im Stadium der leichten und der mittelschweren Demenz ein Acetylcholinesterasehemmer (Donepezil, Galantamin oder Rivastigmin) gegeben werden. Dazu steht in der Leitlinie: „Es gibt gute Gründe, eine gemischte Demenz als das gleichzeitige Vorliegen einer Alzheimer-Demenz und einer vaskulären Demenz zu betrachten. Folglich ist es gerechtfertigt, Patienten mit einer gemischten Demenz entsprechend der Alzheimer-Demenz zu behandeln (Empfehlungsgrad C).“
Memantin sollte bei der Alzheimer-Demenz im mittelschweren und schweren Stadium eingesetzt werden (Empfehlungsgrad B), bei der gemischten Demenz kann es in diesen Stadien eingesetzt werden (Empfehlungsgrad C).
Für die Behandlung der vaskulären Demenz gilt für alle Stadien eine „Kann-Empfehlung“ (Off-Label) für einen der drei Acetylcholinesterasehemmer oder Memantin.
Für die Therapie der frontotemporalen Demenz kann kein Wirkstoff empfohlen werden, da laut Leitlinie „keine überzeugende Evidenz zur Behandlung kognitiver Symptome oder Verhaltenssymptome“ existiert (Empfehlungsgrad B).
Eine Demenz bei Morbus Parkinson sollte im leichten und mittelschweren Stadium mit Rivastigmin behandelt werden, da es laut Leitlinie „wirksam im Hinblick auf kognitive Störungen und Alltagsfunktionen“ sei (Empfehlungsgrad B). Zur Therapie der Lewy-Körperchen-Demenz steht in der Leitlinie: „Es gibt Hinweise für eine Wirksamkeit von Rivastigmin auf Verhaltenssymptome. Ein entsprechender Behandlungsversuch kann erwogen werden (Empfehlungsgrad C).“
Richtiger Einsatz der Acetylcholinesterasehemmer
Ein Aspekt, auf den in der ärztlichen Praxis häufig nicht ausreichend geachtet wird, ist die Dosisabhängigkeit der Wirkung der Acetylcholinesterasehemmer [2]. Dazu heißt es in der Leitlinie explizit: „Es soll die höchste verträgliche Dosis angestrebt werden (Empfehlungsgrad A).“ Die Wirkstoffe sollten unter Berücksichtigung der Verträglichkeit eindosiert werden. Die Dosierungen (Start- und Zieldosis) der Acetylcholinesterasehemmer sind in Tabelle 1 dargestellt.
Tab. 1. Dosierung der Acetylcholinesterasehemmer [1, Fachinformationen der Hersteller]
Wirkstoff |
Darreichungsform |
Einnahme/Applikation |
Startdosis |
Zieldosis |
Donepezil |
Tabletten (5 mg, 10 mg) und Schmelztabletten (5 mg, 10 mg) |
1-mal täglich abends |
2,5–5 mg/Tag |
10 mg/Tag |
Galantamin |
Retardkapseln (8 mg, 16 mg, 24 mg) |
1-mal täglich morgens |
8 mg/Tag |
16–24 mg/Tag |
Lösung (1 ml entspricht 4 mg) |
2-mal täglich |
2-mal 4 mg |
2-mal 8–12 mg |
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Rivastigmin |
Hartkapseln (1,5 mg, 3 mg, 4,5 mg, 6 mg) |
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Lösung (1 ml entspricht 2 mg) |
2-mal täglich |
2-mal 1–1,5 mg |
6–12 mg/Tag |
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Transdermales Pflaster (4,6 mg/24 h, 9,5 mg/24 h) |
1-mal täglich |
4,6 mg/24 h |
9,5 mg/24 h |
Eine Erhebung von Adler und Mitarbeitern unter niedergelassenen Ärzten (n=188) ergab, dass 70% der Alzheimer-Patienten auf einer niedrigen Dosierung eines Acetylcholinesterasehemmers belassen wurden und nur 30% tatsächlich die maximale Dosierung erhielten [2, 3]. Dies bedeutet, dass die Wirkung der Acetylcholinesterasehemmer bei der Mehrzahl der Alzheimer-Patienten nicht voll ausgeschöpft wird.
Dass sich eine Unterdosierung der Acetylcholinesterasehemmer tatsächlich negativ auswirkt, ergab eine aktuelle schwedische Studie [4]. An dieser offenen prospektive Studie über drei Jahre hatten 880 Alzheimer-Patienten teilgenommen. Sie wurden zu Hause von Angehörigen oder einem Pflegedienst betreut und erhielten einen Acetylcholinesterasehemmer (Donepezil, Rivastigmin, Galantamin). Ziel der Studie war, zu erkennen, welche Faktoren mit einer frühen Heimeinweisung assoziiert sind. Insgesamt wurden während der Zeit 206 Patienten in ein Pflegeheim eingewiesen (23%). Eines der Ergebnisse war, dass Patienten, die einen der Acetylcholinesterasehemmer in einer niedrigeren Dosis erhielten, deutlich früher in ein Heim eingewiesen wurden als Patienten, die mit höheren Dosierungen behandelt wurden.
Laut Leitlinie können die Acetylcholinesterasehemmer „bei guter Verträglichkeit im leichten bis mittleren Stadium fortlaufend gegeben werden (Empfehlungsgrad B).“
Da es keine Hinweise auf klinisch relevante Unterschiede zwischen den verfügbaren Acetylcholinesterasehemmern gibt, sollte die Auswahl eines dieser Wirkstoffe gemäß der Leitlinie anhand des Neben- und Wechselwirkungsprofils erfolgen. Donepezil und Galantamin werden vorwiegend über das Cytochrom-P450-System der Leber metabolisiert; Rivastigmin wird fast ausschließlich hydrolysiert und unterliegt kaum einem hepatischen Metabolismus. Alle drei Wirkstoffe werden überwiegend renal eliminiert, allerdings unterscheiden sich die jeweiligen Anteile der Ausscheidung über Urin und Fäzes. Die Wirkstoffe unterscheiden sich also darin, was das Risiko möglicher Wechselwirkungen betrifft. Diese Unterschiede können relevant sein, da ein Großteil der Alzheimer-Patienten multimorbide ist und mit mehreren Arzneimitteln behandelt wird; entsprechend hoch ist bei diesen Patienten das Risiko von Interaktionen.
Zu den häufigsten Nebenwirkungen dieser Substanzklasse zählen gastrointestinale Störungen (z.B. Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö), Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel. Besondere Vorsicht ist geboten bei Patienten mit Herzerkrankungen und bei Einnahme anderer Arzneimittel, die eine Wirkung auf das Herz haben können, sowie bei Patienten mit bekanntem schweren Asthma bronchiale oder anderen obstruktiven Lungenerkrankungen.
Wenn Zweifel an einem günstigen Verhältnis von Nutzen zu Nebenwirkungen eines Acetylcholinesterasehemmers auftreten, kann entsprechend der Leitlinie ein Absetzversuch vorgenommen werden oder die Umstellung auf einen anderen Acetylcholinesterasehemmer erwogen werden (Empfehlungsgrad B).
Fazit
Für die Pharmakotherapie bei Demenzen stehen verschiedene Wirkstoffe zur Verfügung, deren Wirksamkeit bei verschiedenen Formen und in verschiedenen Stadien der Demenz unterschiedlich gut belegt ist. Dies sind vor allem die Acetylcholinesterasehemmer Donepezil, Galantamin und Rivastigmin sowie der NMDA-Antagonist Memantin.
Um die volle Wirkung der Acetylcholinesterasehemmer auszuschöpfen, ist es wichtig, dass diese aureichend hoch dosiert werden. Sowohl bei der Dosierung als auch bei der Auswahl eines Wirkstoffs sollte die Verträglichkeit, also das Risiko möglicher Neben- und Wechselwirkungen, berücksichtigt werden.
Quellen
1. S3-Leitlinie „Demenzen“ www.dggpp.de/documents/s3-leitlinie-demenz-kf.pdf (Zugriff am 1.3.2011)
2. Prof. Dr. med. Klaus Schmidtke, Offenburg, Dr. med. Volker Woiton, Hannover, Prof. Dr. med. Georg Adler, Mannheim, Prof. Dr. med. Harald Hampel, Frankfurt. Symposium „Ein Jahr S3-Leitlinie Demenzen: Bestandsaufnahme am praktischen Beispiel“, veranstaltet von Sanofi-Aventis im Rahmen des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, 25. November 2010.
3. Adler G, et al. [Poster], DGPPN 2007.
4. Wattmo C, et al. Risk factors for nursing home placement in Alzheimer’s disease: a longitudinal study of cognition, ADL, service utilization and cholinesterase inhibitor treatment. Gerontologist 2011;51:17–7.
Psychopharmakotherapie 2011; 18(02)