David Fischer-Barnicol, Basel, Renate Grohmann, München, und Gabriela Stoppe, Basel
Die Einteilung der Antipsychotika in verschiedene Kategorien (z.B. Atypika, Typika, nieder- oder hochpotente, erste und zweite Generation) führt den Kliniker in eine immer größere Begriffsverwirrung. Quer durch alle gebräuchlichen Kategorisierungen werden derzeit Medikamente mit sehr unterschiedlichen Wirkprofilen und Eigenschaften zusammengefasst. Wir sehen in der kasuistischen Darstellung von Einzelfällen daher einen Weg, sich den klinisch relevanten Fragen mit Fokus auf die einzelnen Substanzeigenschaften zu nähern. Der vorgestellte Fall ist aufgrund seiner komplexen Problematik nicht ungewöhnlich für die alltäglichen Probleme in der Klinik oder der Praxis. Im Rahmen des AMSP-Projekts (Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie) wurde der Fall dokumentiert und bewertet.
Kasuistik
Anamnese
Der 37-jährige Patient wurde notfallmäßig mit einer akuten Exazerbation einer schizoaffektiven Störung in die Klinik eingewiesen (ICD-10 F25.2). In Nordafrika geboren, lebte er seit rund sechs Jahren in der Schweiz, hatte bis vor zwei Jahren als Hilfsarbeiter gearbeitet und war zum Zeitpunkt der Aufnahme arbeitslos. Er wurde seit 2008 ambulant psychiatrisch behandelt und war seit neun Monaten pharmakologisch mit Aripiprazol und Lamotrigin eingestellt. Grund für die Einstellung auf Aripiprazol seien akustische Halluzinationen in Form von imperativen Stimmen eines Geistes verbunden mit Gedankeneingebungen durch den Geist gewesen. Diese Symptome seien mit der medikamentösen Behandlung verschwunden. Es bestand allerdings der Verdacht, dass es im Rahmen eines Urlaubs acht Wochen vor der Aufnahme zu einer unregelmäßigen Medikamenteneinnahme gekommen sein könnte.
Als 12-Jähriger habe er einen Unfall mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT) erlitten, sei danach für längere Zeit in ärztlicher Kontrolle gewesen, habe aber nie Medikamente verordnet bekommen. Im Jahre 2005 habe ein Neurologe den Verdacht auf eine Epilepsie geäußert (epigastrische Aura, Zungenbiss, nächtlicher Urinabgang). Eine EEG-Abklärung einschließlich eines Schlafentzugs-EEG hätten diesen Verdacht jedoch nicht erhärten können.
Fremdanamnese durch die Ehefrau
Die Medikamente habe er seit seinem Urlaub regelmäßig in ihrer Gegenwart eingenommen. Beschrieben wurden massive Defizite im Alltag, ein fehlendes Bewusstsein für diese Defizite und eine verstärkte affektive Reizbarkeit und Impulsivität im Vorfeld der Aufnahme. Diese Probleme hätten seit einigen Wochen stetig zugenommen, so dass er zuletzt selbst mit einfachen Tätigkeiten überfordert gewesen sei und man sich auf nichts mehr habe verlassen können. Weiterhin berichtete sie von nächtlichen Verwirrtheitszuständen, bei denen ihr Mann nicht adäquat auf Ansprache reagiert und zudem eingenässt habe (letztmalig vor über einem Jahr).
Befunde
Der Patient war im Gespräch um Mitarbeit bemüht und freundlich. Psychopathologisch fielen eine deutlich verkürzte Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsstörungen auf. Es fanden sich ein intermittierendes Gedankendrängen, eine Denkverlangsamung sowie eine stark eingeschränkte Abstraktionsfähigkeit und zum Teil konkretistische Antworten. Die Stimmung war gedrückt, schlug aber für kurze Zeit in einen inadäquat fröhlichen Affekt um. Er beschrieb eine Tendenz zu sozialem Rückzug bei reduziertem Antrieb. Bei stereotyper Mimik beklagte er ein Gefühl der Steifigkeit und inneren Unruhe. Hinweise auf aktuelles psychotisches Erleben fanden sich nicht. Er war nicht suizidal. Er beschrieb Ein- und Durchschlafstörungen, einen Libidoverlust und zeigte bei der körperlichen Untersuchung ein fehlendes Mitschwingen der Arme als einzige Auffälligkeit. Weder in einem EEG, einer Polysomnographie noch in einem MRT konnten richtungsweisende pathologische Befunde erhoben werden. In einer testpsychologischen Untersuchung (Binet-Tafeln, Merkfähigkeitstest, DCS [Diagnosticum für Cerebralschädigung], HAWIE-R [Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene – revidierte Fassung], SPM [Raven Standard progressive matrices]) wurde eine deutlich unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit beschrieben, wobei die Befunde aufgrund der akuten Erkrankung, der kulturellen Prägung und der sprachlichen Probleme des Patienten nur eingeschränkt zu verwerten waren.
Verlauf
Pharmakologisch wurde zunächst die bestehende Therapie (Aripiprazol 20 mg/Tag, Lamotrigin 400 mg/Tag) fortgeführt. Aufgrund des fehlenden Mitschwingens der Arme beim Gehen wurde ab dem 5. Tag Biperiden verordnet. Innerhalb von zwei Tagen besserte sich die überwiegend gedrückte Stimmungslage des Patienten. In den folgenden Tagen normalisierte sich der Antrieb. Die kognitiven Probleme, die bis dahin eine strukturierte Teilnahme am Therapieprogramm erschwert hatten, besserten sich soweit, dass er völlig geordnet seinen Alltag bewältigen konnte. Seine Ehefrau beschrieb dies als den normalen Zustand.
Aufgrund der anamnestischen Angaben wurde differenzialdiagnostisch eine interiktale Psychose diskutiert (ICD-10 F06.3). Der Patient entschied sich gemeinsam mit seiner Ehefrau zu einem Absetzversuch von Aripiprazol. Nach langsamer Dosisreduktion wurde Aripiprazol und zwei Tage später Biperiden abgesetzt. Nach weiteren drei Tagen wurde der Patient zunehmend gereizter und hörte wieder die Stimme des Geistes. Beides verschwand nach erneuter Gabe von Aripiprazol 20 mg/Tag innerhalb weniger Tage. Da sich etwa eine Woche nach erneutem Ansetzen von Aripiprazol wieder milde Zeichen von EPS andeuteten, wurde erneut Biperiden angesetzt und die Dosis von Aripiprazol auf 10 mg/Tag reduziert. Auf Wunsch des Patienten wurde anschließend die Medikation nicht mehr verändert und er konnte subjektiv beschwerdefrei mit Aripiprazol 10 mg, Lamotrigin 400 mg und Biperiden ret. 4 md/Tag entlassen werden.
Diskussion
Nach wie vor muss die Beeinflussung des dopaminergen Systems als einzige gesicherte Gemeinsamkeit aller Antipsychotika angesehen werden [1]. Aripiprazol unterscheidet sich allerdings in der Art der Blockade der dopaminergen Neurotransmission von anderen Antipsychotika. Bei den meisten Dopaminantagonisten wird eine Blockade von 60 bis 80% der Dopamin-D2-Rezeptoren als therapeutisch wirksam angesehen [2]. Ab einer Blockade von mehr als 80% der D2-Rezeptoren treten vermehrt extrapyramidale Störungen auf [3], ohne dass eine verstärkte antipsychotische Wirkung bisher nachgewiesen werden konnte [4].
Beim Einsatz von Aripiprazol wird aber in den therapeutisch wirksamen Dosierungen ein D2-Rezeptorbesatz von über 90% gemessen [5]. Dies scheint therapeutisch auch sinnvoll zu sein, da Aripiprazol zwar eine sehr hohe Affinität zum D2-Rezeptor hat (höher als Haloperidol), aber kein Antagonist, sondern ein nur schwacher Agonist (~30%) am D2-Rezeptor ist. Vereinfacht kann man sagen, dass nicht ~70% der D2-Rezeptoren blockiert werden, sondern jeder einzelne Rezeptor in seiner Aktivität um ~70% reduziert wird. Da die kognitiven Funktionen im präfrontalen Kortex wesentlich über das dopaminerge System beeinflusst werden können [6], ist dies von zentraler Bedeutung bei der Suche nach den Ursachen für kognitive Defizite.
Für den dargestellten Fall bietet dieser theoretische Hintergrund wichtige Interpretationshilfen, um eine Hypothese zur Erklärung des klinischen Verlaufs bilden zu können. Zunächst deutet das Parkinsonoid auf eine zu starke (funktionelle) Blockade des Dopaminsystems hin. Unter Aripiprazol scheinen EPS zwar seltener als unter einer Therapie mit Risperidon aufzutreten, aber dennoch nicht ungewöhnlich zu sein [7]. Da Anticholinergika eher kognitive Defizite induzieren können, überrascht zunächst der Verlauf mit der kognitiven und affektiven Verbesserung nach Gabe von Biperiden. Schon früher wurde beschrieben, dass eine hohe Blockade des dopaminergen Systems durch Antipsychotika zu psychischen und kognitiven Nebenwirkungen führen kann [8]. Als charakteristisch und diagnostisch wegweisend wurde eine Besserung der Symptome nach der Gabe von Anticholinergika angesehen. Unter sehr hoher Dosierung von Antipsychotika (v. a. Haloperidol) wurde dieser Effekt anscheinend häufiger beobachtet. So wurden „dysphorische Reaktionen“, „pharmakogene Depressionen“, „Hirnleistungsschwächen“ und andere Phänomene beschrieben und als Nebenwirkung der Therapie mit Antipsychotika zugeordnet [Übersicht bei 8]). Auch neuere Artikel thematisieren diesen Zusammenhang [9], aber zwischen iatrogenen und krankheitsbedingten Symptomen unterscheiden nur wenige Autoren. Dabei ist die Beeinflussung objektiver Maßstäbe (z.B. PANSS [Positive and negative syndrome scale]) durch Nebenwirkung von Medikamenten besonders relevant und kann zu erheblichen Verzerrungen führen [10].
Der beschriebene Fall weist darauf hin, dass solche Phänomene auch beim Einsatz von Aripiprazol zu beobachten sind. Theoretisch lässt sich dies mit einer Verringerung der dopaminergen Transmission im mesokortikalen Bahnsystem und im präfrontalen Kortex in Verbindung bringen [6]. Trotz eines anderen Wirkungsmechanismus scheint diese Substanz zu denselben Funktionsstörungen (z.B. nigrostriatal oder präfrontal) führen zu können, wie sie für Haloperidol oder andere Substanzen beschrieben sind. Die zentralen Argumente für die These, dass es sich bei diesem Fall um eine medikamentöse Nebenwirkung handelt, sind das Ansprechen der Symptome auf Biperiden und das Wiederauftreten der Symptome nach Reexposition.
Alternativ muss ein Zusammenhang mit einer Epilepsie diskutiert werden. Allerdings müsste in diesem Zusammenhang die zeitliche Koinzidenz von Biperiden-Gabe und klinischer Veränderung als zufällig angesehen werden. Auch gab es während der gesamten Beobachtungszeit keinerlei Hinweise auf Anfälle. Allerdings muss bei dem Patienten von einer organischen Vorschädigung und damit von einer erhöhten Vulnerabilität ausgegangen werden. Es muss offen bleiben, ob die Gabe von Biperiden nach der Dosisreduktion von Aripiprazol noch weiter notwendig war, da der Patient einen Auslassversuch abgelehnt hat.
Schlussfolgerung
Aripiprazol wird in der Hoffnung eingesetzt, dass EPS, kognitive und affektive Störungen seltener als Nebenwirkung auftreten als unter älteren Medikamenten wie Haloperidol. Es ist jedoch wichtig, daran zu denken, dass auch Aripiprazol diese Nebenwirkungen verursachen kann. Die Gabe von Biperiden kann im Zweifelsfall helfen, Krankheitssymptome von medikamentösen Nebenwirkungen zu unterscheiden.
Literatur
1. Seeman P. Dopamine D2 receptors as treatment targets in schizophrenia. Clin Schizophr Relat Psychoses 2010;4:56–73.
2. Seeman P. An update of fast off dopamine D2 atypical antipsychotics. Am J Psychiatry 2005;162:1984a–5.
3. Künstler U, Hohdorf K, Regenthal R, Seese A, et al. Verkleinerung der Handschriftfläche und D2-Dopaminrezeptorblockade: Ergebnisse unter Behandlung mit typischen und atypischen Neuroleptika. Nervenarzt 2000;71:373–9.
4. Haase HJ. Dosage of neuroleptics (author‘s transl). MMW Munch Med Wochenschr 1980;122:1808–13.
5. Sparshatt A, Taylor D, Patel MX, Kapur S. A systematic review of aripiprazole – dose, plasma concentration, receptor occupancy, and response: implications for therapeutic drug monitoring. J Clin Psychiatry 2010;71:1447–56. Epub 2010 Jun 1.
6. Goldman-Rakic PS, Castner SA, Svensson TH, Siever LJ, et al. Targeting the dopamine D1 receptor in schizophrenia: insights for cognitive dysfunction. Psychopharmacology (Berl) 2004;174:3–16. Epub 2004 Apr 30.
7. Komossa K, Rummel-Kluge C, Schmid F, Hunger H, et al. Aripiprazole versus other atypical antipsychotics for schizophrenia. Cochrane Database Syst Rev 2009;(4):CD006569.
8. Dose M. Unerwünschte psychische Wirkungen. In: Riederer P, Laux G, Pöldinger W (Hrsg.). Neuropsychopharmaka. Band 4: Neuroleptika. 2. Auflage. Heidelberg: Springer-Verlag, 1998.
9. Rado J, Janicak PG. Aripiprazole for late-life schizophrenia. Clin Interv Aging 2010;5:253–8.
10. Demily C, Chouinard VA, Chouinard G. Iatrogenic psychiatric-like symptoms recognition. Encephale 2010;36:417–24. Epub 2010 Mar 6.
Dr.med. David Fischer-Barnicol, Prof. Dr.med. Gabriela Stoppe, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Wilhelm-Klein-Straße 27, 4056 Basel, Schweiz, E-Mail: david.fischer-barnicol@upkbs.ch
Dr.med. Renate Grohmann, Psychiatrische Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, Nussbaumstraße 7, 80336 München
Cognitive and affective side effects with aripiprazole
A 37-year-old patient was admitted as a psychiatric inpatient with a depressive syndrome and cognitive impairment. He had been treated previously with aripiprazole under a diagnosis of schizoaffective disorder. Symptoms disappeared completely after co-treatment with biperiden. When aripiprazole was stopped he developed auditory hallucinations so aripiprazole was re-established. Also biperiden was given again to treat a recurrent depressive mood and cognitive impairment. With a lower dose of aripiprazole and biperiden in combination he could leave the hospital with complete remission of all side effects.
Key words: Aripiprazole, anticholinergics, side effects, depression, cognitive impairment
Psychopharmakotherapie 2011; 18(02)