Schwere Depression

Agomelatin stärker wirksam als Fluoxetin


Priv.-Doz. Dr. Dieter Angersbach, Wolfratshausen

In einer 8-wöchigen Doppelblindstudie wurde die antidepressive Wirksamkeit von Agomelatin (25–50 mg/Tag) mit der von Fluoxetin (20–40 mg/Tag) bei 515 Patienten mit schwerer Depression verglichen. Der Score auf der Hamilton Depression Rating Scale, 17-Item-Version (HAMD17) betrug bei diesen Patienten zu Beginn der Studie mindestens 25 Punkte. Nach acht Wochen war der Score bei den Patienten unter Agomelatin signifikant stärker reduziert als bei den Patienten unter Fluoxetin (p=0,024). Auch bei den sekundären Endpunkten zeigte sich eine überlegene Wirksamkeit von Agomelatin.

Agomelatin wirkt als Agonist an den Melatonin-Rezeptoren MT1 und MT2 sowie als Antagonist an Serotonin (5-HT)-2C-Rezeptoren. Die Stimulation der Melatonin-Rezeptoren beeinflusst den Schlaf und die zirkadiane Rhythmik, die Blockade der 5-HT2C-Rezeptoren erhöht die Freisetzung von Noradrenalin und Dopamin im frontalen Kortex. Beide Mechanismen, also die Restrukturierung des gestörten zirkadianen Rhythmus sowie die erhöhte noradrenerge und dopaminerge Aktivität im frontalen Kortex, tragen vermutlich zur antidepressiven Wirksamkeit von Agomelatin bei.

Die Wirksamkeit von Agomelatin in der Akuttherapie wurde in drei von sechs Plazebo-kontrollierten Kurzzeitstudien (über 6 oder 8 Wochen) nachgewiesen, die anderen drei, nicht veröffentlichten Studien zeigten keinen Vorteil von Agomelatin [1]. Eine nachträgliche Auswertung der Studienergebnisse ergab, dass Agomelatin auch bei schwer depressiven Patienten (HAMD17-Score: ≥25 Punkte) wirksam ist. Primäres Ziel der vorliegenden prospektiven Studie war es, eine überlegene antidepressive Wirksamkeit von Agomelatin (25–50 mg/Tag) gegenüber Fluoxetin (20–40 mg/Tag) bei Patienten mit schwerer Depression zu zeigen [2]. Die Studie wurde zwischen 2005 und 2008 in 41 Zentren in den USA, Südamerika und Europa durchgeführt.

Studiendesign

An der Studie nahmen insgesamt 515 ambulante Patienten teil. Sie wurden randomisiert einer 8-wöchigen Behandlung mit Agomelatin (n=252) oder Fluoxetin (n=263) zugeteilt. Die Startdosis konnte bei unzureichender Wirksamkeit in der Agomelatin-Gruppe nach Woche 2 von 25 mg/Tag auf 50 mg/Tag und in der Fluoxetin-Gruppe nach Woche 4 von 20 mg/Tag auf 40 mg/Tag erhöht werden.

Eingeschlossen waren Frauen und Männer zwischen 18 und 65 Jahren mit der Diagnose einer depressiven Erkrankung nach DSM-IV-TR (Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 4th edition, text revision). Der HAMD17-Score betrug mindestens 25 Punkte und der Score des klinischen Gesamteindrucks, Teil Schweregrad der Erkrankung (CGI-S) mindestens 4 Punkte. Darüber hinaus mussten mindestens 7 der 9 Symptome (A1–A9) der diagnostischen Kriterien einer depressiven Episode vorhanden sein.

Ausschlusskriterien waren unter anderem Depression mit saisonalem Muster und Depression mit psychotischen Merkmalen. Ausgeschlossen waren weiterhin Patienten mit bipolaren Störungen, Zwangsstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Auch therapieresistente Patienten wurden nicht aufgenommen, wobei Therapieresistenz als erfolglose Behandlung mit adäquaten Dosen zweier verschiedener Antidepressiva über einen Zeitraum von wenigsten jeweils vier Wochen definiert war.

Primärer Wirksamkeitsparameter war die Änderung des HAMD17-Gesamtscores vom Einschluss bis zur letzten Beurteilung. Sekundäre Wirksamkeitskriterien waren unter anderen die Scores des klinischen Gesamteindrucks Teil Schweregrad (CGI-S) und Teil Zustandsänderung (CGI-I), der Gesamtscore der drei Schlaf-Items der HAMD17-Skala und der Gesamtscore der Hamilton-Angstskala (HAM-A). Weiterhin war eine Analyse der Responder und Remitter vorgesehen. Eine Response nach HAMD17 war definiert als Reduktion des Scores um ≥50%, eine Remission als Reduktion des Scores auf ≤6. Eine Response nach CGI-I lag bei einem Score von 1 oder 2 (sehr stark oder stark verbessert) vor. Zur Beurteilung von Sicherheit und Verträglichkeit wurden die spontan berichteten und abgefragten Ereignisse registriert. Die Beurteilungen der Wirksamkeit und Sicherheit wurden in zweiwöchigem Abstand vorgenommen.

Ergebnisse

Wegen unerwünschter Wirkungen brachen 4% der Patienten der Agomelatin-Gruppe und 6,5% der Patienten der Fluoxetin-Gruppe die Studie vorzeitig ab. Abbrüche wegen fehlender Wirksamkeit wurden von 2,8% (Agomelatin) bzw. 4,9% (Fluoxetin) der Patienten berichtet. Insgesamt beendeten die Studie 88,1% der mit Agomelatin behandelten und 81,4% der mit Fluoxetin behandelten Patienten.

Die Dosis von Agomelatin wurde bei 29% der Patienten erhöht, die Dosis von Fluoxetin bei 23% der Patienten.

Wirksamkeit.

  • Der HAMD17-Score betrug zu Beginn durchschnittlich 28,6 Punkte. Er sank unter Agomelatin stärker als unter Fluoxetin, nämlich auf 11,1±7,3 vs. 12,7±8,5 Punkte. Der Unterschied zwischen den Gruppen betrug 1,49 Punkte (95%-Konfidenzintervall 0,20–2,77; p=0,024).
  • Der Anteil der Responder gemäß HAMD17-Skala war 71,7% unter Agomelatin und 63,8% unter Fluoxetin (p=0,06); in der Remitter-Analyse waren die Unterschiede etwas geringer (32% vs. 28,4%; p=0,381).
  • Die Änderungen des CGI-S- und CGI-I-Scores waren ebenfalls größer unter Agomelatin; das Signifikanzniveau wurde aber verfehlt. Der CGI-S-Score sank von 5,0±0,6 auf 2,6±1,3 (Agomelatin) bzw. 2,8±1,4 (Fluoxetin; D=0,22; p=0,059). Der CGI-I-Score betrug bei der letzten Visite mit Agomelatin im Mittel 1,9±1,0, mit Fluoxetin 2,1±1,2 (D=0,18; p=0,063). Die Unterschiede im Responderanteil nach CGI-I waren signifikant zugunsten von Agomelatin (77,7% vs. 68,8%; p=0,023).
  • Auch die Besserung des Schlafs war unter Agomelatin signifikant stärker ausgeprägt als unter Fluoxetin. Ausgehend von 4,9±1,3 verbesserte sich der HAMD17-Schlaf-Subscore auf 1,4±1,7 mit Agomelatin und auf 1,8±1,9 mit Fluoxetin (D=0,37; p=0,018).
  • Beide Behandlungen waren gleich wirksam in der Reduktion der Angstsymptome. Der HAM-A-Gesamtscore sank von 26,0 bzw. 26,4 mit Agomelatin um 14,7 und mit Fluoxetin um 14,2 Punkte.

Verträglichkeit. Die Ergebnisse zur Sicherheit und Verträglichkeit unterschieden sich nur geringfügig zwischen beiden Behandlungsgruppen. Wenigstens ein unerwünschtes Ereignis trat in der Agomelatin-Gruppe bei 57,2% der Patienten und in der Fluoxetin-Gruppe bei 56,3% der Patienten auf. Wenigstens ein unerwünschtes Ereignis, das als mit der Behandlung im Zusammenhang stehend beurteilt wurde, berichteten 38,4% der Patienten der Agomelatin- und 41,1% der Patienten der Fluoxetin-Gruppe. Schwere unerwünschte Ereignisse traten bei 4,0% (Agomelatin) bzw. 5,3% (Fluoxetin) der Patienten auf. Todesfälle kamen nicht vor. Die am häufigsten gemeldeten unerwünschten Ereignisse waren Kopfschmerz, Übelkeit und Somnolenz (Tab. 1).

Tab. 1. Unerwünschte Ereignisse, die in einem Zeitraum von 8 Wochen in mindestens einer Gruppe bei über 3% der Patienten auftraten [2]

Agomelatin (n=250)*

Fluoxetin (n=263)*

Ereignisse
[n]

Patienten
[n (%)]

Ereignisse
[n]

Patienten
[n (%)]

Kopfschmerzen

43

40 (16,0)

33

30 (11,4)

Übelkeit

20

20 (8,0)

32

30 (11,4)

Schläfrigkeit

15

15 (6,0)

9

9 (3,4)

Abdominelle Schmerzen

11

11 (4,4)

7

7 (2,7)

Nasopharyngitis

10

10 (4,0)

2

2 (0,8)

Trockener Mund

9

8 (3,2)

8

8 (3,0)

Obstipation

8

8 (3,2)

3

3 (1,1)

*Patienten, die mindestens eine Dosis der Studienmedikation eingenommen hatten

Aus den Ergebnissen folgern die Autoren, dass in der Studie eine überlegene antidepressive Wirksamkeit von Agomelatin gegenüber Fluoxetin bei schwer depressiven Patienten gezeigt wurde.

Kommentar

Bei einem Unterschied von 1,49 Punkten auf der HAMD17-Skala kann man hinterfragen, ob es sich bei diesem Ergebnis auch um eine klinisch relevante Überlegenheit handelt oder ob diese nur statistisch signifikant ist. Dieses Problem sehen auch die Autoren der Studie; sie sind der Meinung, dass es sich insgesamt um eine klinisch relevante Wirkung handelt, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass Plazebo-kontrollierte Studien einen Unterschied von zwei bis drei Punkten zwischen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (wie Fluoxetin) und Plazebo ergaben. Unter diesem Aspekt sei es bemerkenswert, wenn man noch einmal die Hälfte dieser Wirksamkeit auf die Wirksamkeit der aktiven Substanz draufsetzen könne.

Diese Argumentation offenbart allerdings einen Schwachpunkt der Studie: es fehlt die Plazebo-Kontrolle. Zwar ist Agomelatin besser wirksam als Fluoxetin, aber es ist unklar, ob Fluoxetin besser wirksam gewesen wäre als Plazebo. Es ist deshalb schwer zu beurteilen, wie wirksam Agomelatin in dieser Studie tatsächlich war.

Literatur

1. Tessmer M. Agomelatin. Antidepressivum mit innovativem Wirkungsmechanismus zur Behandlung von Episoden einer Major Depression bei Erwachsenen. Med Monatsschr Pharm 2009;32:282–8.

2. Hale A, et al. Superior antidepressant efficacy results of agomelatine versus fluoxetine in severe MDD patients: a randomized, double-blind study. Int Clin Psychopharmacol 2010;25:305–14.

Psychopharmakotherapie 2011; 18(02)