Multiple Sklerose

Natalizumab: Wirksamkeit mit Risiko


Prof. Dr. H. C. Diener, Essen/, Birgit Hecht, Stuttgart

Natalizumab führt bei der schubförmigen multiplen Sklerose (MS) zu einer Reduktion der Schubrate und zu reduzierter Krankheitsaktivität in der Kernspintomographie (MRT). Bei einem Teil der Patienten kommt es unter Natalizumab zu einem Stillstand der Erkrankung. Demgegenüber steht das Risiko einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML), einer potenziell tödlich verlaufenden Infektion des Gehirns.

Bei den meisten Patienten verläuft die multiple Sklerose zu Beginn der Erkrankung in Schüben. Die immunmodulatorische Therapie bestand bisher aus Interferon beta und Glatirameracetat. Seit einiger Zeit ist für Patienten mit aggressivem Krankheitsverlauf Natalizumab (Tysabri®), ein Alpha-4-Integrin-Rezeptorantagonist, für die Behandlung der schubförmigen MS zugelassen. Die Wirksamkeit wurde in einer großen randomisierten, Plazebo-kontrollierten, multizentrischen Phase-III-Studie belegt, der sogenannten AFFIRM-Studie (Natalizumab safety and efficacy in relapsing-remitting multiple sclerosis). In dieser Studie reduzierte Natalizumab die Schubrate um 68% und die Zahl Gadolinium-aufnehmender Herde im T1-gewichteten MRT (Kernspintomogramm) um 92%. Das Risiko einer über 12 Wochen anhaltenden Behinderungsprogression war in der Verum-Gruppe geringer als in der Plazebo-Gruppe (17% vs. 29%, Hazard-Ratio 0,58). Die Berechnung der Wahrscheinlichkeit für eine über 24 Wochen anhaltende Behinderungsprogression ergab eine Risikoreduktion von 54% durch die Gabe von Natalizumab.

In einer Post-hoc-Analyse der AFFIRM-Studie wurde der Verlauf der Krankheitsaktivität über zwei Jahre untersucht. Dabei wurde unterschieden zwischen klinischen Merkmalen (Schubrate, Fortschreiten der Behinderung) und radiologischen Merkmalen (neue Gadolinium-aufnehmende Herde im T1-gewichteten MRT, neue oder vergrößerte hyperintense Herde im T2-gewichteten MRT).

Bezogen auf die klinischen Merkmale waren 64% der Patienten, die Natalizumab erhielten, progressionsfrei, von den Patienten, die Plazebo erhielten, waren es 39%. Der Unterschied von 25 Prozentpunkten war statistisch signifikant. Die Zahlen für eine fehlende Progression in der Kernspintomographie betrugen 58% für Natalizumab und 14% für Plazebo. Der Anteil der Patienten, die sowohl bei den klinischen Merkmalen als auch im MRT progressionsfrei waren, betrug unter Natalizumab 37% und unter Plazebo 7%. Diese signifikanten Unterschiede fanden sich unabhängig davon, ob die Patienten vor Einschluss in die Studie eine geringe oder hohe Krankheitsaktivität zeigten.

Risiko PML

Diese überzeugende Wirksamkeit birgt auch Risiken: sowohl in einer der Zulassungsstudien als auch nach Markteinführung traten Fälle von progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML) auf – bis Januar 2010 sind insgesamt 31 Fälle einer PML bekannt geworden. Bei der PML handelt es sich um die Aktivierung einer latenten Infektion mit dem JC-Virus (einem humanen Polyomavirus), die in vielen Fällen tödlich verläuft. Symptome sind beispielsweise motorische Störungen und Sehstörungen ähnlich den Symptomen der multiplen Sklerose, aber auch kognitive Störungen, Wesensveränderungen und epileptische Anfälle. Der Nachweis der Virus-DNS ist nicht unproblematisch, wie in einem aktuell veröffentlichten Fallbericht deutlich wird: Unter der Monotherapie mit Natalizumab entwickelte ein 35-jähriger Patient (EDSS-Score unter Natalizumab=1,0) Muskelzuckungen und Muskelschwäche im Arm, die anfangs als Symptome der MS gedeutet wurden, ebenso die Veränderungen im MRT. Eine PCR-Analyse des Liquors auf Virus-DNS war negativ (<200 Kopien/ml). Da sich der Zustand des Patienten verschlechterte und eine PML weiter in Erwägung gezogen wurde, wurden Plasmaaustausche vorgenommen, um die Blutspiegel von Natalizumab zu senken. Erst eine deutlich empfindlichere quantitative PCR-Analyse ergab zu diesem Zeitpunkt einen positiven JC-Virus-Nachweis (53 Kopien/ml). Ungefähr 3 Wochen nach erfolgtem Plasmaaustausch kam es nach Regeneration des Immunsystems zu einer Entzündungsreaktion mit Fieber und auffälligen Läsionen im MRT – aufgrund dieser Herde verschlimmerte sich der Zustand des Patienten weiter, so dass er auf den Rollstuhl angewiesen war (EDSS-Score=8,0). In der Folge erlitt der Patient einen MS-Schub. Acht Wochen nach Plasmaaustausch besserte sich der Zustand des Patienten, nach 3 Monaten konnte er mit Krücken wieder 300 m gehen (EDSS-Score=6,0).

Empfehlung des Ärztlichen Beirats der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) zur Therapiedauer und zu Maßnahmen der Therapiebegleitung bei Patienten unter laufender Natalizumab-Therapie

1. Nach einem halben Jahr und spätestens nach 1 Jahr kann über Erfolg oder Misserfolg einer Natalizumab-Therapie von klinischer Seite in aller Regel geurteilt werden. Eine Kernspintomographie nach 1 Jahr sollte als zusätzlicher paraklinischer Surrogatmarker einer suffizienten Stabilisierung der Erkrankung mit hinzugenommen werden, sofern nicht Zeichen neuer MS-typischer Krankheitsaktivität die Wirksamkeit infrage stellen oder sogar eine PML differenzialdiagnostisch zu erwägen ist.

2. Nach 12 Monaten wird empfohlen, auch bei fehlendem Verdacht auf PML klinische Verlaufskontrollen (MRT Bildgebung kranial) in mindestens 12-monatigen Abständen durchzuführen.

3. Nach 24 Monaten Therapiedauer sollte der Patient einer ausführlichen therapeutischen und klinischen Reevaluation unterzogen werden. Die Weiterführung der Therapie ist vor dem Hintergrund des mit der Therapiedauer möglicherweise zunehmenden PML-Risikos sehr kritisch zu beurteilen, und nur bei begründeten Patienten wäre in diesem Falle die Weiterführung zu empfehlen. Mithilfe eines standardisierten Aufklärungsblattes (…) wird der Patient über den jeweils aktuell gültigen Stand des Wissens zu Sicherheit und Risiken von Natalizumab und über die aktuell bestehende Indikation zur Weiterführung der Therapie informiert.

(…) Eine aktive Therapieumstellung von Patienten bei gutem Ansprechen auf die Natalizumab-Therapie, bei korrekter Indikationsstellung und bei erhaltener und nachgewiesener Immunkompetenz kann aufgrund der vorliegenden Zahlen zum Risiko der Therapie insbesondere auch in Anbetracht der limitierten möglichen Alternativen in dieser Patientenklientel noch nicht generell empfohlen werden. Trotzdem ist zu sagen, dass die Gabe von Natalizumab über den Zeitraum von 24 Monaten kritisch zu prüfen und mit den Patienten zu diskutieren ist. Nach gemeinsam mit dem Patienten getroffener Entscheidung zur Weiterführung empfehlen wir die 6-monatige klinische sowie gegebenenfalls MRT-Untersuchung des Patienten. [nach Gold et al., 2009]

Ein aktueller Rote-Hand-Brief der Firma Biogen Idec informiert darüber, dass das Risiko für die Entwicklung einer PML mit zunehmender Behandlungsdauer zu steigen scheint. Er greift die vorgenannten Empfehlungen zu Kontrollintervallen und der Dauer der Natalizumab-Therapie auf und weist auf die Notwendigkeit der anhaltenden klinischen Wachsamkeit während der Therapie hin. Beim Verdacht auf PML ist Natalizumab sofort abzusetzen.

In diesem Fall wird deutlich, dass es schwierig ist, das individuelle Risiko für eine PML abzuschätzen, solange Risikofaktoren unbekannt sind. Des Weiteren ist die Differenzialdiagnose erschwert – insbesondere in den Anfangsstadien, weil sowohl die klinischen Symptome als auch die Läsionen im MRT denen eines MS-Schubs ähneln. Offenbar treten auch beim Nachweis der Virus-DNS Probleme auf: Die Spezifität des Nachweises wird zwar mit annähernd 100% angegeben, die Empfindlichkeit dagegen liegt bei 60–80% je nach Labor. In der Literatur wurden sowohl Fälle beschrieben, bei denen der Virus-Nachweis positiv war ohne Auftreten einer PML, als auch, wie im vorliegenden Fall, ein negatives Ergebnis trotz Vorliegen einer PML.

Eine weitere Problematik liegt darin, dass es keine antiviralen Wirkstoffe zur Behandlung der PML gibt. Die einzige Möglichkeit ist der Plasmaaustausch zur Entfernung von Natalizumab. Eine mögliche Komplikation hierbei besteht darin, dass nicht nur Natalizumab, sondern auch Antikörper gegen das JC-Virus aus dem Plasma entfernt werden.

Kommentar

Die Post-hoc-Analyse der AFFIRM-Studie zeigt, dass ein gewisser Prozentsatz der Patienten unter einer Behandlung mit Natalizumab kein Fortschreiten der MS zeigt. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu Interferon beta und Glatirameracetat, da es hier bei dem Großteil der Patienten nur zu einer verminderten Schubrate kommt.

Die Anwendung von Natalizumab setzt aber eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung und Beachtung verschiedener Sicherheitsmaßnahmen voraus, insbesondere bei längerer Anwendung (Kasten). Noch immer ist unbekannt, wann und wie es zur Entwicklung einer PML kommt. Das Risiko scheint aber mit zunehmender Behandlungsdauer anzusteigen. Zu bedenken ist auch, dass vor Einführung von Natalizumab kein Fall von PML bei MS-Patienten bekannt wurde, obwohl auch die bisher zur Behandlung der MS eingesetzten Wirkstoffe (unter anderem Cyclophosphamid und Mitoxantron) immunsuppressiv wirken.

Literatur

Havrdova E, et al. Effect of natalizumab on clinical and radiological disease activity in multiple sclerosis: a retrospective analysis of the Natalizumab safety and efficacy in relapsing-remitting multiple sclerosis (AFFIRM) study. Lancet Neurol 2009;8:254–60.

Polman CH, et al. A randomized, placebo-controlled trial of natalizumab for relapsing multiple sclerosis. 2006;354:899–910

Lindå H, et al. Progressive multifocal leukoencephalopathy after natalizumab monotherapy. NEJM 2009; 361:1081–7

Brown BA. Natalizumab in the treatment of multiple sclerosis. Ther Clin Risk Manag 2009;5:585–94

Gold R, et al. Therapie der multiplen Sklerose mit monoklonalen Antikörpern. Ergebnisse und Empfehlungen des Ärztlichen Beirats der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. Akt Neurol 2009;36:334–44.

European medicines agency (EMA): Press release: EMA recommends additional measures to better manage risk of progressive multifocal leukoencephalopathy (PML) with Tysabri und Questions and ansers on the review of Tysabri (natalizumab) vom 21.1.2010.

Mitteilung an medizinische Fachkreise (Rote-Hand-Brief) der Firma Biogen Idec GmbH, Stand Februar 2010.

Psychopharmakotherapie 2010; 17(02)