Dr. Barbara Kreutzkamp, Hamburg
Die Gabe von Antidepressiva gehört zum Standardmanagement von Depressionen. In unzähligen klinischen Studien waren Antidepressiva einer Plazebo-Behandlung überlegen. Der über eine Plazebowirkung hinausgehende Effekt scheint aber von der Schwere der Ausgangssymptomatik abzuhängen. Erste Hinweise dafür lieferten zwei Metaanalysen (Kirsch et al., 2008; Khan et al., 2002), in denen Daten von Zulassungsstudien ausgewertet wurden. Allerdings waren die meisten der in die Analyse einbezogenen Studien mit Patienten durchgeführt worden, die eine schwere oder sehr schwere Depression hatten. Auch wurde in den analysierten Zulassungsstudien häufig ein Studiendesign gewählt, in dem alle Patienten vor Beginn der Plazebo-kontrollierten Phase über etwa 14 Tage eine wirkstofffreie Medikation erhielten. Patienten, bei denen die Symptome bereits in dieser Plazebo-Phase um mehr als 20% zurückgingen, wurden als Plazebo-Responder eingestuft und von der eigentlichen Studie ausgeschlossen. Eine Übertragbarkeit der so ermittelten Daten auf die Verhältnisse der täglichen Praxis ist daher nicht ohne weiteres möglich. So haben schätzungsweise über 70% der Patienten, die sich mit depressiven Symptomen in ärztliche Behandlung begaben, eine leichte oder mittelschwere Depression. Zum anderen ist eine depressive Episode eine akute Erkrankung, bei der nicht wenige Patienten auch gut auf Plazebo ansprechen.
Um die Wirkung von Antidepressiva in Situationen des Praxisalltags abschätzen zu können, wurde jetzt eine neue Metaanalyse durchgeführt. Darin wurden Studien ausgewertet, in die auch Patienten mit leichter oder mäßiger Depression einbezogen waren und bei denen Plazebo-Responder nicht ausgeschlossen wurden. Die Analyse wurde nicht lediglich auf der Ebene von Behandlungsgruppen durchgeführt. Es wurden vielmehr die Daten der einzelnen Patienten ausgewertet. Solche Metaanalysen auf Patientenebene werden auch als Megaanalysen bezeichnet.
Methodik
In den wichtigen medizinischen Datenbanken wurde nach Studien mit Publikationsdatum zwischen 1980 und März 2009 gesucht, in denen zugelassene Antidepressiva bei erwachsenen ambulanten Patienten mit einer leichten bis sehr schweren Depression gegen Plazebo über mindestens sechs Wochen untersucht worden waren. Ferner mussten die Behandlungsergebnisse der einzelnen Patienten zugänglich sein und die Symptome anhand der Hamilton-Depressionsskala (HAMD) erfasst worden sein. Studien mit einer vorgeschalteten Plazebo-Phase wurden ausgeschlossen.
Die Ein- und Ausschlusskriterien wurden von 23 Studien erfüllt. Für sechs Studien waren Daten auf Patientenebene zugänglich. Die Daten dieser 718 Patienten wurden gepoolt analysiert. Als Antidepressivum wurden in den Studien Imipramin oder Paroxetin eingesetzt. In einigen der Studien wurden außerdem psychotherapeutische Verfahren (3 Studien) oder Johanniskrautextrakt (1 Studie) untersucht, diese Daten flossen aber nicht in die Metaanalyse ein. In allen Studien wurde die, zum Teil modifizierte, 17-Item-Version der HAMD verwendet.
Ergebnisse
Bei Patienten mit einem HAMD17-Ausgangsscore von unter 23 (also Patienten mit leichter, mittelschwerer und schwerer Depression) wurde für den Unterschied der Wirkung von Antidepressiva vs. Plazebo eine Effektstärke (Cohens d) von weniger als 0,20 ermittelt. Dies bedeutet definitionsgemäß einen kleinen Effekt. Mit zunehmender Schwere der Ausgangssymptomatik stiegen die Schätzungen für das Ausmaß der Überlegenheit des Antidepressivums gegenüber Plazebo (Tab. 1). Der Schwellenwert, bei dem sich ein signifikanter Unterschied zwischen Verum und Plazebo entsprechend den NICE-Kriterien ergab, lag bei einem HAMD-Score von 25 (also bei Patienten mit einer sehr schweren Depression). Das National Institute for Clinical Excellence (NICE) definiert den Schwellenwert für einen klinisch relevanten Effekt eines Antidepressivums gegenüber Plazebo als eine Effektgröße von mindestens 0,50 oder eine Differenz von mindestens 3 Punkten auf der HAMD.
Tab. 1. Effektstärke der Antidepressiva-Therapie in Abhängigkeit vom Schweregrad der Symptome bei Therapiebeginn (HAMD: Hamilton-Depressionsskala; NNT: Number needed to treat)
Symptomausprägung |
Effektstärke (Cohens d) |
95%-Konfidenzintervall |
NNT |
Leicht bis mittelschwer (HAMD-Score ≤18) |
0,11 |
–0,18; 0,41 |
16 |
Schwer (HAMD-Score 19–22) |
0,17 |
–0,08; 0,43 |
11 |
Sehr schwer (HAMD-Score ≥23) |
0,47 |
0,22; 0,71 |
4 |
Diskussion
Die Ergebnisse der Metaanalyse auf Patientenebene zeigen eine starke Abhängigkeit des therapeutischen Effekts von Antidepressiva von der Schwere der Ausgangssymptomatik der depressiven Patienten. Bei Patienten mit leichter bis mäßiger und sogar mit einer starken Depression ist die Effektstärke des Antidepressivums im Vergleich mit Plazebo gleich klinisch vernachlässigbar. Erst bei Patienten mit einer sehr schweren Depression (HAMD-Scores größer oder gleich 23) wird die Effektstärke klinisch signifikant gemäß den Kriterien des britischen NICE. Damit werden die Beobachtungen aus vorangegangenen Studien auch mit einer neuen Studie mit verfeinerter Metaanalysenmethodik bestätigt.
Das Überraschende in der neuen Metaanalyse ist, dass eine klinisch signifikante Wirksamkeit von Antidepressiva gegenüber Plazebo erst bei einer sehr schweren Symptomatik zu erwarten ist. Möglicherweise helfen also Antidepressiva bei einem Großteil der Patienten in ambulanter Behandlung nicht besser oder sehr viel besser als eine Plazebo-Medikation. Bei der Verordnung eines Antidepressivums sollte man sich deshalb noch einmal klar machen, dass die Zulassungen für die Medikamente überwiegend auf Studien basieren, in denen meist schwer kranke Menschen behandelt wurden und in denen Plazebo-Responder ausgeschlossen waren.
Ein Kommentar zu dieser kontroversen Studie folgt im nächsten Heft.
Quelle
Fournier JC, et al. Antidepressant drug effects and depression severity. A patient-level meta-analysis. JAMA 2010;303:47–53.
Psychopharmakotherapie 2010; 17(02)