Pädiatrie

ADHS – Langzeitauswirkungen der medikamentösen Therapie und Komorbiditäten


Dr. Claudia Heß, Mainz

Methylphenidat zählt aktuell bei Schulkindern und Jugendlichen zu den am häufigsten verordneten Medikamenten. Bei Langzeitanwendung kann auch bei angemessener Dosierung eine Wachstumsverzögerung und reduzierte Gewichtszunahme als Nebenwirkung auftreten. Auf der Jahrestagung 2009 der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin wurden dazu Daten von jungen Erwachsenen unter Methylphenidat-Medikation vorgestellt. Daneben konnte die bisher wenig bekannte Komorbidität von Epilepsie und ADHS beleuchtet werden.

Hintergrund

Bereits 1954 wurde Methylphenidat auf dem deutschsprachigen Markt eingeführt. Zunächst rezeptfrei abgegeben, unterliegt es seit 1971 dem Betäubungsmittelgesetz. Das Hauptanwendungsgebiet von Methylphenidat ist die medikamentöse Therapie des Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndroms (ADHS). Die Krankheit ist eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Hierzulande sind rund 6% der Kinder und Jugendlichen betroffen. Jungen leiden drei- bis neunmal häufiger daran als Mädchen. Bei 50 bis 80% aller Fälle bestehen Komorbiditäten.

Die Ursachen des ADHS sind noch nicht endgültig geklärt. Sowohl genetische, neurobiologische als auch psychosoziale Faktoren scheinen zusammen mit Umwelteinflüssen eine Rolle zu spielen. Die Krankheit hat Auswirkungen auf das gesamte familiäre und schulische Umfeld der Betroffenen.

Nebenwirkungen der ADHS-Therapie mit Stimulanzien, wie retardiertes Wachstum und mangelnde Gewichtszunahme, bringen das ADHS immer wieder in die Diskussion. Eine Untersuchung des Universitätsklinikums Erlangen an jungen Erwachsenen ergab dazu überraschenderweise, dass Patienten nach mehrjähriger Methylphenidat-Medikation in Bezug auf Größe und Gewicht keine Unterschiede gegenüber Personen ohne ADHS aufwiesen. Nach Beginn einer Langzeittherapie mit Methylphenidat wurde in den ersten drei Jahren ein signifikanter Wachstumsrückstand der Patienten gegenüber der Kontrollpopulation festgestellt, der aber nach sieben Jahren wieder eingeholt werden konnte. Sind Kinder beim Therapiestart im Vergleich mit dem Altersdurchschnitt kleiner oder sogar sehr viel kleiner, kann sich ihr Wachstum länger verzögern als die für die gesamte Studienpopulation festgestellten ersten drei Therapiejahre. Aber auch diese Patienten hatten nach sieben Jahren den Wachstumsrückstand im Vergleich zur Kontrollgruppe wieder aufgeholt.

Beim Gewicht erwachsener ADHS-Patienten ist zwar statistisch gesehen kein Unterschied zur Normalpopulation feststellbar, es wurde aber von einer Neigung zu Übergewicht berichtet.

Kritisch sahen die Experten die festgestellten sozialen Faktoren bei ADHS-Patienten. So waren in dieser Patientengruppe trotz vergleichbarer Intelligenz mehr Hauptschüler und Schulabbrecher als bei Heranwachsenden ohne ADHS zu finden. Es traten häufiger Frühschwangerschaften und schwere Verkehrsunfälle auf; daneben wurden häufiger Probleme im Umgang mit Geld genannt. Die Rate der Suchtentwicklung lag bei ADHS-Patienten nicht höher als im Durchschnitt, eine Abhängigkeit war bei dieser Gruppe aber schneller erreicht. Besonders Alkohol und Nicotin spielten hier eine Rolle – die sogenannten Designerdrogen dagegen kaum.

ADHS wächst sich nicht aus – fast die Hälfte der Patienten der Erlanger Erhebung gab an, auch als Erwachsener unter dieser Störung zu leiden. Knapp ein Drittel nahm weiter Medikamente zur Symptomkontrolle ein, obwohl die Medikation nach Vollendung des 18. Lebensjahres in Deutschland unter den Off-Label-Use fällt.

ADHS und Epilepsie

Bisher war über die Komorbidität von ADHS und Epilepsie noch wenig bekannt. Metaanalysen und Praxisdaten zeigen jedoch ein drei- bis fünffach erhöhtes Risiko von Kindern mit Epilepsie für eine Entwicklung von ADHS. Umgekehrt besteht bei Kindern mit ADHS ein dreimal so hohes Risiko für eine Epilepsie-Erkrankung. Der träumerische ADHS-Typ überwiegt bei dieser Komorbidität bei weitem. Beide Geschlechter erkranken etwa gleich viel daran.

Die jetzt vorgestellten Ergebnisse legen eine Assoziation von ADHS und Minorepilepsie nahe. Deshalb werden zurzeit Konsequenzen für die Diagnostik diskutiert: Bislang wurde der Einsatz von Stimulanzien bei einer Komorbidität von Epilepsie und ADHS vermieden; die Fachinformationen enthalten einen Warnhinweis für den Einsatz dieser Wirkstoffe bei Epilepsie.

Jetzt muss diese therapeutische Zurückhaltung überprüft werden. Die Experten konnten aus eigener Erfahrung keine Anfallszunahme bei Epilepsie-kranken Kindern unter Stimulanzientherapie beobachten. Es ist aber bei wirksamer ADHS-Behandlung eine Verbesserung der sozialen Langzeitprognose von juvenilen Epileptikern mit ADHS zu erwarten.

Fazit

Heranwachsende mit diagnostiziertem ADHS leiden auch zu einem hohen Prozentsatz als Erwachsene weiter daran. Praxisdaten zeigen eine konstitutionelle und psychosexuelle Entwicklungsverzögerung, die sich auf das gesamte Leben auswirken kann. Viele Betroffene leiden unter krankheitsbedingten Alltagsproblemen, haben schlechtere Bildungs- und Berufschancen und konsumieren mehr Nicotin und Alkohol als der Durchschnitt. ADHS-Patienten zeigen aber eine normale Endgröße und ein normales Gewicht. Eine weiterführende psychische und medizinische Betreuung dieser Betroffenen sowie die Zulassung von Methylphenidat für Personen älter als 18 Jahre scheinen aufgrund der aktuellen Datenlage empfehlenswert.

Bei auftretender Komorbidität von Epilepsie und ADHS sollte der Einsatz von Stimulanzien ebenfalls erwogen werden.

Quelle

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Michael Huss, Mainz, Dr. med. Klaus Skrodzki, Forchheim, Dr. med. Kirsten Stollhoff, Hamburg. ADHS-Symposium „ADHS – Besonderheiten bei Entwicklung und Komorbiditäten“, veranstaltet von Shire Deutschland GmbH im Rahmen der 105. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin, Mannheim, 5. September 2009.

Psychopharmakotherapie 2010; 17(02)