Gerhard Gründer, Josef Aldenhoff, Frank Bergmann, Gabriel Eckermann, Wolfgang Maier, Hans-Jürgen Möller und Jürgen Fritze
Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) gibt in ihrem Newsletter vom 11. September 2008 Empfehlungen zur Verordnung von Benzodiazepin-haltigen Hypnotika. Insbesondere empfiehlt sie, die dosisabhängigen Ausnahmeregelungen in der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) zu streichen, was zur Folge hätte, dass Benzodiazepin-haltige Hypnotika nur noch auf Betäubungsmittelrezept verschrieben werden könnten. Private Krankenversicherungen und Apotheken werden aufgefordert, Verordnungsdaten zu abhängigkeitserzeugenden Arzneimitteln zur Verfügung zu stellen beziehungsweise Auffälligkeiten in der Arzneimittelversorgung wie die Verschiebung der Verordnung von Arzneimitteln mit Abhängigkeitspotenzial zu melden. Diese Maßnahmen seien geeignet, Arzneimittelabhängigkeiten in der deutschen Bevölkerung besser und frühzeitig zu erkennen.
Hintergrund dieser Empfehlungen ist ein Vergleich von Abrechnungsdaten der GKV mit Einkaufsstatistiken öffentlicher Apotheken über die Jahre 1993 bis 2004. Die Verordnung von Benzodiazepinen zulasten der GKV ging von 11 Millionen (1993) auf 2,5 Millionen Packungen (2004) zurück, während laut Einkaufsstatistik die Abgabe durch Apotheken nur von 12,7 Millionen auf 5,6 Millionen Packungen abnahm. „Z-Drugs“ (Zaleplon, Zopiclon, Zolpidem) nahmen in der GKV von 2,1 Millionen (1993) auf 3,8 Millionen Packungen (2004) zu, die Abgabe durch Apotheken laut Einkaufsstatistik aber wesentlich ausgeprägter von 2,2 Millionen auf 7,4 Millionen Packungen. Dies interpretieren die Autoren [1] wohl zutreffend als vermehrte Verordnung auf Privatrezept. Die Datenbasis erlaubt nicht, den Versicherungsstatus (GKV/PKV) der Patienten festzustellen. Es erscheint aber plausibel anzunehmen, dass die steigende Zahl von Verordnungen von Benzodiazepin-Hypnotika auf Privatrezept auch GKV-Versicherten gilt. Letztendlich basieren die Empfehlungen der AkdÄ auf der Vermutung, dass die Verordnung von Benzodiazepin-Hypnotika auf Privatrezept bei Kassenpatienten auf einen Missbrauch dieser Substanzgruppe hinweise, der durch eine solche Verordnungsweise weniger transparent und nachvollziehbar gemacht werden solle.
Benzodiazepine werden als Hypnotika und als Tranquilizer eingesetzt. In der klinischen Praxis ist oft nicht scharf zu trennen, ob ein Benzodiazepin als Schlafmittel oder als Anxiolytikum verordnet wird. In der Hand des Facharztes sind Benzodiazepine hochwirksame Medikamente, die insbesondere in der stationären (Akut-)Psychiatrie unverzichtbar sind. Sie sind sehr gut verträglich und haben eine außerordentlich große therapeutische Breite. Die Möglichkeiten des Missbrauchs und der Entstehung einer Abhängigkeit bei längerfristigem und/oder hoch dosiertem Gebrauch von Benzodiazepinen sind seit Jahrzehnten bekannt. Benzodiazepine haben andere, ältere Substanzgruppen (z.B. Barbiturate) aufgrund ihrer besseren Verträglichkeit und des geringeren Abhängigkeitspotenzials praktisch völlig verdrängt. Die Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika Zaleplon, Zopiclon und Zolpidem sind aufgrund ihrer besonderen Bindungseigenschaften an Benzodiazepinrezeptoren lediglich als Hypnotika geeignet, sie weisen keine anxiolytischen Eigenschaften auf. Jedoch entfalten auch sie ihre Wirkung über die Bindung an GABA-Benzodiazepinrezeptoren. Auch bei diesen Substanzen kommen Missbrauch und Abhängigkeit vor, allerdings ist das Risiko wahrscheinlich geringer als unter Benzodiazepinen [2, 3].
Die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) schränkt auch die Verordnung von Benzodiazepinen ein. Jedoch sind Benzodiazepine frei rezeptierbar, wenn bestimmte Substanzkonzentrationen in der jeweiligen Darreichungsform nicht überschritten werden. Die Verschreibung von Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika wird durch die BtMVV nicht reglementiert. In der klinischen Praxis wird somit die Verordnung von Benzodiazepinen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. bestimmte Zubereitungen von Midazolam als Injektionslösung, 2-mg-Dosis von Flunitrazepam), durch die BtMVV nicht eingeschränkt.
Die von der AkdÄ nun geforderte Streichung dieser dosisabhängigen Ausnahmeregelungen würde – wie das Beispiel der opiathaltigen Analgetika lehrt [4] – zu einem deutlichen Rückgang der Verordnungen von Benzodiazepinen führen, ohne dass ähnlich wirksame und gut verträgliche Alternativen zur Verfügung stehen. Zahlreichen Patienten mit psychischen Störungen, die insbesondere im akuten Krankheitsstadium enorm von der Behandlung mit diesen Substanzen profitieren, würde die beste Therapie vorenthalten. Stattdessen würden sie mit Alternativen behandelt, die weniger gut wirksam, dabei aber mit anderen, teilweise langfristigen Nebenwirkungen und Komplikationen belastet sind (Antipsychotika beispielsweise mit dem Risiko potenziell irreversibler tardiver Dyskinesien).
Es ist auch nicht einzusehen, warum die AkdÄ ihre Empfehlung auf Benzodiazepine in der Hypnotika-Indikation einschränkt. Das Risiko von Missbrauch und Abhängigkeit besteht in gleicher Weise, wenn Benzodiazepine als Anxiolytika gegeben werden. Überhaupt ist die Unterscheidung, ob ein Benzodiazepin als Hypnotikum oder als Anxiolytikum gegeben wird, sehr wirklichkeitsfremd. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, warum sich die Empfehlungen der AkdÄ nicht auch auf die Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika beziehen. Wenn auch das Risiko von Missbrauch und Abhängigkeit bei diesen Substanzen aufgrund ihres etwas anderen Rezeptorbindungsprofils wahrscheinlich geringer ist [2, 3], so ist es doch inzwischen klar dokumentiert. Zudem werden ja gerade auch die Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika zunehmend auch Kassenpatienten auf Privatrezept verordnet. Diese Beobachtung war es ja, die im Falle der Benzodiazepine zu den Empfehlungen der AkdÄ Anlass gegeben hat.
Grundsätzlich muss in Frage gestellt werden, ob die Beobachtung, dass Benzodiazepine (und Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika) zunehmend auf Privatrezept verordnet werden, zwingend zu der Schlussfolgerung der AkdÄ führen muss, dass derartige Verordnungen „Ausweichstrategien von Ärzten und Patienten … [sein könnten], um Abhängigkeiten weniger transparent und nachvollziehbar zu machen.“ Eine solche Verbindung klingt plausibel, aber sie ist nicht zwingend. Insbesondere ist sie nicht durch Daten belegt. Aus solchen Vermutungen abgeleitete Empfehlungen können durchaus sehr rasch negative Konsequenzen für Ärzte und Patienten haben. So wurde die Empfehlung der AkdÄ, „Apotheken sollten Auffälligkeiten in der Arzneimittelversorgung wie die Verschiebung der Verordnung von Arzneimitteln mit Abhängigkeitspotenzial melden“, zu einer entsprechenden Publikation auf der Homepage der „Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände“ (ABDA) mit der Aufforderung, einen Verdacht auf Missbrauch schriftlich oder online per Berichtsbogen zu melden. Leider ist zu befürchten, dass Ärzte, insbesondere aber auch Patienten, durch ein solches Denunziantentum kriminalisiert werden. Derartige Empfehlungen belasten das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt, Patient und Apotheker. Sie stellen sicher kein geeignetes Mittel dar, um sich des Problems der Benzodiazepin-Abhängigkeit verantwortungsvoll anzunehmen.
Die der AkdÄ-Empfehlung zugrunde liegende Studie [1] bietet nur indirekte Hinweise. Es bedarf einer direkten Evaluation, ob tatsächlich gesetzlich Versicherten Benzodiazepin-Hypnotika zunehmend auf Privatrezept verordnet werden und ob dies ein für Benzodiazepin-Hypnotika spezifisches Phänomen ist. Ähnliche – ebenfalls indirekte – Hinweise gibt es für Antidementiva, und hier liegen vermutlich ökonomische Gründe (Grenzen des Arzneimittelbudgets des Arztes) zugrunde. Solche Motive wären auch für Benzodiazepin-Hypnotika denkbar (auch im Sinne einer Stigmatisierung der Insomnie als nicht wirklich ernsthafte Gesundheitsstörung). Es sind aber auch umgekehrte ökonomische Motive denkbar: Im von der Studie [1] erfassten Zeitraum (1993–2004) lagen die Preise der Benzodiazepin-Hypnotika teilweise unter den vom Patienten zu leistenden Zuzahlungen, so dass es vom Patienten ökonomisch nur rational gewesen sein kann, sich das Hypnotikum zuzahlungsfrei auf Privatrezept verordnen zu lassen. Dieser ökonomische Anreiz ist mit dem GKV-Reformgesetz (in Kraft seit 2004) entfallen. Es wäre also zu prüfen, wie sich die Verordnung von Benzodiazepin-Hypnotika auf Privatrezept seit 2004 entwickelt hat.
Vor dem Hintergrund solcher methodologischer Unsicherheiten erscheint die Forderung der AkdÄ unverhältnismäßig. Allein auf der Basis von indirekten Indikatoren kann Patienten eine spezifische Therapie nicht vorenthalten werden. Darüber hinaus wäre es unangemessen, derart schwerwiegende Eingriffe in die Verordnungsfähigkeit von Benzodiazepin-Hypnotika allein aus Mutmaßungen über eine mögliche Zunahme von Missbrauch und Abhängigkeit abzuleiten. Vielmehr müsste diese Zunahme direkt bewiesen worden sein. Leider wiederum nur einen Hinweis kann liefern, dass laut Krankenhausstatistik des statistischen Bundesamtes die Krankenhausfälle (vollstationär) mit einer Hauptdiagnose aus ICD-10 F13 (Psychische und Verhaltensstörungen durch Sedativa oder Hypnotika) in den Jahren 2000 bis 2007 nicht zugenommen haben, sondern unsystematisch zwischen 8000 und 9000 (jeweils ca. 0,05% aller Krankenhausfälle) schwankten (Vergleiche mit den 90er Jahren sind wegen der Umstellung von ICD-9 auf ICD-10 nicht belastbar möglich).
Die DGPPN unterstützt nachdrücklich die – nicht wirklich neue – Empfehlung der AkdÄ, dass „Verordnungen von Arzneimitteln mit Abhängigkeitspotenzial … sorgfältig abgewogen werden [sollten]. Sie sollten streng indikationsbezogen und nur in kleinen, dem Krankheitsverlauf adäquaten Mengen erfolgen. Patienten mit bestehender Arzneimittelabhängigkeit sollten sachkundig durch einen Arzt oder eine Ärztin begleitet werden. Verordnungen durch mehrere Ärzte sollten vermieden werden, um verbrauchte Arzneimittelmengen besser kontrollieren zu können.“
Referenzen
1. Hoffmann F, Glaeske G, Scharffetter W. Zunehmender Hypnotikaverbrauch auf Privatrezepten in Deutschland. Sucht 2006;52: 360–6.
2. Hajak G, Muller WE, Wittchen HU, Pittrow D, et al. Abuse and dependence potential for the non-benzodiazepine hypnotics zolpidem and zopiclone: a review of case reports and epidemiological data. Addiction 2003;98:1371–8.
3. NICE. Assessment report: The clinical and cost-effectiveness of zaleplon, zolpidem and zopiclone for the management of insomnia (20 October 2003). (guidance.nice.org.uk/TA77http://guidance.nice.org.uk/TA77#documents).
4. Deandrea S, Montanari M, Moja L, Apolone G. Prevalence of undertreatment in cancer pain. A review of published literature. Ann Oncol 2008;19:1985–91.
Korrespondenzautor: Univ.-Prof. Dr. med. Gerhard Gründer, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der RWTH Aachen, Pauwelsstraße 30, 52074 Aachen, E-Mail: ggruender@ukaachen.de
Psychopharmakotherapie 2009; 16(02)