Pharmakologische Akutbehandlung schizophrener Psychosen bei Patienten mit schweren Rezidiven


Entwicklung 1993 bis 2004

Eugen Davids, Oberhausen, Michael Schieder, Michael Specka, Tiemo Wessels und Norbert Scherbaum, Essen

Ziel der Studie: Der Einsatz der neueren Antipsychotika in der Akutbehandlung schizophrener Psychosen ist bislang nur wenig untersucht. Ebenso gibt es wenige Untersuchungen über die medikamentöse Behandlung von schizophrenen Patienten mit wiederkehrenden, schweren Symptomen. Methodik: Analysiert wurden die Jahrgänge 1993 (n=34), 1998 (n=33) und 2004 (n=48) bei Patienten mit der Diagnose einer schizophrenen Psychose nach ICD10-Kriterien, bei denen eine erneute stationäre Aufnahme auf einer geschlossenen Akutstation innerhalb eines Jahres erforderlich wurde. Ergebnisse: Zwischen 1998 und 2004 kam es zu einer signifikant (p<0,001) gesteigerten Vergabe von Atypika sowie zu einer signifikant (p<0,001) reduzierten Verordnung von älteren Typika im Vergleich zum Jahr 1993. Die Notwendigkeit der Wiederaufnahme innerhalb eines Jahres sank nach Ende des 2. Aufenthalts innerhalb des Beobachtungsintervalls. Die Konstellation der ambulanten Zwischenbehandlung, die Symptomdarstellung (Medikamentenreduktion im Vorfeld) sowie die soziale Situation zeigten sich im Beobachtungsintervall wenig verändert. Schlussfolgerung: Es ist zu einer deutlichen Zunahme des Einsatzes von atypischen Neuroleptika in der Akutbehandlung schizophrener Psychosen innerhalb des letzten Jahrzehnts gekommen. Die Begleitkonstellation bei schweren Rezidiven schizophrener Psychosen hat sich hingegen nur wenig verändert.
Schlüsselwörter: Schizophrenie, Psychopharmaka, atypische Neuroleptika
Psychopharmakotherapie 2008;15:122–5.

Die Einführung der so genannten atypischen Antipsychotika in die pharmakologische Behandlung schizophrener Psychosen hat zu einer Erweiterung des Behandlungsspektrums geführt. Die aktuell zur Verfügung stehenden Substanzen aus dieser Gruppe sind Amisulprid, Aripiprazol, Clozapin, Olanzapin, Paliperidon, Quetiapin, Risperidon, Sertindol und Ziprasidon. Zu allen genannten Substanzen gibt es sehr viele originale Vergleichsuntersuchungen zu den älteren, so genannten typischen Neuroleptika hinsichtlich Wirksamkeit, Verträglichkeit und Nebenwirkungsspektrum. Auch zahlreiche Metaanalysen geben ein guten Überblick über die genannten vergleichenden Kriterien [1, 4, 6].

Mittlerweile gibt es auch zahlreiche Untersuchungen zum Einsatz der atypischen Antipsychotika in der pharmakologischen Akutbehandlung schizophrener Psychosen [2, 3, 10]. Sehr viel weniger ist jedoch bekannt, welche Charakteristika Patientengruppen aufweisen, die im Zeitalter der Einführung der neueren Antipsychotika Rezidive der schizophrenen Grunderkrankung erfahren haben. Es ist daher von grundsätzlichem Interesse, in welcher Form sich zum Beispiel die durchschnittliche Dauer bis zur Wiederaufnahme im Vergleich der Jahre entwickelt hat. Auch die Entwicklung von Wohnsituation, rechtlicher Grundlage bei Wiederaufnahme und anderen Begleitfaktoren ist von Bedeutung für die Bewertung der atypischen Antipsychotika innerhalb der letzten Jahre.

Zur Beantwortung dieser Fragen wurde eine retrospektive, deskriptive Studie durchgeführt, in der die Rezidive schizophrener Psychosen untersucht wurden. Der Beobachtungszeitraum lag zwischen 1993 und 2004, also in einem Zeitraum im Übergang von den älteren, herkömmlichen Präparaten zu den neueren Antipsychotika, mit Ausnahme des Clozapins, welches schon länger zur Verfügung steht. Zur kritischen Würdigung und statistischen Analyse wurden Patienten mit einer schizophrenen Psychose untersucht, die innerhalb eines Jahrs nach Entlassung aus der stationären Behandlung wieder auf eine beschützte Akutstation aufgenommen werden mussten.

Patienten und Methoden

Die vorliegende Untersuchung wurde an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Duisburg-Essen, Rheinische Kliniken Essen, durchgeführt. Erhebungszeiträume waren 1993, 1998, und 2004 (jeweils 1. Januar bis 31. Dezember) bei Patienten mit der Diagnose einer schizophrenen Psychose nach ICD-10-Kriterien (ICD-10: F20.x) [15], bei denen eine erneute stationäre Aufnahme auf einer geschlossenen Akutstation innerhalb eines Jahrs erforderlich wurde. In die Untersuchung wurden n=34 (1993), n=33 (1998) und n=48 (2004) Patienten eingeschlossen. Die Komorbidität wurde ebenfalls anhand der ICD-10-Kriterien erfasst. Die Aufnahme auf eine beschützte (geschlossene) Akutstation wurde als Kriterium für ein schweres Rezidiv gewertet, Wiederaufnahmen auf offene Stationen wurden nicht in die Untersuchung eingeschlossen. Für diese Jahre wurde die Medikation sämtlicher aus dem stationären Bereich entlassener Patienten dokumentiert. Die Dokumentation erfolgte mit Hilfe der standardisierten psychiatrischen Basisdokumentation und einer kategorisierten Überprüfung jeder Krankenakte.

Die statistische Auswertung erfolgte mit Hilfe von SPSS (Version 13.0.1). Die Ergebnisdarstellung erfolgt überwiegend in der Präsentation prozentualer Veränderungen im Jahresvergleich. Signifikanztests für verbundene Stichproben wurden überwiegend mit dem McNemar-Test durchgeführt, Interferenzstatistiken mit der einfaktoriellen Varianzanalyse oder dem Chi-Quadrat-Test, die detaillierte statistische Auswertungsform ist im jeweiligen Ergebnisteil dargelegt.

Ergebnisse

Die Studienpopulation ist in Tabelle 1 dargestellt. Der Mittelwert des Alters lag bei Behandlungsbeginn bei 38,4 Jahren, in der Interferenzstatistik mittels einfaktorieller Varianzanalyse ergab sich kein signifikanter Unterschied zwischen den einzelnen Jahrgängen (p=0,331). Ebenso ergaben sich hinsichtlich der Wohnsituation bei Aufnahme/Wiederaufnahme keine interferenzstatistischen Signifikanzen (Chi-Quadrat-Test, p=0,115). Komorbide Störungen waren in allen drei Jahrgängen vorwiegend substanzbezogene Störungen, hierbei wiederum zumeist Alkohol- und Cannabis-assoziierte Störungen (zwischen 9 und 21%). Bei allen komorbiden substanzbezogenen Störungen ergaben sich keine signifikant statistischen Unterschiede zwischen den Jahrgängen. Ebenso ergab sich für keine der sonstigen (nicht substanzbezogenen) Störungen eine statistische Signifkanz zwischen den analysierten Jahrgängen. Die Aufenthaltsdauer sank im Vergleich der Untersuchungsjahre (Tab. 2).

Zwischen 1998 und 2004 kam es zu einer signifikant (p<0,001) gesteigerten Vergabe von Atypika sowie zu einer signifikant (p<0,001) reduzierten Verordnung von älteren Neuroleptika im Vergleich zum Jahr 2003. Dabei übersteigt der Anteil der Atypika in den Jahren 1998 und 2004 den Anteil an Typika deutlich. Darüber hinaus nahm der Anteil an mittel- bis niedrigpotenten Neuroleptika von 1993 bis zu den Jahren 1998 und 2004 deutlich ab; hingegen stieg der Einsatz von Antidepressiva, Stimmungsstabilisierern und Benzodiazepinen (Tab. 3).

Ambulante Zwischenbehandlungen wurden in den Indexjahren 1993 (82,4%), 1998 (81,3%) und 2004 (81,3%) zu einem gleichbleibend hohen Prozentsatz wahrgenommen, jeweils etwa 18% nahmen zwischen den Aufenthalten keine ambulanten Hilfen wahr. Eine statistische Signifikanz ergab sich zwischen den Jahren nicht. Ebenso lag in allen drei Jahren der Anteil der Patienten mit Symptomzunahme infolge von Absetzen/Reduktion der Medikation etwa vergleichbar bei 40% und zeigte keine signifikanten Unterschiede. Der in der Basisdokumentation erfasste Sozialstatus in Bezug auf berufliche und persönliche Situation unterschied sich in den Indexjahren ebenfalls nicht signifikant.

Für die einzelnen pharmakologischen Substanzklassen wurde weiterhin eine separate Analyse für die Wiederaufnahmesituation durchgeführt. Innerhalb aller drei Jahrgänge zeigte der McNemar-Test für keine Stoffgruppe eine interferenzstatistisch signifikante Tendenz zu häufigerer oder seltenerer Verordnung vom ersten zum zweiten Aufenthalt (alle p mindestens >0,125). Allerdings sind durch die getrennte Berechnung für die drei Jahrgänge die Fallzahlen vergleichsweise gering. Wird für jeden Stoff pro Person eine neue dreistufige Variable gebildet, welche die individuellen Veränderungen repräsentiert (beispielsweise: „Keine Verordnung Atypika beim 1., jedoch beim 2. Aufenthalt/Keine Veränderung bei der Atypika-Verordnung/Verordnung Atypika beim 1., aber nicht mehr beim 2. Aufenthalt“) und diese über die Jahrgänge verglichen, so ergibt sich kein inferenzstatistisch signifikanter Zusammenhang (Chi-Quadrat-Tests, alle p mindestens >0,146). Zusammenfassend war demnach kein inferenzstatistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem Jahr der Erstaufnahme und den Veränderungen bei den einzelnen Substanzen vom ersten zum zweiten Aufenthalt nachweisbar.

Über die Jahre des Beobachtungsintervalls kam es bei der Notwendigkeit einer Wiederaufnahme und einer insgesamt sinkenden Aufenthaltsdauer in Tagen zu einer Abnahme der Häufigkeit einer erneuten Aufnahme seit der Entlassung nach dem zweiten Aufenthalt (1993 > 1998 > 2004).

Diskussion

Die vorliegende Studie stellt eine Analyse von Patienten mit schweren Rezidiven schizophrener Psychosen dar. Dazu wurden Patienten aus den Jahren 1993, 1998 und 2004 untersucht, die innerhalb eines Jahres auf eine beschützte Akutstation wieder aufgenommen werden mussten.

Zusammenfassend ergibt sich eine Tendenz zum vermehrten und frühzeitigen Einsatz von neueren Antipsychotika bei der Behandlung akuter psychotischer Krankheitsepisoden mit gegenläufiger Abnahme von älteren typischen hoch-, mittel- und niedrigpotenten Neuroleptika. Diese Ergebnisse stellen sich in ähnlich konzipierten Untersuchungen vergleichbar dar [3, 5–8, 10–12, 14]. Keine signifikanten Unterschiede ergaben sich im Beobachtungsjahrzehnt hinsichtlich der Situation der ambulanten Zwischenbehandlung, der Symptomkonstellation (Absetzen/Reduktion der Medikamente im Vorfeld) bei Wiederaufnahme und dem Sozialstatus zwischen den Aufenthalten. Es ergab sich eine leichte Abnahme der Häufigkeit der erneuten Aufahme nach dem zweiten Aufenthalt innerhalb der beobachteten Indexjahre.

Aus den hier erhobenen Daten lassen sich somit keine sehr großen Unterschiede innerhalb des beobachteten Jahrzehnts ableiten. Hinzuweisen ist darauf, dass in der vorliegenden Untersuchung lediglich Zusammenhänge zwischen Medikamenteneinsatz und unterschiedlichen Faktoren bewertet wurden. Alle übrigen Komponenten in der Schizophreniebehandlung wie die allgemeinen Betreuungsbedürfnisse schizophrener Patienten im Jahr nach der Klinikentlassung, wie sie in anderen Studien dargestellt sind, wurden in der hiesigen Untersuchung nicht berücksichtigt [9]. Auch die Frührehabilitation und Psychotherapie dieser Patientengruppe floss nicht in die Auswertung ein [13]. Methodisch ist anzumerken, dass in der Analyse die Zahl der zur Verfügung stehenden neueren Antipsychotika während des Untersuchungszeitraums zugenommen hat, also nicht identisch für die drei Jahrgänge gewertet werden kann (1993 stand in Deutschland bis auf Clozapin noch keines der so genannten Atypika zur Verfügung).

Eine weitere Einschränkung im Studiendesign stellt die monozentrische Erhebung dar. Ebenso wurden die Daten retrospektiv erhoben. Für zukünftige Untersuchungen wäre eine größere Fallzahl durch eine prospektive multizentrische Erhebung mit differenzierterer Erfassung der angewandten Präparate und Einschluss ambulanter Patienten wünschenswert.

Zusammenfassend zeigte die Analyse der Verordnungsstrategien psychopharmakologischer Medikation bei an einer schizophrenen Psychose erkrankten stationären Patienten in den Jahren eine signifikante Zunahme der Verschreibungshäufigkeit der atypischen Neuroleptika bei einer zugleich nur wenig veränderten Wiederaufnahmesituation bei schweren Rezidiven.

Hinweis

Die vorliegende Arbeit enthält Ergebnisse der Dissertationsarbeit von M. Schieder.

Tab. 3. Verordnung nach Substanzklassen (Mehrfachnennung möglich)

Substanzklasse

1993 [%]

1998 [%]

2004 [%]

p

Atypika

38

79

83

<0,001

Hochpotente Neuroleptika

74

24

35

<0,001

Mittelpotente Neuroleptika

59

24

31

0,007

Antidepressiva

18

24

27

0,004

Stimmungsstabilisierer

12

12

23

0,295

Benzodiazepine

3

9

13

0,317

Hypnotika

3

9

19

0,075

Supportiva

21

36

31

0,345

Sonstige

3

2

2

0,636

Tab. 1. Studienpopulation

Erhebungszeitraum

n

[%]

Geschlecht [%]

Männl.

Weibl.

1993

34

29

58

42

1998

33

28

63

37

2004

48

41

58

42

Gesamt

115

100,0

59

41

Tab. 2. Aufenthaltsdauer in Tagen

Aufenthaltsdauer [Tage]

Erhebungszeitraum

Mittelwert

±

Median

Min.

Max.

1993 (n=34)

51,9

54,4

30

1

253

1998 (n=33)

65,1

73,3

38

2

315

2004 (n=48)

36,4

37,7

29

2

208

Insgesamt

(n=115)

49,2

55,6

30

1

315

Der Vergleich über die Jahre wurde mithilfe des rangbasierten Kruskal-Wallis-H-Tests durchgeführt (p=0,307). Die höheren durchschnittlichen Aufenthaltsdauern 1993 und vor allem 1998 gegenüber 2004 basieren vor allem auf einigen Fällen mit besonders langen Aufenthalten.

Tab. 4. Aufnahmenotwendigkeit innerhalb 1 Jahres nach Ende des 2. Aufenthalts (Interferenzstatistik: Chi-Quadrat-Test, p=0,895)

Erneute Aufnahme innerhalb 1 Jahres

Gesamt

Ja

Nein

[n]

[%]

[n]

[%]

[n]

[%]

Jahr

1993

18

52,9

16

47,1

34

100,0

1998

16

48,5

17

51,5

33

100,0

2004

23

47,9

25

52,1

48

100,0

Gesamt

57

49,6

58

50,4

115

100,0

Pharmacological treatment in schizophrenic patients with severe relapses – development between 1993 and 2004

Introduction: The aim of the study was to investigate antipsychotic treatment strategies in schizophrenic patients with severe relapses in a German university hospital.

Methods: Documented pharmacological procedures of acute episodes of schizophrenia in the years 1993 (n=34), 1998 (n=33) and 2004 (n=48) were analyzed. Patients with severe relapses inbetween one year were included in the study.

Results: Atypical antipsychotics were significantly more frequently used in 2004 compared to 1998 (p<0.001). The necessity of re-entry in the hospital was reduced slightly during the interval. Constellation of ambulant interval treatment, symptom constellation before re-entry and social constellation changed only marginally during the study period.

Conclusion: There is a significant increase in the usage of second generation atypicals in acute schizophrenic patients. The constellation of re-entry has only rarely changed in the documented 10 year interval.

Keywords: Schizophrenia, atypical antipsychotics, psychopharmacology

Psychopharmakotherapie 2008; 15(03)