Fahrsimulation und psychomotorische Leistungsfähigkeit depressiver Patienten unter Reboxetin und Mirtazapin


Alexander Brunnauer, Wasserburg, Gerd Laux, München/Wasserburg, Irmgard David, Elisabeth Geiger, Sandra Weigenand und Mirijam Fric, Wasserburg

Stationär behandelte depressive Patienten wurden randomisiert einer Gruppe, die entweder mit Reboxetin (n=20) oder Mirtazapin (n=20) behandelt wurde, zugeteilt. Die Untersuchung fahrtüchtigkeitsrelevanter Leistungsparameter erfolgte vor medikamentöser Behandlung sowie nach sieben und nach 14 Tagen. Zum Einsatz kamen das computergestützte Act & React Testsystem (ART 90) und das Wiener Testsystem (WTS), mit denen visuelle Wahrnehmungsleistung, Reaktionsfähigkeit, Stresstoleranz, Konzentrationsfähigkeit und Vigilanz gemessen wurden. Zudem absolvierten die Patienten verschiedene Risikosimulationen an einem Fahrsimulator (FT-SR 200). Ergebnisse: Beide Behandlungsgruppen verbesserten sich bereits in dem 14-tägigen Behandlungsintervall signifikant hinsichtlich Reaktionsfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit sowie Belastbarkeit. In der Risikosimulation am Fahrsimulator kam es zudem zu einem signifikanten Rückgang der Unfallhäufigkeit. Statistisch bedeutsame Unterschiede zwischen den beiden Behandlungsgruppen ergaben sich nicht. Schlussfolgerung: Die Fahrtüchtigkeit eines unter Reboxetin oder Mirtazapin zum Teil remittierten Patienten ist als günstiger einzuschätzen als die eines unbehandelten depressiven Patienten.
Schlüsselwörter: Fahrtauglichkeit, Antidepressiva, Fahrsimulation
Psychopharmakotherapie 2007;14:157–62.

Hintergrund

Neuropsychologische Beeinträchtigungen wie psychomotorische Verlangsamung, Einschränkungen des Gedächtnisses und der Exekutivfunktionen sind eine häufige Begleiterscheinung der Depression [1, 21, 28], die sich auf unterschiedliche Bereiche des alltäglichen Lebens, wie beispielsweise die Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr, negativ auswirken können. Zudem können sedierende Effekte, wie sie bei manchen Antidepressiva zu beobachten sind, ebenfalls zu einer Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit führen. Basierend auf einer Metaanalyse über 62 Studien zu Verkehrssicherheit und Krankheit weist Vaa [24] auf ein fast zweifach erhöhtes Unfallrisiko psychisch kranker Personen hin. Ray et al. [18] konnten belegen, dass das Unfallrisiko für ältere Fahrer unter Behandlung mit Trizyklika um ein 2,2faches erhöht ist. Die Einnahme von Amitriptylin mit einer Tagesdosis ≥125 mg steigerte das Risiko sogar um das 6fache.

Die meisten der bisher erhältlichen Antidepressiva sind in ihrer therapeutischen Effektivität weitgehend vergleichbar, so dass bei der Auswahl in erster Linie das Nebenwirkungsprofil ausschlaggebend ist [15]. Dabei scheinen nichtsedierende Antidepressiva im Allgemeinen die Fahrtüchtigkeit nicht zu beeinflussen, wohingegen die Kombinationstherapie mit Benzodiazepinen mit inkompatiblem pharmakologischem Profil eine erhebliche Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit zur Folge hat [16]. Auswirkungen der pharmakologischen Behandlung auf die Fahrtüchtigkeit wurden bisher vorwiegend an gesunden Probanden untersucht [Übersicht in 13]. Studien zur Fahrtüchtigkeit von Patienten unter einer klinisch relevanten Dosis antidepressiver Medikation existieren nur wenige. Sowohl Laboruntersuchungen [3, 4, 8] als auch Ergebnisse von realen Fahrproben [27] weisen auf Beeinträchtigungen der Verkehrssicherheit depressiver Patienten unter pharmakologischen Steady-State-Bedingungen und weitgehender Remission der psychopathologischen Symptomatik hin. Vor allem neuere, selektive Antidepressiva zeichnen sich hierbei durch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil im Vergleich zu Trizyklika aus [3, 4]. Die Ergebnisse der bisherigen klinischen Untersuchungen lassen jedoch keine ursächlichen Rückschlüsse auf pharmakologische Effekte zu, da Untersuchungen vor Beginn der pharmakologischen Behandlung fehlen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bisher nur wenige Patientenstudien zu Fragen der Verkehrssicherheit unter antidepressiver Medikation existieren. Zudem lassen die Untersuchungen keine ursächlichen Rückschlüsse auf pharmakologische Effekte zu, da die Patienten nicht vor Beginn der medikamentösen Behandlung untersucht wurden. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war zu klären, (1) ob sich bei stationär behandelten depressiven Patienten im Vergleich zur unbehandelten Akutphase durch eine Medikation mit den selektiven Antidepressiva Reboxetin (z.B. Solvex®) und Mirtazapin (z.B. Remergil®) positive Effekte auf psychomotorische Funktionen und die Leistungen im Fahrsimulator nachweisen lassen. (2) Des Weiteren sollte überprüft werden, ob sich zwischen den beiden selektiven Antidepressiva Unterschiede in ihren Auswirkungen auf die Fahrtüchtigkeit ergeben.

Gemäß den Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung der Bundesanstalt für Straßenwesen [6] wurden psychomotorische Funktionen gemessen, die als relevant für die Einschätzung der Fahrtüchtigkeit gelten.

Patienten und Methoden

In die Stichprobe eingeschlossen wurden 40 depressive Patienten des Inn-Salzach-Klinikums im Alter zwischen 28 und 69 Jahren (22 Männer, 18 Frauen). Alle Personen wurden vor Beginn der medikamentösen Behandlung (t0) sowie nach sieben (t1) und 14 Tagen (t2) untersucht. Die Patienten wurden randomisiert jeweils einer Gruppe, die entweder mit Reboxetin (n=20) oder mit Mirtazapin (n=20) behandelt wurde, zugeteilt. Im Durchschnitt vergingen fünf Tage zwischen Aufnahme und Beginn der medikamentösen Behandlung. Die einzig erlaubte Bedarfsmedikation vor Beginn der regulären pharmakologischen Behandlung waren ein bis zwei Dosierungen Lorazepam. Zum ersten Untersuchungszeitpunkt (t0) waren alle Patienten medikamentenfrei. Die durchschnittlich verabreichte Tagesdosis der beiden Substanzgruppen zu den Untersuchungszeitpunkten t1 und t2 ist in Tabelle 1 aufgeführt. Die Klassifizierung erfolgte nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10).

Tab. 1. Durchschnittlich verabreichte Tagesdosis (mg/d)

Reboxetin (n=20)

Mirtazapin (n=20)

Tag 7 (t1)

Tag 14 (t2)

Tag 7 (t1)

Tag 14 (t2)

Mittelwert (Standardabweichung)

4,5 (1,4)

6,6 (1,9)

30,0 (0,0)

38,2 (9,0)

Spannweite

2–8

2–8

0

30–60

Psychopathologie

Nach schriftlicher Einverständniserklärung zur Teilnahme an der Studie erfolgte an den Untersuchungstagen eine Einschätzung der aktuellen psychopathologischen Symptomatik anhand der Hamilton-Depressionsskala (HAMD) durch den jeweils behandelnden Kollegen. Zudem wurden subjektiv erlebte depressive Symptome mit dem Beck-Depressions-Inventar (BDI) erfasst.

Psychomotorische Leistungsfähigkeit

Zur Quantifizierung der psychomotorischen Leistungsparameter kamen das computergestützte Act & React Testsystem – ART 90 (Kuratorium f. Verkehrssicherheit) [12] sowie das Wiener Testsystem – WTS (Fa. Schuhfried) [22] zum Einsatz. In verschiedenen verkehrspsychologischen Untersuchungen wurden die hohe Reliabilität und Validität dieser Messinstrumente bestätigt [5, 11]. In Anlehnung an die Fahrerlaubnisverordnung (FeV) erfolgte eine Untersuchung der Funktionsbereiche visuelle Wahrnehmungsleistung, Konzentrationsfähigkeit, Vigilanz, Reaktionsfähigkeit und Belastbarkeit.

Die visuelle Orientierungsleistung wurde mit dem Tachistoskoptest (TT15) gemessen. Beim TT15 müssen zu tachistoskopisch (Darbietungsdauer 0,75 s) vorgegebenem Bildmaterial mit typischen Verkehrssituationen Multiple-Choice-Fragen beantwortet werden.

Reaktionsfähigkeit und Belastbarkeit wurden mit dem RST3 gemessen. In drei vom Interstimulusintervall (ISI) her unterschiedlichen Subtests (ISI-Phase I=1,58 s; Phase II=0,95 s und Phase III=1,07 s) werden jeweils 180 Farb-, Ton- und Lichtstimuli präsentiert; auf diese ist mit Fußpedalen sowie Farb- und Ton-Reaktionstasten zu reagieren.

Die Leistungsbereiche Aufmerksamkeit und Konzentration wurden mit zwei Subtests untersucht. Der Vigilanztest (VIGIL) erfordert die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit unter Monotoniebedingungen. Über einen Zeitraum von 25 Minuten sind auf einer Kreisbahn Unregelmäßigkeiten in einer Bewegungsabfolge zu erkennen. Es werden 100 kritische Reize ausgegeben, auf die mit Tastendruck zu reagieren ist. Die Aufmerksamkeitsteilung wurde mit dem Peripheren Wahrnehmungstest (PVT) gemessen. Dieser Test erfordert die Bearbeitung einer Tracking-Aufgabe sowie das gleichzeitige Beachten peripherer visueller Information. Die Aufgabe besteht darin, so schnell wie möglich eine Fußtaste zu betätigen, wenn ein kritischer Reiz (Target) zu sehen ist.

Fahrsimulator

Des Weiteren kam ein statischer Fahrsimulator (FT-SR 200) mit verschiedenen Realbildaufnahmen von Verkehrssituationen zum Einsatz. Der Patient sitzt in einem Original-Autocockpit vor einem Monitor. Informationen über Lenkbewegung, Bremsbetätigung und Geschwindigkeit werden über einen Computer aufgezeichnet. Verschiedene Risiko- und Übungssimulationen, auf die der Patient reagieren muss, können vom Versuchsleiter eingespielt werden. Die Simulation wird ergänzt durch akustische Effekte, wie Motorengeräusche.

Um sich mit der Bedienung des Fahrsimulators vertraut zu machen, absolvierten die Patienten in einer Eingewöhnungsphase eine etwa fünfminütige, simulierte Überlandfahrt mit unterschiedlichen Geschwindigkeitsanforderungen. Hieran schloss sich die Untersuchungsphase mit vier verschiedenen Risikosimulationen an. Als kritische Variable ging die Anzahl an Unfällen in die Auswertung ein. Der Fahrsimulator wurde zu den Testzeitpunkten t0 und t2 eingesetzt.

Statistische Analyse

Die Inferenzstatistik mittels Wilcoxon-Test und Mann-Whitney-U-Test sowie Varianzanalysen mit Messwiederholungen erfolgten mit dem Statistikprogramm SPSS (Statistical Package for the Social Sciences, Version 11.5; SPSS Inc., Chicago 2002).

Ergebnisse

Der Vergleich der soziodemographischen Daten ergab keine statistisch bedeutsamen Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen (Tab. 2). Im Bereich der psychomotorischen Leistungstests unterschieden sich die beiden Behandlungsgruppen signifikant zu t0 mit tendenziell besseren Leistungen in der Reboxetin-Gruppe in den Bereichen Konzentrationsfähigkeit (F1,38=4,40, p<0,05) und Vigilanz (F1,38=9,52, p<0,01) – siehe Tabelle 3. Aufgrund der Unterschiede in der Baseline-Messung wurden die nachfolgenden Analysen der psychomotorischen Leistungstests mit den Differenzwerten zwischen den Messzeitpunkten (t0–t1 und t1–t2) gerechnet.

Tab. 2. Klinische und soziodemographische Daten

Reboxetin
(n=20)

Mirtazapin
(n=20)

Statistische Signifikanz

Alter [Jahre]

45,3 (5,7)

49,25 (10,5)

n.s.

Geschlecht (M/F)

11/9

11/9

n.s.

Diagnosen [n]
Mittelgradige depressive Episode (F32.1)
Schwere depressive Episode (F32.2)


14
6


15
5


n.s.
n.s.

Ausbildung [Jahre]

10,0 (0,0)

10,7 (1,9)

n.s.

Zeit seit Aufnahme [Tage]

6,7 (5,3)

6,3 (5,8)

n.s.

HAMD (t0)

22,6 (6,5)

24,2 (6,7)

n.s.

BDI (t0)

27,4 (11,6)

22,7 (9,7)

n.s.

HAMD=Hamilton-Depressionsskala; BDI=Beck-Depressions-Inventar; n.s.=nicht signifikant

Tab. 3. Rohwerte der Leistungsuntersuchung (Mittelwerte und Standardabweichungen) und Ergebnisse der univariaten Analysen mit Messwiederholungen (F-Werte)

Reboxetin (n=20)

Mirtazapin (n=20)

Statistik (F-Werte)

Funktionsbereiche

t0

t1

t2

t0

t1

t2

Zeit

Zeit x Gruppe

Gruppe

Visuelle Wahrnehmung

32,1 (3,0)

32,4 (3,4)

33,7 (3,9)

29,9 (4,1)

32,1 (4,9)

32,5 (5,7)

0,15

1,77

1,12

Konzentration

2,2 (0,7)*

1,9 (0,4)

1,8 (0,4)

2,7 (0,9)*

2,3 (0,7)

2,2 (0,8)

29,85***

0,19

2,48

Reaktionsfähigkeit

4,5 (5,5)

1,8 (1,6)

1,5 (3,3)

3,1 (3,9)

1,9 (2,5)

1,8 (3,2)

5,65*

1,39

0,40

Belastbarkeit I

32,8 (23,9)

19,1 (21,2)

17,1 (24,3)

27,2 (20,2)

17,6 (20,5)

11,7 (13,7)

7,15**

1,88

0,01

Belastbarkeit II

16,7 (19,9)

10,6 (12,5)

7,8 (14,1)

16,6 (16,7)

11,8 (16,5)

6,9 (8,8)

0,32

0,45

0,06

Vigilanz

1,7 (0,9)**

1,6 (0,7)

1,4 (0,7)

3,0 (1,6)**

2,2 (1,4)

2,0 (0,9)

1,09

1,53

2,91

*p<0,05; **p<0,01; ***p<0,001

Psychopathologie

Signifikante Verbesserungen affektiver Symptome über den Untersuchungszeitraum (t0–t2) zeigten sich in der Fremdbeurteilung (HAMD) sowohl bei Patienten unter Mirtazapin (p<0,001; z=–3,74) als auch unter Reboxetin (p<0,01; z=–3,07). Dieses Ergebnis bildete sich ebenfalls in der Selbsteinschätzung depressiver Symptome anhand des BDI ab, der inhaltlich mehr auf die kognitive Symptomatik fokussiert. Sowohl bei mit Mirtazapin (p<0,01; z=–3,28) als auch mit Reboxetin (p<0,001; z=–3,62) behandelten Patienten kam es zu einem deutlichen Rückgang des Schweregrads der depressiven Symptomatik. Der Vergleich der beiden Behandlungsgruppen ergab keine statistisch bedeutsamen Unterschiede.

Globaler Fahrtüchtigkeitsscore

In einem ersten Analyseschritt wurde gemäß den Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung der Bundesanstalt für Straßenwesen (bast) [6] ein Testergebnis mit einem altersunabhängigen Prozentrangwert <16 als auffällig bewertet. Zusätzlich wurde in Anlehnung an vergleichbare Untersuchungen [2, 4] eine Einteilung vorgenommen in

moderate Beeinträchtigung, das heißt, in bis zu 40% der Testvariablen wurde ein Prozentrang <16 nicht erreicht, sowie

schwerwiegende Beeinträchtigung – in mehr als 40% der Variablen wurde der kritische Schwellenwert unterschritten.

Legt man diese Beurteilungskriterien zugrunde, erfüllten etwa 63% der unbehandelten Patienten zu t0 nicht die gesetzlichen Mindestanforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 (<3,5 t).

Nach dem 14-tägigen Behandlungsintervall konnten sowohl in der mit Reboxetin behandelten Patientengruppe (p<0,01; z=–3,12) als auch unter Mirtazapin (p<0,001; z=–3,56) signifikante Verbesserungen in dem globalen Fahrtüchtigkeitsscore beobachtet werden. Abbildung 1 fasst die Ergebnisse der Kriteriumsbeurteilung in den beiden Behandlungsgruppen zusammen. Statistisch bedeutsame Unterschiede zwischen den Patientengruppen ergaben sich nicht.

Abb. 1. Globaler Fahrtüchtigkeitsscore

Psychomotorische Leistungsparameter

Die Ergebnisse der Varianzanalyse mit Messwiederholungen auf Ebene der einzelnen Funktionsbereiche sind in Tabelle 3 dargestellt. In beiden Behandlungsgruppen zeigten sich signifikante Steigerungen in den meisten Leistungsbereichen. Vor allem in Tests zur Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit sowie Belastbarkeit verbesserten sich beide Patientengruppen. Interaktionseffekte (Gruppe × Zeit), die als Hinweis für Pharmaka-differenzielle Effekte gewertet werden können, ergaben sich nicht.

Fahrsimulator

Die Ergebnisse der Fahrsimulation, bei der verschiedene Risikosituationen bewältigt werden mussten, sind in Abbildung 2 dargestellt. Es zeigte sich auch in der Risikosimulation ein signifikanter Rückgang in der Unfallhäufigkeit von t0 auf t2 unter Reboxetin (p<0,05; z=–2,23) und unter Mirtazapin (p<0,05; z=–1,97) ohne signifikante Gruppenunterschiede.

Abb. 2. Fahrsimulation – Unfallhäufigkeit [%]

Diskussion

Das Ziel pharmakologischer Behandlungsstrategien ist, eine lang anhaltende Remission der Symptomatik zu erreichen, die es dem Patienten ermöglicht, an Aktivitäten des täglichen Lebens teilzunehmen. Dem Individualverkehr kommt aufgrund steigender Mobilitätsanforderungen und Mobilitätsbedürfnisse in unserer Gesellschaft ein hoher Stellenwert zu. Nicht selten hängt der Erfolg von Wiedereingliederungsmaßnahmen davon ab, ob entsprechende Angebote selbstständig erreicht werden können. Fragen zur Verkehrssicherheit unter psychopharmakologischer Behandlung gewinnen vor diesem Hintergrund und auch im Hinblick auf die zunehmende Sensibilisierung der Öffentlichkeit immer mehr an Bedeutung.

Das zentrale Ergebnis der Studie ist, dass sich sowohl die Behandlung mit Reboxetin als auch mit Mirtazapin in dem untersuchten Patientenkollektiv positiv auf die Fahrtüchtigkeit auswirkte. Vor Beginn der medikamentösen Behandlung erfüllten 63% der depressiven Patienten nicht die gesetzlichen Mindestanforderungen zum Führen eines Kraftfahrzeugs. Bereits nach der zweiten Behandlungswoche war in beiden Behandlungsgruppen sowohl eine signifikante Verbesserung der affektiven Symptomatik als auch eine deutliche Steigerung in den Bereichen Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit sowie Belastbarkeit zu beobachten; zudem konnte ein Rückgang der Unfallhäufigkeit am Fahrsimulator gezeigt werden. Hinweise auf unterschiedliche Einflüsse der verwendeten Antidepressiva ergaben sich nicht.

Depressive Erkrankungen gehen mit einer Vielzahl neuropsychologischer Auffälligkeiten einher, die teilweise auch nach Remission der affektiven Symptomatik fortbestehen können. Vor allem Beeinträchtigungen der längerfristigen Aufmerksamkeitszuwendung sind möglicherweise ein Charakteristikum (Trait-Marker) der Erkrankung [25]. Dies könnte zum Teil die geringe Verbesserung in beiden Patientengruppen in der Vigilanztestung erklären. Weder unter Reboxetin noch unter Mirtazapin verbesserten sich die Patienten über den Behandlungszeitraum von 14 Tagen signifikant in diesem Funktionsbereich.

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie stehen im Einklang mit Untersuchungen mit gesunden Kontrollpersonen [9, 19, 20, 26] und Patientenstudien [3, 4, 14], in denen gezeigt wird, dass neuere, selektive Antidepressiva sich nicht negativ auf die Verkehrssicherheit auswirken.

Reboxetin zeichnet sich durch eine hohe Selektivität der Modulation der noradrenergen gegenüber der serotonergen Übertragung aus. Mirtazapin weist demgegenüber eine starke Hemmwirkung auf den postsynaptischen Histamin-H1-Rezeptor auf; dieser Mechanismus wird mit den sedierenden Eigenschaften des Präparats in Zusammenhang gebracht. In verschiedenen Studien konnte kein negativer Einfluss von Reboxetin auf kognitive und psychomotorische Leistungen Gesunder nachgewiesen werden [10, 23]. Bei depressiven Patienten führte Reboxetin zudem zu einer positiven Modulation der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und Vigilanz [7].

Unter Mirtazapin zeigten sich unter Einmalgabe Einschränkungen in psychomotorischen Leistungstests [20, 26]. Dies war jedoch nicht der Fall, wenn die Medikation als nächtliche Dosis verabreicht oder eine Woche lang gegeben wurde [17, 26]. Bei weitgehend remittierten depressiven Patienten konnte unter pharmakologischen Steady-State-Bedingungen sogar ein Vorteil des noradrenergen und spezifisch serotonergen Antidepressivums (NaSSA) Mirtazapin gegenüber Trizyklika und selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern – Citalopram und Paroxetin – gezeigt werden [4].

Sowohl unter Reboxetin als auch unter Mirtazapin kam es in den fahrtüchtigkeitsrelevanten Parametern zu deutlichen Leistungssteigerungen. Unterschiede zwischen den beiden Substanzgruppen waren nicht zu beobachten. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass alle Patienten Mirtazapin als Abendmedikation erhielten, also in der Nacht vor der Leistungsuntersuchung. Zu t1 hatten die Patienten das Medikament bereits eine Woche erhalten. Dies mag ausschlaggebend für das günstige Resultat von Mirtazapin gewesen sein und bestätigt Ergebnisse, die keine negativen Auswirkungen auf die Fahrtüchtigkeit bei längerfristiger Verabreichung oder unter Berücksichtigung des Verordnungszeitpunkts belegen konnten [4, 17, 26].

Nicht zuletzt sollen Einschränkungen erwähnt werden; diese sind ein möglicher Selektionsbias sowie die fehlende Kontrolle von Retesteffekten. In die Studie konnten nur Patienten eingeschlossen werden, die in unbehandeltem Zustand an einer etwa 90-minütigen Untersuchung teilnehmen konnten. Es bleibt zu überprüfen, inwiefern diese Ergebnisse auf kognitiv stärker beeinträchtigte Patienten übertragbar sind. Des Weiteren konnten in dem vorliegenden Studiendesign durch das Fehlen einer gesunden Kontrollgruppe Übungseffekte nicht kontrolliert werden. Diese sind bei der Bewertung der Veränderungen in den psychomotorischen Leistungsparametern zu berücksichtigen.

Aus der Zusammenschau der gegenwärtigen Studienliteratur sowie den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung lässt sich ableiten, dass die Fahrtüchtigkeit eines unter Reboxetin oder Mirtazapin zum Teil remittierten Patienten als günstiger einzuschätzen ist als die eines unbehandelten depressiven Patienten. Die Bewertung eines Antidepressivums kann, wie die vorliegenden Ergebnisse zeigen, nicht vorrangig auf Basis der sedierenden Eigenschaften eines Präparats vorgenommen werden. Die experimentellen Daten belegen, dass neben der Verordnungsdauer und den damit zu erwartenden Adaptationsmechanismen auch der Einnahmezeitpunkt entscheidend bei der Bewertung der Substanz in Bezug auf die Verkehrssicherheit ist.

Die vorliegenden Ergebnisse haben darüber hinaus wichtige Implikationen für die Einschätzung des Risikopotenzials neuerer selektiver Antidepressiva im Rahmen gesetzlicher Verordnungen. Bei der Bewertung des Gefährdungspotenzials dieser Substanzgruppe scheinen weit weniger die pharmakologischen Effekte als vielmehr morbogene Faktoren zu berücksichtigen zu sein. Die Beratung und Aufklärung von Patienten muss aus diesem Grund individuell erfolgen, unter besonderer Berücksichtigung des Krankheitsbilds einschließlich neuropsychologischer Funktionen, Pharmaka-differenzieller Aspekte sowie beruflicher und sozialer Wiedereingliederungsbemühungen.

Diese Studie wurde mit finanziellen Mitteln der Fa. Merz Pharmaceuticals GmbH unterstützt.

Danksagung

Wir danken Frau Michaela Wende und Frau Brigitte Peter für ihre Mitarbeit bei diesem Projekt.

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Dr. Alexander Brunnauer, Inn-Salzach-Klinikum, Abteilung Neuropsychologie, 83512 Wasserburg a. Inn, E-Mail: Alexander.Brunnauer.Alexander@gabersee.de
Prof. Dr. Gerd Laux, Inn-Salzach-Klinikum, Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie, 83512 Wasserburg a. Inn, Psychiatrische Universitätsklinik, Ludwig-Maximilians-Universität, 80336 München Irmgard David, Elisabeth Geiger, Sandra Weigenand, Dr. Mirijam Fric, Inn-Salzach-Klinikum, Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie, 83512 Wasserburg a. Inn


Driving simulator performance and psychomotor function of depressive inpatients treated with reboxetine or mirtazapine

Depressive inpatients (n=40) were randomly assigned to either a group treated with reboxetine (n=20) or mirtazapine (n=20). Patients were tested before pharmacologic treatment (t0), and on days 7 (t1) and 14 (t2) with computerized tests related to car driving skills. Data were collected with the Act and React Testsystem (ART 90) and the Wiener Testsystem (WTS) measuring visual perception, reactivity, stress tolerance, selective attention and vigilance. In addition, the patients went through various risk simulations on a static driving simulator (FT-SR 200). Results: Especially in tests measuring reactivity, concentration and stress tolerance significant improvements within 14 days of pharmacologic treatment in both treatment groups could be observed. Besides, the frequency of accidents in the risk simulations decreased significantly. Significant differences between treatment groups could not be shown. Conclusions: Our results indicate that partially remitted depressed inpatients treated with reboxetine or mirtazapine show a better performance on tasks related to driving ability than untreated depressives.

Keywords: Driving ability, antidepressants, driving simulator

Psychopharmakotherapie 2007; 14(04)