Prof. Dr. Walter E. Müller, Frankfurt/M.
Die meisten Antidepressiva können die aktive Teilnahme am Straßenverkehr beeinträchtigen. Es gibt allerdings nur wenige gute Untersuchungen, die unter praxisnahen Bedingungen zeigen, in welchem Maß die Fahrtüchtigkeit tatsächlich eingeschränkt wird. Das Problem wird noch dadurch überlagert, dass auch unbehandelte depressive Patienten krankheitsbedingt in ihrer Fahrtüchtigkeit deutlich eingeschränkt sind. Die Frage, wie weit durch die antidepressive Therapie dieser Zustand eher verschlechtert oder nur partiell gebessert wird, ist nicht eindeutig zu beantworten. Dieses Problem, bei dem sich der Therapeut auch heute noch in einer nicht klar definierten Grauzone bewegen muss, wurde von Brunnauer et al. (Wasserburg) gründlich untersucht. Die Autoren haben sich verdienstvollerweise die Mühe gemacht, nicht medizierte depressive Patienten in die Studie einzuschließen. Die wesentlichen Befunde dieser Untersuchung sind:
● Unbehandelte depressive Patienten (HAMD 22–24) zeigen im Vergleich zu gesunden Probanden deutliche Beeinträchtigungen, etwa 63% genügen nicht den gesetzlichen Mindestansprüchen zum Führen eines Kraftfahrzeugs.
● Unter 14-tägiger Therapie mit Mirtazapin oder Reboxetin kam es neben der Verbesserung der depressiven Symptomatik auch zu einer signifikanten Reduktion der Einschränkung der Fahrtüchtigkeit.
● Zum Endpunkt der Untersuchung waren die Verbesserungen unter Reboxetin und Mirtazapin nicht signifikant unterschiedlich.
Die Leistungsfähigkeit depressiver Patienten, aktiv am Straßenverkehr teilzunehmen, wird also durch eine antidepressive Therapie ungeachtet der Einnahme eines sedierenden (Mirtazapin) oder nicht sedierenden Antidepressivums (Reboxetin) deutlich verbessert und die Einschränkungen der Leistungsfähigkeit untherapierter Patienten sind relevanter als mögliche Medikamenteneffekte. Damit gibt diese Untersuchung wertvolle Hilfestellungen für den Umgang mit diesem praxisrelevanten Problem ambulanter antidepressiver Therapie.
In der zweiten Originalarbeit, einer Anwendungsbeobachtung an über 10000 Patienten mit dem dualen SSRI Escitalopram, konnten viele Aspekte der Anwendung, wie sie aus den zulassungsrelevanten, kontrollierten Untersuchungen bekannt sind, unter Praxisbedingungen bestätigt werden. Dass hier die globale Wirksamkeit eher weniger von primärer Aussagekraft ist, ist allgemein bekannt. Sehr viel wichtiger sind die Daten der Subgruppenanalysen wie Klassifizierung nach Geschlecht, Alter oder Schweregrad der Depression bei Einschluss. Auch die Daten zu den unerwünschten Arzneimittelwirkungen zeigen eine relativ gute Übereinstimmung mit den Informationen aus den kontrollierten klinischen Prüfungen zu Escitalopram.
Die generalisierte Angststörung (GAD) gehört mit einer Lebenszeit-Prävalenz von 5% und einer 12-Monate-Prävalenz von 1 bis 2% zu den häufigen Angststörungen. Eine hohe Komorbidität besonders mit Depressionen macht Diagnose und Therapie schwierig. Ein Expertengremium aus dem deutschsprachigen Raum hat die therapeutischen Optionen der GAD diskutiert und bewertet. Die Ergebnisse dieser Konsensuskonferenz werden in der Arbeit von Bandelow et al. zusammengefasst.
In der wissenschaftlichen Evaluation psychopharmakologischer Therapien wird der Therapieerfolg üblicherweise durch die Reduktion der Punktzahl in „rating scales“ erfasst und sehr häufig als Responderanalyse bewertet, wo zum Beispiel 50% Verbesserung des HAMD-Werts bezogen auf den Ausgangswert als Responderkriterium gilt. In den letzten Jahren mehrt sich die Kritik an diesem Kriterium, da Response zwar 50% Verbesserung bedeutet, aber eben auch, dass noch 50% des ursprünglichen Störungsbilds vorhanden sind und der Patient keinesfalls gesund ist. Sehr viel wertvoller für den Patienten und letztlich auch für die Einschätzung des Therapieerfolgs ist die Anzahl der Patienten, die zu Therapieende tatsächlich auch gesund sind, bei denen also die erfassbare psychische Symptomatik im Normbereich liegt (Remitter). Naber et al. führen dies am Beispiel der Schizophrenietherapie aus.
Aus den vielen Berichten aus der aktuellen wissenschaftlichen Literatur soll nur auf die Publikation von Olfson et al. (2006) eingegangen werden, wo in einer Fall-Kontroll-Studie das Risiko von Suiziden und Suizidversuchen bei schwer depressiven Kindern mit und ohne Antidepressiva-Therapie verglichen wurde. Die Daten bestätigen ein leicht, aber signifikant erhöhtes Risiko unter Antidepressiva-Therapie. Interessanterweise wurde das höchste (immer aber nur geringfügig erhöhte) Risiko für die alten Trizyklika gesehen und nicht etwa für die SSRI. Die bei uns schon oft zu hörende kritiklose Empfehlung, die billigen, aber toxischen Trizyklika bevorzugt bei Kindern einzusetzen, ist daher nicht gerechtfertigt. Kinder unter antidepressiver Therapie sollen generell gut kontrolliert werden, ungeachtet des verwendeten Antidepressivums.
Psychopharmakotherapie 2007; 14(04)