Dr. Annemarie Musch, Stuttgart
Eine unbehandelte Major Depression kann für die Betroffenen schwerwiegende Konsequenzen haben (z.B. soziale Probleme, gesteigerte Komorbidität). Laut Angaben der WHO werden mehr als 75% der Patienten mit Depressionen nicht behandelt. Dass dies auch nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung der Kinder von Erkrankten bleibt, vielmehr den Gesundheitszustand der Kinder auf lange Sicht, bis ins Erwachsenenalter beeinflussen kann, konnte nun in einer amerikanischen, naturalistischen Longitudinalstudie bestätigt werden.
In dieser Studie wurden 143 Kinder von Eltern, die an einer Major Depression litten, über einen Zeitraum von 23 Jahren beobachtet. Die Studie begann 1980. 424 Eltern, die zu diesem Zeitpunkt eine Behandlung ihrer Depression in einem von sechs Behandlungszentren in San Francisco (San Francisco Bay Area Treatment Centers) begannen, wurden in die Studie aufgenommen. Die Kontrollgruppe bildeten 197 Kinder von Eltern (n=424), die randomisiert aus demselben Zählbezirk und im Familienstand passend in die Studie eingeschlossen wurden.
Die Charakteristika beider Elterngruppen waren bis auf den Bildungsstatus vergleichbar, Eltern mit Depression hatten durchschnittlich weniger Zeit mit einer Ausbildung verbracht als Eltern der Kontrollgruppe (14,19±2,37 Jahre vs. 15,43±2,71 Jahre, p<0,001).
Die Eltern sowie mit Erlaubnis der Eltern auch ihre Kinder wurden zu Studienbeginn sowie 1, 4, 10 und 23 Jahre später schriftlich, telefonisch oder im Rahmen eines persönlichen Besuchs befragt. Bei Eltern und Kindern wurde der Depressions-Status mit dem DSM-IV (Diagnostic und statistical manual of mental disorders, revision IV) und dem PHQ-9 (Patient health questionnaire, Patientenfragebogen als Screeninginstrument für Depressionen) bestimmt. Bei den an einer Depression erkrankten Eltern wurden Subgruppen gebildet, je nachdem, ob mit der Behandlung eine Remission, eine partielle Remission oder keine Remission erreicht wurde. Weiterhin wurde die psychosoziale Funktion mit dem HDL (Health and daily living form) erfasst.
Die erwachsenen Nachkommen wiesen ähnlich wie ihre Eltern Unterschiede im Bildungsstatus auf, die Nachkommen depressiver Eltern hatten gegenüber der Kontrollgruppe signifikant weniger Zeit mit einer Ausbildung verbracht. Dies galt insbesondere für die Nachkommen von Eltern ohne Remission.
Die erwachsenen Nachkommen der Eltern mit Major Depression zeigten signifikant schwerer ausgeprägte psychische Probleme gemessen mit dem DSM-IV und dem PHQ-9. Am schlechtesten schnitten die Nachkommen von Eltern ab, bei denen keine Remission erreicht werden konnte; der Unterschied im DSM-IV und PHQ-9 war im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant (p<0,05) (Abb. 1).
Abb. 1. Schwere depressive Symptomatik (DSM-IV und PHQ-9) bei den erwachsenen Nachkommen von Eltern mit Major Depression im Vergleich zu Nachkommen von nicht-depressiven Eltern (Subgruppen wurden entsprechend dem Behandlungserfolg bei den Eltern gebildet: Remission, partielle Remission, keine Remission) [nach Cronkite R, et al.]
Auch im Zusammenhang mit weiteren physischen Problemen wurden signifikante Unterschiede der erwachsenen Nachkommen depressiver Eltern im Vergleich zur Kontrollgruppe beobachtet, hierunter fallen beispielsweise häufiger aufgetretene Probleme mit Schmerzen bei den Nachkommen depressiver Eltern (49 vs. 40%, p<0,017). In der Schmerzintensität wurden keine signifikanten Unterschiede beobachtet, wohl aber in dahingehend, wie stark der Schmerz die Alltagsaktivität beeinflusste.
Bei der Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems, wie der Einnahme antidepressiver Medikamente oder Inanspruchnahme von Hilfe durch beispielsweise Psychiater oder Psychologen, bestanden signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen; die erwachsenen Nachkommen depressiver Eltern nahmen diese Leistungen häufiger in Anspruch als die Kontrollgruppe.
Weiterhin führte die Erkrankung der Eltern bei ihren Kindern zu einer Beeinträchtigung psychosozialer Funktionen, so dass insbesondere bei den erwachsenen Nachkommen der Eltern mit schwererem Krankheitsverlauf, bei denen also keine Remission der Depression erreicht werden konnte, deutlich beeinträchtigt waren verglichen mit der Kontrollgruppe: Sie hatten weniger Freunde und zeigten unter anderem häufiger negative Bewältigungsmechanismen wie Vermeidung. Die Unterschiede waren jeweils signifikant gegenüber sowohl der Kontrollgruppe als auch den erwachsenen Nachkommen von Eltern, die eine partielle oder vollständige Remission erreichten. Die erwachsenen Nachkommen depressiver Eltern, die zumindest eine partielle Remission oder aber eine Remission der Erkrankung erreichten, hatten vergleichbar viele Freunde wie die Kontrollgruppe und zeigten auch keine signifikanten Unterschiede in den Bewältigungsmechanismen.
Fazit
In dieser langen Beobachtungsstudie zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen psychischen sowie physischen und psychosozialen Problemen der erwachsenen Nachkommen und einer Erkrankung der Eltern an Major Depression. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich eine konsequente Therapie der Eltern, mit dem Ziel, möglichst eine Remission zu erreichen, positiv auf die Entwicklung der Kinder auswirkt, denn die schwersten psychischen Probleme traten bei den erwachsenen Nachkommen von Eltern auf, deren Erkrankung nicht zur (partiellen) Remission gebracht werden konnte. Dies wirkte sich auch am stärksten auf die soziale Kompetenz der Nachkommen aus.
Quelle
Joel Raskin, MD, Indianapolis, Ruth Cronkite, PhD, Stanford. Pressekonferenz „Twenty-three year study shows depression in parents associated with depression in adult children“, veranstaltet von Lilly und Boehringer Ingelheim anlässlich der 159. Jahrestagung der American Psychatric Association, Toronto, 23. Mai 2006.
Psychopharmakotherapie 2006; 13(04)