Georg Adler, Ana Jajcevic, Katrin Chwalek, Mannheim, und Doris Dieterle, Oberschleißheim
Die Behandlung von Depressionen bei älteren Patienten weist gegenüber der Behandlung jüngerer Patienten einige Besonderheiten auf. Dies ist zum einen die in dieser Patientengruppe häufige Multimorbidität und Polypharmakotherapie. Die Häufigkeit klinisch relevanter Arzneimittelinteraktionen nimmt mit dem Alter, der Morbidität und der Anzahl der verordneten Medikamente zu [15]. Zum anderen sind Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeit bei älteren depressiven Patienten häufig [9, 12]. Antidepressiva können, insbesondere bei anticholinerger Wirkung, die kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtigen und es kommt gehäuft zu orthostatischen Regulationsstörungen und Verwirrtheitszuständen [8].
Das Antidepressivum Mirtazapin (Remergil®) wurde 1996 in Deutschland eingeführt. Es zeichnet sich vor allem durch seinen neuartigen Wirkungsmechanismus gegenüber den bis dahin im Handel befindlichen Antidepressiva aus. Mirtazapin erhöht sowohl die noradrenerge als auch die serotonerge Neurotransmission [3]. Da aber die Serotonin-Rezeptortypen 5-HT2 und 5-HT3 spezifisch blockiert werden, stimuliert das freigesetzte Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) nahezu ausschließlich die Rezeptoren vom 5-HT1-Typ. Die Substanz wird deshalb als noradrenerges und selektiv serotonerges Antidepressivum (NaSSA) bezeichnet. Wie bisherige klinische Studien gezeigt haben, weist Mirtazapin eine sehr gute Verträglichkeit mit wenigen Nebenwirkungen auf; am häufigsten kommt es zu Müdigkeit und Sedierung [2, 4, 7]. Studien, in denen die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Mirtazapin gezielt bei älteren Patienten untersucht wurde, wurden noch nicht vorgelegt.
Mirtazapin erscheint durch sein selektives Wirkungsprofil, insbesondere mit dem fast vollständigen Fehlen von anticholinergen Nebenwirkungen, und durch sein geringes Interaktionspotenzial für die Behandlung älterer Patienten gut geeignet. Ein Problem bei der Behandlung älterer Patienten ist deren häufig niedrige Compliance [6]. Bei ihnen bestehen häufig Schluckstörungen und eine Abneigung dagegen, noch eine weitere Tablette einnehmen zu müssen. Neben einer intensiven Aufklärung und Beratung kommt auch der Applikationsform der verordneten Medikation Bedeutung für die Compliance der Patienten zu. Durch die Einführung von Remergil® 15 mg/ml Lösung zum Einnehmen steht eine Darreichungsform zur Verfügung, die insbesondere für ältere Patienten gut geeignet ist.
Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Remergil®-Lösung wurde in einer offenen prospektiven Studie bei älteren depressiven Patienten untersucht. Dabei wurde den Arzneimittelnebenwirkungen und der kognitiven Leistungsfähigkeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das offene Design und die niedrige Fallzahl entsprechen dem explorativen Charakter dieser Studie.
Methode
In die Studie wurden 30 Patienten aufgenommen, die wegen einer depressiven Episode (ICD-10-Kriterien) teilstationär behandelt wurden. Einschlusskriterien waren neben dem Vorliegen einer depressiven Episode ein Alter von über 60 Jahren und ein Score von mindestens 12 auf der 17-Item-Hamilton-Depressionsskala (HAMD) [5]. Ausgeschlossen wurden Patienten mit einer organischen, substanzbedingten oder schizophrenen Störung (ICD-10-Kriterien) sowie Patienten, bei denen akute internistische oder neurologische Erkrankungen vorlagen.
Die Patienten sollten in der Vergangenheit noch nicht mit Mirtazapin behandelt worden sein. Falls eine nicht ausreichende antidepressive Behandlung bestanden hatte, wurde eine Auswaschphase mit einer Dauer von mindestens drei Serumhalbwertszeiten der betreffenden Substanz eingehalten. Die Behandlung erfolgte mit Remergil®-Lösung in einer Dosierung von initial 15 mg/Tag; die Dosierung wurde nach einer Woche auf 30 mg/Tag gesteigert. Die Studienmedikation wurde einmal täglich, zur Nacht, verabreicht. Die Patienten wurden in der Tagesklinik in die Benutzung des Remergil®-Dosierspenders eingewiesen. Als Begleitmedikation wurde Lorazepam in einer Dosierung von bis zu 2 mg täglich zugelassen.
Der HAMD-Score wurde an den Tagen 0, 7, 14, 21, 28, 35 und 42 sowie nach sechsmonatiger Behandlung erhoben. Nebenwirkungen der Medikation wurden wöchentlich mit einem strukturierten Interview, der UKU-Nebenwirkungsskala [11] erfasst. Die kognitive Leistungsfähigkeit wurde zu Behandlungsbeginn, nach sechswöchiger und sechsmonatiger Behandlung mit dem strukturierten Interview für die Diagnose einer Demenz vom Alzheimer-Typ, der Multiinfarkt- (oder vaskulären) Demenz und Demenzen anderer Ätiologie nach DSM-III-R, DSM-IV und ICD-10 (SIDAM) [16] erhoben. Das Funktionsniveau der Patienten wurde zu Behandlungsbeginn mit dem Barthel-Index [13] und der IADL(Instrumental activities of daily living)-Skala [10] bestimmt.
In die Untersuchung wurden die Daten aller Patienten einbezogen, bei denen eine Erstuntersuchung durchgeführt wurde (Intention-to-treat-Analyse). Die Veränderung des Hamilton-Depressions-Scores und des SIDAM-Scores (SISCO) wurden mit t-Tests, die Veränderungen der Einzelitems der Hamilton-Depressions-Scores mit U-Tests untersucht.
Ergebnisse
Untersuchte Patienten
In die Studie wurden fünf Männer und 25 Frauen im Alter von 61 bis 85 Jahren (Mittelwert ± Standardabweichung: 73,2±6,4 Jahre) aufgenommen. Der Hamilton-Depressions-Score lag bei Behandlungsbeginn zwischen 12 und 31 (20,2±4,8).
In der Alltagsfunktion der Patienten bestanden im Allgemeinen keine wesentlichen Beeinträchtigungen. Bei einzelnen Patienten, insbesondere Männern, zeigten sich Einschränkungen in Bezug auf die Haushaltstätigkeiten. Der Barthel-Index hatte Werte zwischen 55 und 100 (95,5±9,9), der IADL-Score zwischen 3 und 8 (6,8±1,8). Der SISCO lag bei Behandlungsbeginn zwischen 34 und 53 (43,9±4,9). Von den 30 Patienten lagen 24 (80%) mit einem SISCO von 46 oder weniger im Bereich der leichten kognitiven Beeinträchtigung.
Handhabung
Die Patienten kamen nach kurzer Einweisung und Einübung mit den Dosierflaschen der Remergil®-Lösung gut zurecht. Die Einnahmeform wurde im Allgemeinen als angenehm beurteilt. Die Patienten fanden die Darreichungsform günstiger, als eine (zusätzliche) Tablette einnehmen zu müssen.
Wirksamkeit
Der Verlauf des Hamilton-Depressions-Scores unter der Behandlung mit Remergil®-Lösung ist in Tabelle 1 dargestellt. Die Behandlung führte bereits nach der ersten Behandlungswoche zu einer signifikanten Rückbildung der depressiven Symptomatik. Auch im weiteren Verlauf der Behandlung und bei der Katamnese nach sechs Monaten zeigte sich eine weitere Rückbildung der Symptomatik.
Tab. 1. Rückbildung der depressiven Symptomatik unter Behandlung mit Remergil®-Lösung (SD = Standardabweichung; Rückbildung = Anzahl [Anteil] der Patienten, bei denen sich der HAMD-Score um mindestens 6 Punkte gebessert hat)
Tag |
Patienten [n] |
HAMD-Score [Mittelwert (SD)] |
p-Wert* |
Rückbildung [n] |
0 |
30 |
20,2 (4,8) |
– |
– |
7 |
28 |
16,8 (6,6) |
0,004 |
9 (32%) |
14 |
26 |
15,8 (6,0) |
0,001 |
12 (46%) |
21 |
26 |
14,2 (6,8) |
0,001 |
16 (62%) |
28 |
26 |
12,6 (5,5) |
0,001 |
20 (77%) |
35 |
26 |
10,9 (5,0) |
0,001 |
23 (88%) |
42 |
26 |
9,5 (5,1) |
0,001 |
23 (88%) |
182 |
19 |
7,0 (5,1) |
0,001 |
18 (95%) |
*Signifikanzniveau der Verbesserung im Vergleich zum Ausgangswert, bestimmt mit dem t-Test für paarige Stichproben (einseitig).
Um zu untersuchen, welche Symptome initial am besten auf eine Behandlung mit Remergil®-Lösung ansprechen, wurden die Werte für die Items der HAMD an den Tagen 0 und 7 mit U-Tests verglichen. Dabei zeigte sich, dass sich schon in der ersten Behandlungswoche erwartungsgemäß Ein- und Durchschlafstörungen besserten (Items 4 und 5 der Hamilton-Depressionsskala; p < 0,001 bzw. p < 0,05). In der ersten Behandlungswoche kam es aber auch zu einer signifikanten Rückbildung von Suizidalität (Item 3; p < 0,01) und psychischer Angst (Item 10; p < 0,025).
Verträglichkeit
Unerwünschte Wirkungen der Behandlung traten bei insgesamt neun Patienten auf. Es handelte sich um Sedierung (n=6), Übelkeit (n=3), Diarrhö (n=2) und Schwindel (n=1). Bei fünf der Patienten bildeten sich diese Nebenwirkungen innerhalb weniger Tage vollständig zurück; bei vier Patienten wurde die Studie wegen der Nebenwirkungen abgebrochen. Nebenwirkungen, die zum Studienabbruch führten, waren Sedierung (n=3), Übelkeit (n=2) und Schwindel (n=1).
Nach sechswöchiger Behandlung mit Remergil®-Lösung hatte sich der SISCO auf 46,2±4,4 verbessert (p=0,027). Von 26 Patienten lagen nur noch 13 (50%) im Bereich der leichten kognitiven Beeinträchtigung.
Diskussion
Remergil®-Lösung erwies sich bei der Behandlung dieser Gruppe älterer depressiver Patienten als gut wirksam und verträglich.
Unter den Nebenwirkungen standen bei den von uns untersuchten älteren Patienten Sedierung und gastrointestinale Nebenwirkungen im Vordergrund. Bei allgemein guter Verträglichkeit unterscheidet sich dieses Nebenwirkungsprofil von dem jüngerer Patienten [4], was sich am ehesten auf pharmakokinetische und pharmakodynamische Veränderungen zurückführen lässt, die mit dem höheren Lebensalter einhergehen (Übersicht bei [1]). In Anbetracht des hohen Alters und der Multimorbidität und Polypharmakotherapie bei einem Teil der Patienten erscheint diese Nebenwirkungsrate jedoch sehr gering.
Die Behandlung mit Remergil®-Lösung führte bei den behandelten älteren depressiven Patienten zu keinen kognitiven Beeinträchtigungen; es kam im Gegenteil zu einer deutlichen Zunahme der kognitiven Leistungsfähigkeit.
Im Hinblick auf die Wirksamkeit zeigt sich das aus den Untersuchungen bei jüngeren Patienten bekannte Profil, das sich durch einen raschen Wirkungseintritt mit einer sedierenden Komponente auszeichnet. Besonders bemerkenswert erscheint dabei neben der Besserung von Ein- und Durchschlafstörungen bereits in der ersten Behandlungswoche eine signifikante Rückbildung von Angst und Suizidalität.
Daher erscheint Remergil®-Lösung für die Behandlung älterer depressiver Patienten geeignet; es zeichnet sich durch eine leichte und sichere Darreichung sowie gute Wirksamkeit und Verträglichkeit aus. In Anbetracht des offenen Designs und der verhältnismäßig niedrigen Fallzahl erlaubt diese Studie allerdings keine weiter reichenden Schlussfolgerungen.
Literatur
1. Adler G. Psychopharmakotherapie im höheren Lebensalter. Internist 2003;44:936–42.
2. Anttila SA, Leinonen EV. A review of the pharmacological and clinical profile of mirtazapine. CNS Drug Rev 2001;7:249–64.
3. de Boer T. The pharmacological profile of mirtazapine. J Clin Psychiatry 1996;57(Suppl 4):19–25.
4. Fawcett J, Barkin RL. Review of the results from clinical studies on the efficacy, safety and tolerability of mirtazapine for the treatment of patients with major depression. J Affect Disord 1998;51:267–85.
5. Hamilton M. Development of a rating scale for primary depressive illness. Br J Soc Cin Psychol 1967;6:278–96.
6. Herrmann N, Bremner KE, Naranjo CA. Pharmacotherapy of late life mood disorders. Clin Neurosci 1997;4:41–7.
7. Holm KH, Markham A. Mirtazapine: a review of its use in major depression. Drugs 1999;57:607–31.
8. Katona C. Rationalizing antidepressants for elderly people. Int Clin Psychopharmacol 1995;10(Suppl 1):37–40.
9. La Rue A, Spar J, Hill CD. Cognitive impairment in late-life depression: clinical correlates and treatment implications. J Affect Disord 1986;11:179–84.
10. Lawton MP, Brodie EM. Assessment of older people, self maintaining and instrumental activities of daily living. Gerontologist 1969;9:179–86.
11. Lingjaerde O, Ahlfors UG, Bech P, Dencker SJ, et al. The UKU side effect rating scale: a new comprehensive rating scale for psychotropic drugs and a cross-sectional study of side effects in neuroleptic-treated patients. Acta Psychiatr Scand 1987;334(Suppl 334):1–100.
12. Lockwood KA, Alexopoulos GS, Kakuma T, Vam Gorp WG. Subtypes of cognitive impairment in depressed older adults. Am J Geriatr Psychiatry 2000;8:201–8.
13. Mahoney FI, Barthel DW. Functional evaluation: the Barthel Index. Med J 1965;14:61–5.
14. McDonald ET, McDonald JB, Phoenix M. Improving drug compliance after hospital discharge. Br Med J 1977;2:618.
15. Seymour RM, Routledge PA. Important drug-drug interactions in the elderly. Drugs Aging 1998;12:485–94.
16. Zaudig M, Hiller W. Strukturiertes Interview für die Diagnose einer Demenz vom Alzheimer Typ, der Multiinfarkt- (oder vaskulären) Demenz und Demenzen anderer Ätiologie nach DSM-III-R, DSM-IV und ICD10. SIDAM. Bern–Göttingen–Toronto–Seattle: Hans Huber Verlag, 1996.
Prof. Dr. Georg Adler, Ana Jajcevic, Katrin Chwalek, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5, 68159 Mannheim Dr. Doris Dieterle, Organon GmbH, Mittenheimer Str. 62, 85764 Oberschleißheim
Therapeutic efficacy and tolerability of mirtazapine solution in the treatment of late-life depression
Mirtazapine is characterized by a noradrenergic and specifically serotonergic efficacy without anticholinergic properties. This pharmacodynamic profile makes it particularly suited for the treatment of elderly depressed patients. On a background of multimorbidity, polypharmacology and low compliance, the preparation as a solution offers additional advantages. In this open, prospective study in 30 depressed patients at ages from 61 to 85 years, mirtazapine was found therapeutically effective without relevant side effects.
Keywords: Depression, mirtazapine, solution, tolerability, therapeutic efficacy
Psychopharmakotherapie 2006; 13(01)