Prof. Dr. Walter E. Müller, Frankfurt/M.
Nach einer stürmischen, allerdings schon über 10 Jahre zurückliegenden Phase der Neueinführung vieler moderner Antidepressiva aus der Gruppe der spezifischen Wiederaufnahmehemmer gab es in den darauf folgenden Jahren nur wenige weitere Neuentwicklungen. Eine davon ist Duloxetin, das 2005 als Antidepressivum eingeführt wurde, nachdem es im Jahr davor schon zur Behandlung der stressinduzierten Harninkontinenz bei Frauen zugelassen worden war. Obwohl mit Duloxetin nach Venlafaxin der zweite spezifische duale Wiederaufnahmehemmer zur Verfügung steht, zeigen die im Beitrag von Hiemke et al. (Mainz) zusammengestellten pharmakologischen Daten zu Duloxetin deutlich, dass es wichtige Unterschiede in der Pharmakologie und der Pharmakokinetik beider Substanzen gibt, hauptsächlich bezogen auf die relativen Selektivitäten für die Serotonin- bzw. Noradrenalin-Rückaufnahme ins präsynaptische Neuron. In einer Zeit, in der sehr gerne versucht wird, Ähnlichkeiten in der pharmakologischen Wirkung mit „identisch“ gleichzusetzen, sind diese Unterschiede nicht unerheblich. Die Übersicht von Möller und Schneider (München) über die klinischen Daten zu Duloxetin greift diesen Punkt auf und zeigt, dass die Wirksamkeit von Duloxetin auf schmerzhafte Symptome im Rahmen der Depression möglicherweise über das hinausgeht, was man von der allgemeinen antidepressiven Wirksamkeit erwarten würde. Hier bietet sich natürlich die hemmende Wirkung auf die Noradrenalin-Wiederaufnahme und die daraus resultierende direkte antinozizeptive Komponente als Erklärung an.
Eine therapeutische Unterversorgung depressiver Patienten ist ein nicht nur für Deutschland, sondern ein für alle westlichen Länder bekanntes Problem. Während dies schon für die Akutbehandlung gilt, wo wahrscheinlich weniger als ein Drittel der betroffenen Patienten adäquat medikamentös behandelt wird, sind die antidepressive Erhaltungstherapie nach abgeschlossener Akuttherapie und die rezidivprophylaktische Behandlung depressiver Patienten Bereiche mit noch ausgeprägterer Unterversorgung. Dies steht im Gegensatz zu der sehr guten klinischen Wirksamkeit von Antidepressiva in beiden Indikationen, wie es im Beitrag von Möller (München) anhand der kontrollierten klinischen Daten zu Sertralin gezeigt wird. Die ausführliche Darstellung der beträchtlichen Effektstärken der antidepressiven Therapie mit Sertralin in der Rezidivprophylaxe unipolarer Depressionen geht weit über die substanzbezogene Bedeutung hinaus und unterstreicht sehr eindrücklich, dass viele depressive Patienten einer sehr gut wirksamen Therapie nicht zugeführt werden.
Ein eher praxisbezogenes Problem wird in dem Beitrag von Adler et al. (Mannheim) aufgegriffen, nämlich der oft schwierige Umgang älterer Patienten mit oralen Darreichungsformen von Antidepressiva, der häufig zur Ablehnung, zumindest aber zu schlechter Compliance führt. Dass dies im Einzelfall mit einer flüssigen Arzneiform umgangen werden kann, wird am Beispiel der seit einiger Zeit zur Verfügung stehenden Mirtazapin-Lösung gezeigt, die für diesen Patientenkreis eine sichere und einfach einzusetzende Alternative darstellt.
Die Beiträge zeigen damit, dass sich auch im Bereich der klinischen Antidepressiva-Forschung immer noch etwas bewegt, dass neue Substanzen sinnvolle Ergänzungen des Marktes darstellen können, dass aber auch neue Arzneiformen wertvolle Optimierungen der bestehenden therapeutischen Möglichkeiten sein können. Wie immer wird das Heft abgerundet durch Beiträge zur Arzneimittelsicherheit und den Literaturüberblick.
Psychopharmakotherapie 2006; 13(01)