Neue Arzneimittel-Richtlinie zu medizinischem Cannabis

Medizinische Evidenz erhält größeren Stellenwert


Dr. Alexander Kretzschmar, München

Mit der Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) zu medizinischem Cannabis will der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine Fehlsteuerung der Cannabis-Verschreibungen korrigieren – die vorliegende Evidenz erhält größere Bedeutung. Auf einer virtuellen Pressekonferenz diskutierten Experten über die derzeitige Evidenzlage und die Konsequenzen für den rationalen Einsatz von medizinischem Cannabis.

Laut G-BA-Beschluss vom 16. März 2023 (Kasten) ist zukünftig vor einer Verordnung von Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten zu prüfen, ob andere cannabishaltige Fertigarzneimittel zur Verfügung stehen, die zur Behandlung geeignet sind. Die Verordnung von Cannabis in Form von getrockneten Blüten ist zu begründen [3]. Mit dieser Änderung wird ein wesentlicher Geburtsfehler des Cannabisgesetzes von 2017 im Hinblick auf die Nutzenbewertung und evidenzbasierter Medizin korrigiert, stellte Priv.-Doz. Dr. Michael Überall, Präsident der Deutschen Schmerzliga, fest. Trotz oft fehlender belastbarer Evidenz wird Cannabis seit 2017 unter Ausnutzung des Graubereichs der fehlenden arzneimittelrechtlichen Zulassung häufig massiv beworben, kritisierte der Schmerzmediziner.

Infokasten

In seiner Sitzung am 16. März 2023 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie beschlossen, wodurch mit der Einfügung von § 4a sowie § 44 und § 45 die Verordnung von Cannabisarzneimitteln an gesetzlich Krankenversicherte neu geregelt werden soll [3]. Die Änderung tritt inkraft, sobald sie nach Prüfung durch das Bundesgesundheitsministerium im Bundesanzeiger veröffentlicht worden sind (dies war bis Mitte Mai 2023 noch nicht erfolgt).

Fertigarzneimittel werden präferiert

Bei der Gesamtbewertung der Evidenz aus doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studien und nichtinterventionellen Studien oder Registerauswertungen sieht Überall Nabiximols (Sativex®) am besten dokumentiert [4, 8]. Das THC:CBD-Oromukosalspray unterscheidet sich als Fertigarzneimittel mit Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) in definiertem Verhältnis von anderen Cannabiszubereitungen. Ein Sprühstoß mit 100 µl Spray besteht aus einem standardisierten Gemisch von 2,7 mg THC und 2,5 mg CBD. Prof. Mathias Mäurer, Würzburg, gab einen kurzen Überblick über die Evidenzlage für Nabiximols. Hier zeigt sich eine solide Datenlage aus der Placebo-kontrollierten, doppelblinden SAVANT-Studie sowie Real-World-Daten [9, 2, 7]. In SAVANT profitierten nach 48 Wochen mit 77,4 % signifikant mehr Patienten stark von Nabiximols (Verbesserung ≥ 30 % auf einer numerischen Rating-Skala) als unter Placebo (32,1 %; adjustiertes Odds-Ratio 7,0; 95%-Konfidenzintervall KI 2,9–16,7; p < 0,0001). Auch die mit der MS(multiple Sklerose)-induzierten Spastik verbundenen Schmerzen gingen signifikant zurück. Die Überlegenheit war umso größer, je stärker die Spastik ausgeprägt war [5, 6]. Neben der Spastik besserten sich auch Schlafstörungen und Blasenprobleme signifikant. Gleichzeitig stieg die Lebensqualität der Patienten [9].

Die Ergebnisse randomisierter und nichtinterventioneller Studien geben keinen Hinweis, dass die Kognition durch Nabiximols beeinträchtigt wird. Mäurer verwies hierzu auf einen aktuellen systematischen Review mit Metaanalyse. Insgesamt wurden keine Hinweise auf ungünstige kognitive Effekte unter einer antispastischen Therapie mit Nabiximols festgestellt [1]. Auch liegen aus dem klinischen Alltag keine Hinweise auf Toleranz, Abusus oder eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit vor, fasste Mäurer zusammen.

Im Gegensatz dazu ist die Evidenzlage für andere medizinische Cannabis-Zubereitungen deutlich geringer. Dies gilt insbesondere für die Blütentherapie, die sich wegen der potenziell euphorisierenden Effekte dank schnellerer Anflutung bei der Inhalation bei den Patienten großer Beliebtheit erfreut. Dies schlägt sich auch in einer hohen Verordnungshäufigkeit nieder, welche laut Überall im Gegensatz zu der Evidenzlage für die medizinische Wirksamkeit steht. In dieser Situation begrüßte der Schmerzexperte den G-BA-Beschluss zum Vorzug von Fertigarzneimitteln bei der Verordnung von medizinischem Cannabis auch vor dem Hintergrund einer besseren Patientensicherheit.

Quelle

Priv.-Doz. Dr. Michael Überall, Nürnberg, Prof. Dr. Mathias Mäurer, Würzburg, virtuelles Pressegespräch „Update Cannabis als Medizin 2023: G-BA (Richt-)Linie im Spannungsfeld zwischen on-label, off-label und no-label“, 29. März 2023, veranstaltet von Almirall Hermal GmbH.

Literatur

1. Dykukha I, et al. Effects of Sativex® on cognitive function in patients with multiple sclerosis: A systematic review and meta-analysis. Mult Scler Relat Disord 2022;68:104173.

2. Etges T, et al. An observational postmarketing safety registry of patients in the UK, Germany, and Switzerland who have been prescribed Sativex® (THC:CBD, nabiximols) oromucosal spray. Ther Clin Risk Manag 2016;12:1667–75.

3. G-BA. Arzneimittel-Richtlinie: § 4a und Abschnitt N §§ 44 bis 46 (Cannabisarzneimittel). https://www.g-ba.de/beschluesse/5915/ (Zugriff am 02.05.2023).

4. Hoch E, et al. Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln: Ergebnisse der CaPRis-Studie. Bundesgesundheitsblatt 2019;62:825–9.

5. Markova J, et al. Sativex® as add-on therapy vs. further optimized first-line ANTispastics (SAVANT) in resistant multiple sclerosis spasticity: a double-blind, placebo-controlled randomised clinical trial. Int J Neurosci 2019;129:119–28.

6. Meuth SG, et al. Tetrahydrocannabinol and cannabidiol oromucosal spray in resistant multiple sclerosis spasticity: consistency of response across subgroups from the SAVANT randomized clinical trial. Int J Neuroscience 2020;130:1199–205.

7. Patti F, et al. Effects of THC/CBD oromucosal spray on spasticity-related symptoms in people with multiple sclerosis: results from a retrospective multicenter study. Neurol Sci 2020;41:2905–13.

8. Überall MA, et al. Comparison of the effectiveness and tolerability of nabiximols (THC:CBD) oromucosal spray versus oral dronabinol (THC) as add-on treatment for severe neuropathic pain in real-world clinical practice: Retrospective analysis of the German pain e-registry. J Pain Res 2022;15:267–86.

9. Vermersch P, et al. Tetrahydrocannabinol:cannabidiol oromucosal spray for multiple sclerosis-related resistant spasticity in daily practice. Eur Neurol 2016;76:216–26.

Psychopharmakotherapie 2023; 30(03):100-105