Nocebo – Nebenwirkungen von Antidepressiva


Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux, Soyen/Waldkraiburg/München

Foto: Flamm, Haag

Ein unruhiges Jahr mit für die gesamte Bevölkerung schwer quantifizierbaren psychischen Belastungen neigt sich dem Ende zu. Selten war es so schwierig, die Grenzen zwischen gesund und krank zu definieren, worauf aus Sicht der Inneren Medizin Kollege Stiefelhagen jüngst zurecht hingewiesen hat [10]. „Burn-out“ und Depression sind gängige Diagnosen geworden. In der Versorgungspraxis werden Allgemeinärzte und Fachärzte mit der Schwierigkeit konfrontiert, in der knappen zur Verfügung stehenden Zeit zu differenzieren zwischen Befindlichkeitsstörungen, „Stress-induzierten Störungen“, Dysthymie, Angststörungen und Majore(n) Depressionen. Antidepressiva sind mit Abstand die am meisten verordneten Psychopharmaka [5], wobei Indikationen vielfach Schlafstörungen oder psychovegetativ-psychosomatische Störungen und nicht – kassentechnisch und formaljuristisch erforderlich – Depressionen sind. Depressionen werden deshalb insbesondere in Krankenkassendaten epidemiologisch überschätzt.

Benzodiazepine – in der Akuttherapie hoch wirksam, gut verträglich und praktisch frei von Interaktionen – gelten seit Längerem fast als obsolet. Nun breitet sich eine Welle hinsichtlich Wirksamkeit, Risiken und Nebenwirkungen von Antidepressiva aus. Typischerweise von nicht klinisch tätigen, praxisfernen Autoren werden mittels Metaanalysen in Fachjournalen negative Berichte publiziert. In den Medien (z. B. in Fernsehmagazinen wie „Kontraste“ oder „Panorama“) finden entsprechende Reports Verbreitung. Im Verordnungsalltag hat dies dazu geführt, dass Patienten in erhöhtem Maße skeptisch und ängstlich hinsichtlich der Einnahme von Antidepressiva sind. Adhärenz und Compliance erfordern sehr umfangreiche Aufklärungs- und Informationsgespräche mit nicht selten durch „Dr. Google“ vorinformierten/desinformierten Patienten. Argumentativ muss neben der Placebo-Überlegenheit nun das Nocebo-Problem, also die Relativierung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, ins Zentrum gerückt werden. Immer häufiger wird Psychotherapie einer Pharmakotherapie vorgezogen, nicht zuletzt da Leitlinien wie die S3-Leitlinie Unipolare Depression und die Nationale Versorgungsleitlinie Psychotherapie präferieren, obwohl Therapieplätze zumeist erst nach rund sechs Monaten zur Verfügung stehen und die Wirklatenz einer Psychotherapie in der Regel etwa 12 Wochen beträgt (was fast allen Patienten nicht klar ist). Jüngst wurde verdienstvollerweise darauf hingewiesen, dass die Überarbeitung der Nationalen Versorgungsleitlinie Depression klarere und differenziertere Aussagen zur Psychotherapie erfordert [8]. In diesen vielzitierten Leitlinien werden die möglichen Nebenwirkungen (UAW) von Antidepressiva breit dargestellt, die von Psychotherapien wesentlich knapper. Das Nocebo-Problem stellt sich somit diskrepant dar. Jüngst wurde mitgeteilt, dass „bislang der eklatante Mangel an Behandlungsplätzen das größte Manko sei, die Forschung rücke nun ein Problem in den Fokus, das bislang unter dem Radar lief“ – Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie (WELT AM SONNTAG 23.10.2022).

Hinsichtlich der Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie existierte lange Zeit keine Literatur. Erst in den letzten Jahren erschienen entsprechende Publikationen [4, 9, 11], die noch zu wenig Beachtung gefunden haben.

Wissenschaftlich fundierte Analysen haben ergeben, dass in 228 randomisierten klinischen Studien zu Psychotherapie bei Depression vs. Kontrollbedingungen die Responserate für Psychotherapie nur 41 % betrug und nur ein Drittel der Patienten remittierte [1]. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die deutsche Studie von Mergl et al. [7]: Depressive Patienten konnten Antidepressiva-Medikation oder Psychotherapie/kognitive Verhaltenstherapie wählen. Patienten, die ihre bevorzugte Behandlung erhielten, respondierten signifikant besser auf die von ihnen gewählte Therapieform. Erwartungseffekte spielen somit eine große Rolle.

Hinsichtlich der Wirksamkeit von Psychotherapie und Pharmakotherapien bei psychischen Krankheiten insgesamt kamen der Umbrella-Review und die Metaanalyse des Psychoanalytikers Leichsenring et al. zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass die Wirksamkeit beider Therapieverfahren überbewertet wird. In 102 Metaanalysen von 3782 randomisierten kontrollierten Studien mit über 650 000 Patienten mit depressiven Störungen, Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Zwangsstörungen, somatoformen Störungen fanden sich nur kleine Effektstärken mit einer standardisierten Mittelwertdifferenz (SMD) von 0,34 für Psychotherapien und 0,36 für Pharmakotherapien im Vergleich zu Placebo oder Behandlung wie üblich. Bei Head-to-Head-Vergleichen von Psychotherapien vs. Pharmakotherapien lag die SMD bei 0,11 [3].

Für posttraumatische Belastungsstörungen wird zumeist „traumaspezifische Psychotherapie“/Psychotherapie empfohlen. In der Praxisrealität werden durchaus Antidepressiva verordnet. In Studien fanden sich insbesondere positive Effekte von Venlafaxin und Sertralin, die in direkten Head-to-Head-Studien noch im Vergleich mit Trauma-fokussierter Psychotherapie evaluiert werden sollten [2]. Eine Analyse von 14 Guidelines kam jüngst zu dem Ergebnis, dass die meisten Guidelines sowohl psychologische als auch pharmakologische Therapien als First-Line-Behandlung der PTSD empfehlen, die Basis methodologisch adäquater Studien aber unzureichend ist und die Guidelines differenzierter und mit mehr klinischem Praxisbezug überarbeitet werden müssten [6].

Zu den aktuellen Entwicklungen gehört, dass die Verbreitung von medizinischem Cannabis zunimmt, wobei Risiken und Nebenwirkungen gesellschaftspolitisch und medial bemerkenswert wenig Beachtung finden. Ähnliches gilt für die im Gang befindliche Renaissance der Psychedelika – für manche beginnt hier eine neue Ära der Psychopharmakotherapie. Auf diese Thematik sind wir in der PPT zum Teil schon eingegangen, weitere (kritische) Berichte werden folgen.

Ein Update zur Pharmakologie und Neurobiologie von Psychedelika und ihrer klinischen Anwendung, vor allem in der Depressionsbehandlung, geben Halm, Bosch und Seifritz, Zürich, im vorliegenden Heft.

Perneczy, München, gibt einen Überblick zur Therapie von Psychose, Antriebsstörung und anderen nichtkognitiven Störungen bei Demenz. Nichtpharmakologische Interventionen haben bei diesen Störungen einen hohen Stellenwert. Psychopharmaka können therapeutisch eingesetzt werden, wobei die Evidenz leider teilweise schwach ist.

Popper et al., Wien, diskutieren anhand eines Fallberichts aus dem Pharmakovigilanzprojekt „Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie“ (AMSP) das Risiko einer Sialorrhö unter der Depottherapie mit Aripiprazol.

Wir danken unseren Lesern für das gezeigte Interesse. Auch die jüngste LA-Med-Analyse hat gezeigt, dass die PPT hier einen Spitzenplatz einnimmt. Insofern wünschen wir eine weiterhin bereichernde Lektüre.

Literatur

1. Cuijpers P, Karyotaki E, Ciharova M, et al. The effects of psychotherapies for depression on response, remission, reliable change and deterioration: A meta-analysis. Acta Psychiatr Scand 2021;144:288–99.

2. Lee D, Schnitzlein CW, Wolf JP, et al. Psychotherapy versus pharmacotherapy for posttraumatic stress disorder: systematic review and meta-analyses to determine first-line treatments. Depress Anxiety 2016;33:792–806.

3. Leichsenring F, Steinert C, Rabung S, Ioannidis JPA. The efficacy of psychotherapies and pharmacotherapies for mental disoders in adults: an umbrella review and meta-analytic evaluation of recent meta-analyses. World Psychiatry 2022;21:133–45.

4. Linden M, Strauß B (Hrsg). Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie. 2. Aufl., Berlin: Med Wiss Verlagsges., 2018.

5. Ludwig WD, Mühlbauer B, Seifert R (Hrsg). Arzneiverordnungs-Report 2021. Berlin: Springer, 2022.

6. Martin A, Naunton M, Kosari S, et al. Treatment guidelines for PTSD: A systematic review. J Clin Med 2021;10:4175.

7. Mergl R, Henkel V, Allgaier AK, et al. Are treatment preferences relevant in response to serotonergic antidepressants and cognitive-behavioral therapy in depressed primary care patients? Results from a randomized controlled trial including a patients’ choice arm. Psychother Psychosom 2011;80:39–47.

8. Rief W, Brakemeier EL, Kaiser T, et al. Die NVL-Depression benötigt mutigere und differenziertere Aussage zur Psychotherapie. Nervenarzt 2022;93:931–5.

9. Schleu A. Umgang mit Grenzverletzungen. Professionelle Standards und ethische Fragen in der Psychotherapie. Berlin: Springer, 2021.

10. Stiefelhagen P. Die Grenzen der Inneren Medizin. Arzneimitteltherapie 2022;40:173.

11. Zwiebel R. Vom Irrtum lernen. Behandlungsfehler und Verantwortung in der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta, 2017.

Psychopharmakotherapie 2022; 29(06):205-206