Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Bei älteren Menschen, insbesondere bei Menschen die unter einer Demenz leiden, kann es zu Psychosen kommen, die die Verwendung von Antipsychotika notwendig machen. Weiterhin wird eine Reihe von Patienten mit Morbus Alzheimer symptomatisch mit Cholinesterasehemmern behandelt. Für beide Substanzklassen ist bekannt, dass sie das Sturzrisiko und damit auch das Risiko von Frakturen erhöhen. Dieser Zusammenhang sollte jetzt in einer Registerstudie in Taiwan näher untersucht werden.
Methodik
Die Studie stützt sich auf die nationale Krankenversicherungsdatenbank von Taiwan. Erfasst wurden 15 278 Erwachsene im Alter von ≥ 65 Jahren mit neu verschriebenen Antipsychotika und Cholinesterasehemmern, die zwischen 2006 und 2017 einen Sturz oder eine Fraktur erlitten. Es wurde eine Poisson-Regression verwendet, um die Inzidenzraten für die Bewertung des Risikos von Stürzen und Frakturen für verschiedene Behandlungszeiträume berechnen. Ausgewertet wurde die Verwendung von Cholinesterasehemmern als Monotherapie, Antipsychotika allein und die Kombination von Cholinesterasehemmern und Antipsychotika im Vergleich zu einem Zeitraum ohne Therapie bei derselben Person.
Ergebnisse
Die Patienten waren im Mittel 74,5 Jahre alt. Bei 21,9 % bestand ein Morbus Alzheimer, bei 6,5 % ein Morbus Parkinson, bei 1,5 % eine vaskuläre Demenz und bei 69,2 % war die Krankheit nicht näher spezifiziert. 43,8 % der Patienten erhielten einen Cholinesterasehemmer, bevor sie ein Antipsychotikum erhielten, und bei 54,2 % wurde ein Antipsychotikum eingesetzt, bevor ein Cholinesterasehemmer gegeben wurde. Die Inzidenz von Stürzen und Frakturen pro 100 Personenjahre betrug
- 8,30 (95%-Konfidenzintervall [KI] 8,1–8,5) für den Zeitraum ohne Therapie,
- 52,35 (48,5–56,5) für den Vorbehandlungszeitraum vor Einsatz der Antipsychotika oder Cholinesterasehemmer,
- 10,55 (10,0–11,1) für die Verwendung einer Kombination von Cholinesterasehemmern und Antipsychotika,
- 10,34 (9,8–10,9) für Antipsychotika allein und
- 9,41 (8,9–9,9) für Cholinesterasehemmer allein.
Im Vergleich zum behandlungsfreien Zeitraum bestand das höchste Risiko für Stürze und Knochenbrüche in der Zeit vor Beginn der neuen Therapie (Inzidenzratenverhältnis [IR] 6,17; 95%-KI 5,7–6,7), gefolgt von der Behandlung mit der Kombination aus Cholinesterasehemmern und Antipsychotika (IR 1,35; 95%-KI 1,3–1,4), Antipsychotika allein (IR 1,33; 95%-KI 1,2–1,4) und Cholinesterasehemmern allein (IR 1,17; 95%-KI 1,1–1,2).
Kommentar
Diese Registerstudie aus Taiwan ergab, dass ältere Menschen, die mit Cholinesterasehemmern behandelt wurden, ein um 17 % erhöhtes Risiko hatten, zu stürzen und sich Frakturen zuzuziehen. Bei der Einnahme von Antipsychotika war das Risiko um 33 % erhöht. Die Studie zeigt aber auch ein Ergebnis, das bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde, nämlich dass das höchste Risiko für Stürze und Frakturen in dem Zeitraum besteht, bevor die erwähnten Medikamente eingesetzt wurden. Dies spricht dafür, dass das erhöhte Risiko primär durch die Grunderkrankung und nicht durch den Einsatz von Antipsychotika und Cholinesterasehemmern bedingt ist. Antipsychotika führen allerdings zu extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen, die insbesondere die Fähigkeit zu stehen und zu gehen beeinträchtigen. Dies erklärt zum Teil die erhöhte Sturzhäufigkeit. Cholinesterasehemmer haben als Nebenwirkung blutdrucksenkende Eigenschaften und können so zu orthostatischer Dysregulation mit erhöhter Sturzgefahr führen.
Quelle
Wang GHM, et al. Use of antipsychotic drugs and cholinesterase inhibitors and risk of falls and fractures: self-controlled case series. BMJ. 2021;374:n1925.
Psychopharmakotherapie 2021; 28(06):274-285