Risdiplam


Aus Expertensicht

Juan Muñoz Rosales, Heike Kölbel, Tim Hagenacker und Ulrike Schara-Schmidt, Essen

Psychopharmakotherapie 2021;28:205–6.

Risdiplam bindet an zwei kritische Stellen der SMN2-prä-mRNA, der 5’Splice Site (5’ss) des Introns 7 sowie am Exonic Splicing Enhancer 2 (ESE2) im Exon 7, und verändert dadurch das Spleißmuster der prä-mRNA des SMN2-Gens. Infolgedessen kommt es zu einer vermehrten Inklusion des Exon 7 in der mRNA und zu einer Erhöhung der Produktion des volllängen SMN-Proteins in allen Körperzellen.

Die bisherigen Daten der Zulassungsstudien zeigen eine Wirksamkeit von Risdiplam bei Patienten mit spinaler Muskelatrophie (SMA) in einem Alter zwischen zwei Monaten und 25 Jahren. Die Altersspanne von SMA-Patienten liegt zwischen 0 und 99 Jahren, sodass ein großer Teil der Patienten – besonders Patienten im Erwachsenenalter – durch diese Studien nicht erfasst wurden. Die meisten SMA-Patienten erreichen mit unterschiedlicher Symptomschwere das Erwachsenenalter und berichten über einen langjährigen weiteren Progress der Symptome. Gerade in der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen sieht man im Beobachtungszeitraum von zwölf Monaten unter Therapie mit Risdiplam keine relevante klinische Verbesserung gemessen mit der motorischen Skala MFM32. Die Tendenz ist eher, dass der natürliche Krankheitsverlauf sich ändert, indem der Progress der Erkrankung stagniert – sofern man dies durch den kurzen Zeitraum der Beobachtungsphase überhaupt beurteilen kann. Phasen mit Stagnationen wurden auch im natürlichen Verlauf dieser neurodegenerativen Erkrankung beschrieben. Darüber hinaus wurden in dieser Altersgruppe keine gehfähigen Patienten untersucht – eine Gruppe, bei der auf Basis der Erfahrung mit anderen Therapien jedoch der ausgeprägteste positive Effekt zu erwarten wäre.

Insgesamt wurden in den dargestellten Studien eher schwerer betroffene Patienten im Vergleich zu den Zulassungsstudien von Nusinersen oder Onasemnogen-Abeparvovec eingeschlossen. Dies erschwert den Vergleich der klinischen Outcome-Parameter, zudem auch unterschiedliche motorische Skalen (z. B. HFMSE vs. MFM32) als primäre Endpunkte verwendet wurden.

Nur echte „Head-to-Head“-Studien würden eine derartige Beurteilung als Basis für eine klare Empfehlung ermöglichen, Auswertungen von Behandlungsregistern könnten aber ebenfalls wichtige Hinweise liefern. Die Frage zur Wahl der Therapie erwachsener Patienten sollte dies offen betrachten und neben der zur erwartenden Wirksamkeit auch das Nebenwirkungsprofil und die Anwendung beinhalten. Dabei ist eine „neue Therapie“ nicht unbedingt die bessere. Für eine Umstellung einer bereits laufenden Therapie gibt es momentan keine fundierte Grundlage, Kombinationstherapien sind mit dem theoretischen Risiko der Überexpression von SMN behaftet. In der nahen Zukunft werden wir außerdem sehen, dass, obwohl die frühe Therapie möglicherweise den Phänotyp der erwachsenen SMA-Patienten ändern wird, diese trotzdem weitere Therapieansätze, z. B. SMN-unabhängige, benötigen werden.

Für die Gruppe der präsymptomatischen Patienten von 0–2 Monaten liegen aktuell nur vorläufige Daten aus Posterveröffentlichungen der Rainbow-Studie von bisher 5 Patienten vor; diese Studie rekrutiert aktuell noch Patienten. Die Zulassung von Risdiplam beginnt mit dem Alter von zwei Monaten, sodass wir aktuell das Medikament bei präsymptomatischen Patienten mit ≤ 3 SMN2-Kopien nicht einsetzen können.

Ein wesentlicher Vorteil von Risdiplam im Vergleich zu anderen medikamentösen Therapien für die SMA ist die orale Anwendung und die bisher gute Verträglichkeit des Arzneimittels. Ob die bei Tieren beobachtete Reproduktionstoxizität auch bei SMA-Patienten ein Problem sein wird, ist zurzeit noch unklar. Bei männlichen Patienten mit Kinderwunsch ist die Möglichkeit einer Spermienkonservierung zu erwägen. Bei SMA-Patientinnen ist auf eine effektive Kontrazeption zu achten.

Die intrathekale Gabe von Nusinersen und der damit verbundene technische und logistische Aufwand vor allem bei schwer betroffenen Patienten ist nicht zu unterschätzen. Auch die Genersatztherapie mit Onasemnogen-Abeparvovec erfordert im Hinblick auf immunologische Nebenwirkungen ein engmaschiges Monitoring und findet momentan bei erwachsenen Patienten keine Anwendung.

Die bisher gute Verträglichkeit von Risdiplam und die orale Anwendung können ein sehr großer Fortschritt in der Behandlung erwachsener SMA-Patienten sein, wenngleich die Erfahrung in der ganzen klinischen Bandbreite der Erkrankung noch fehlt.

Interessenkonflikterklärung

HK gibt an, Honorare für die Beratung oder Teilnahme an einem Expertenbeirat, Vorträge, Stellungnahmen oder Artikel bzw. Forschungsbeihilfe oder sonstige Unterstützung von Pfizer, Novartis, Biogen, Roche, und Sanofi-Genzyme erhalten zu haben.

TH gibt an, Honorare oder Forschungsbeihilfe von Biogen, Roche, Novartis Gene Therapies, Sanofi-Genzyme, Alexion und PTC erhalten zu haben.

JMR gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

USS gibt an, Honorare für die Beratung oder Teilnahme an einem Expertenbeirat, Vorträge, Stellungnahmen oder Artikel bzw. Forschungsbeihilfe von Avexis/Novartis, Biogen und Roche erhalten zu haben.

Modifizierter Nachdruck aus Arzneimitteltherapie 2021;39:293–4.


Juan Muñoz Rosales, Prof. Dr. med. Tim Hagenacker, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Essen, Hufelandstraße 55, 45147 Essen

Dr. med. Heike Kölbel, Prof. Dr. med. Ulrike Schara-Schmidt, Abtlg. für Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie, Klinik für Kinderheilkunde I, Universitätsklinikum Essen, Hufelandstraße 55, 45147 Essen, E-Mail: Ulrike.Schara-Schmidt@uk-essen.de

Psychopharmakotherapie 2021; 28(05):205-206