Die Grenzüberschreitung


Walter E. Müller, Worms/Frankfurt/M.

Psychopharmakotherapie 2021;28:215.

Am 7. Juni dieses Jahres hat die amerikanische Zulassungsbehörde (FDA) das Antidementivum Aduhelm® (Aducanumab) zur Therapie der Alzheimer-Demenz zugelassen – ohne belegte Wirksamkeit auf die Symptomatik und den Verlauf der Erkrankung. Der Vorgang ruft nach einer Stellungnahme.

Die Forschung zur Entwicklung neuer Alzheimer-Medikamente ist seit mehreren Jahrzehnten von der Hypothese getragen, dass die vermehrte Bildung des Peptids Beta-Amyloid (Aβ) und seine Ablagerung im Gehirn in Form der senilen Plaques den wesentlichen Faktor der Pathologie der Alzheimer-Erkrankung darstellt und dass man nur die Plaquedichte reduzieren muss, um eine spezifische den Erkrankungsprozess aufhaltende oder aufhebende Therapie zu erhalten.

Die extensive Forschung dazu war im Sinne der Hypothese dahingehend erfolgreich, dass viele Substanzen oder Strategien entwickelt wurden, die zu einer Reduktion der Amyloid-haltigen Plaques im Gehirn der Patienten führten, was man zwischenzeitlich durch die moderne Bildgebung mit dem „Amyloid-PET“ sehr gut am Patienten messen konnte.

Schon die ersten Befunde mit der „Amyloid-Impfung“ waren eine große Enttäuschung, da zwar Aβ reduziert wurde, nicht aber die Symptomatik oder der Verlauf der Erkrankung. Darüber hinaus gab es erhebliche Nebenwirkungen (UAW). In den folgenden Jahren wurden viele Substanzen entwickelt, die über unterschiedliche Mechanismen zu einer Reduktion von Aβ im Gehirn führten, die aber alle keine Verbesserung der Erkrankung zeigten. Zu diesen Substanzen zählten auch viele unterschiedliche Antikörper. Aducanumab ist der letzte dieser langen Reihe. Befunde eines negative Ausgangs von zwei großen klinischen Untersuchungen, die zum vorzeitigen Abbruch der Studien führten, sind eigentlich nur der Endpunkt und erfolglose Abschluss dieser über viele Jahre gehenden Entwicklungsstrategie. Es kam aber anders.

In der ersten der beiden identischen Studien (ENGAGE) wurde keinerlei Unterschied zwischen den beiden Dosen Aducanumab und Placebo gesehen. In der zweiten Studie (EMERGE) war die Gruppe mit der hohen Dosis signifikant besser als die Placebo-Gruppe, allerdings sind die minimalen Unterschiede zu der Verschlechterung unter Placebo nach 18 Monaten Therapie ohne jede klinische Relevanz (Mini-mental state examination [MMSE] 0,6 Punkte; Clinical dementia rating [CDR] 0,39 Punkte; Alzheimer disease assessment scale [ADAS-Cog] 0,7 Punkte). Auch verschiedene Sekundäranalysen konnten an dieser Aussage nichts ändern. Dies hatte auch die wissenschaftliche Beratergruppe der FDA so gesehen, die die Unterlagen für die – trotz aller Kritik – zur Zulassung eingereichten Daten zu Aducanumab zu bewerten hatte. Die Einschätzung einer nicht belegten klinischen Wirksamkeit bei deutlicher Abnahme der Plaquedichte (was ja viele andere Substanzen auch so gezeigt hatten) und deutlicher UAW war ziemlich eindeutig mit einem Votum von zehn der elf Berater gegen die Zulassung bei einer Enthaltung. Trotzdem hat die FDA Aducanumab Anfang Juni zugelassen, mit der nicht nachvollziehbaren Begründung, dass die gesehene Reduktion von Aβ eigentlich zu einer kognitiven Verbesserung führen müsse, was in Phase-IV-Studien nach der Zulassung belegt werden sollte. Diese Begründung wirkt geradezu grotesk vor dem Hintergrund vieler anderer Daten, dass das Vorhandensein von Aβ-Plaques weder im Querschnitt noch im Längsschnitt mit der klinischen Symptomatik korreliert und dass, wie bereits erwähnt, die Reduktion von Aβ durch viele andere Substanzen (auch verschiedene andere Antikörper) keinerlei Effekte auf die klinische Symptomatik zeigte, sondern im Gegenteil zum Teil mit einer Verschlechterung im Vergleich zu Placebo einherging.

Die nicht nachvollziehbare Entscheidung der FDA hat sofort die Frage nach den Hintergründen aufgeworfen und auch ich habe mich sofort gefragt, ob hier alles korrekt abgelaufen ist. Natürlich sind diese Fragen auch in der amerikanischen Öffentlichkeit gestellt worden und haben zu Nachforschungen geführt. Vorwürfe, dass Mitarbeiter der Herstellerfirma (Biogen) zu eng und nicht immer in offengelegter Weise mit den Verantwortlichen der FDA zusammengearbeitet haben sollen, haben Anfang Juli zu der Entscheidung der aktuellen Präsidentin der FDA, Dr. Janet Woodcock, geführt, den Zulassungsprozess noch einmal von einer unabhängigen Kommission prüfen zu lassen. Ungeachtet des Ausgangs dieser neuerlichen Überprüfung hinterlässt die aktuelle Entscheidung der FDA einen schalen Nachgeschmack. Der Glaube an die uneingeschränkte Objektivität und uneingeschränkte Priorisierung wissenschaflicher Evidenz des FDA hat einen schweren Schaden erlitten. Diese Grenzüberschreitung wird sich nachhaltig negativ auswirken.


Univ.-Prof. Dr. Walter E. Müller, Höhenstraße 49A, 67550 Worms, und Pharmakologisches Institut Biozentrum, Goethe Universität, Max-von-Laue-Straße 9, 60438 Frankfurt a.M., E-Mail: w.e.mueller@em.uni-frankfurt.de

Psychopharmakotherapie 2021; 28(05):215-215