Johannes Rösche, Schwalmstadt-Treysa/Rostock, und Bernd Schade, Schwalmstadt-Treysa
Brivaracetam (BRV) ist ein neueres Antiepileptikum zur Zusatzbehandlung fokaler Epilepsien bei Erwachsenen und Jugendlichen, das wie Levetiracetam an das synaptische Vesikelprotein SV2A bindet [3]. Levetiracetam (LEV) ist in der Behandlung des Status epilepticus gut etabliert. Bereits 2012 waren im Rahmen von Fallberichten 41 Behandlungsepisoden mit einer Erfolgsrate von 75 % und im Rahmen von Fallserien 727 Behandlungsepisoden mit einer Erfolgsrate von 55,9 % publiziert [11]. Bis Mitte 2018 kamen 28 Behandlungsepisoden im Rahmen von Fallberichten mit einer Durchbrechungsrate von lediglich 39,3 %, aber 526 weitere Behandlungsepisoden im Rahmen von Fallserien und prospektiven Studien mit einer Durchbrechungsrate von 57,2 % dazu [10]. Bei dieser Berechnung war unter anderem die Studie von Navarro und Mitarbeitern [7] ausgeschlossen worden. In dieser prospektiven randomisierten Doppelblindstudie waren nach Clonazepam (CLN) 1 mg über eine Minute 2500 mg LEV über fünf Minuten gegeben worden. Wenn am Ende der Infusion der Status nicht unterbrochen war, wurde noch einmal 1 mg CLN gegeben. Nach insgesamt 15 Minuten, also neun Minuten nach Ende der LEV-Infusion, wurde der Behandlungserfolg beurteilt und mit dem Behandlungserfolg in der Kontrollgruppe verglichen, in der zwischen den CLN-Gaben ein Placebo gegeben worden war. Unter diesen Auswertekriterien war die Kombination aus CLN mit Placebo in 84 % erfolgreich, diejenige aus CLN mit LEV in lediglich 74 %.
Präklinische Daten legen nahe, dass nach Infusion von 1500 mg LEV die maximale Konzentration im Gehirn erst nach einer Stunde erreicht wird [8], während dies bei 100 mg BRV innerhalb weniger Minuten der Fall sei. Dies könnte die mangelhafte Wirksamkeit des LEV innerhalb von neun Minuten nach Infusionsende erklären. Damit stellt sich dann aber auch die Frage, ob beim Status generalisierter tonisch-klonischer Anfälle, bei dem bereits nach 30 Minuten neuronale Schäden angenommen werden [16], das schneller wirksame BRV nicht geeigneter sein könnte. Erstmals wurde 2005 über eine gute Wirksamkeit des BRV im Tiermodell eines Status epilepticus berichtet [17]. Die folgende Arbeit soll eine Übersicht über die vorliegenden klinischen Daten zu BRV beim Status epilepticus bieten, soweit sie bei einer PubMed-Recherche und einer Web-of-Science-Recherche mit den Suchbegriffen „Brivaracetam“ und „Status epilepticus“ am 1. Mai 2021 auffindbar waren.
Fallberichte
Drei Einzelfallberichte finden sich bezüglich der Behandlung von Absence-Status. Dabei erwiesen sich sowohl 300 mg BRV nach 4 mg Lorazepam (LZP) als auch 20 mg BRV nach 10 mg Midazolam nicht als wirksam [14]. Schwer zu interpretieren ist ein weiterer Fallbericht [4], bei dem elektroenzephalographisch dokumentiert eine Loading-Dosis von 100 mg BRV noch während der über drei Minuten erfolgten Infusion das EEG sanierte. Nun war etwa 25 Minuten zuvor erstmals LZP 4 mg gegeben worden, woraufhin es nach kurzzeitiger Besserung des EEG-Befunds fünf Minuten später zu einem generalisierten tonisch-klonischen Anfall kam. Als sich wenige Minuten später erneut das Absence-Muster im EEG einstellte, wurde erneut LZP 4 mg gegeben. Daher sind, neben einem ultraschnellen Effekt der relativ niedrigen BRV-Dosis, auch ein kumulativer LZP-Effekt und ein Einfluss des generalisierten tonisch-klonischen Anfalls auf den Verlauf zu diskutieren. In einer Subgruppenanalyse einer umfangreichen Fallserie [13] gehörten jedenfalls die beiden Patienten mit klassischem Absence-Status ebenfalls zu den Nonrespondern. Dagegen war BRV bei einem fokalen nonkonvulsiven Status, der refraktär auf LEV, Fosphenytoin, Lacosamid und Valproinsäure war, erfolgreich [2].
Fallserien und Beobachtungsstudien
Fünf Fallserien [1, 5, 9, 13, 15] beschreiben insgesamt 131 Behandlungsepisoden mit einer durchschnittlichen Durchbrechungsrate von 51,25 % und einer Fallzahl-gewichteten Standardabweichung von 9,6 %, sodass von einem 95%-Konfidenzintervall für den Mittelwert von 52,9 % bis 55,3 % auszugehen ist (Details siehe Tab. 1). Bemerkenswert ist, dass in einzelnen Fällen die sofortige EEG-Besserung nach Applikation von BRV hervorgehoben wird [5, 15]. In einer Fallserie traten einzelne Erfolge bereits nach 12 Minuten auf und waren insbesondere bei Epilepsiesyndromen mit myoklonischer Komponente (juvenile myoklonische Epilepsie und Jeavons-Syndrom) nach maximal 20 Minuten zu beobachten [13]. Hinsichtlich der Dosis ist zu beachten, dass Aicua-Rapun und Mitarbeiter [1] fanden, dass Responder bezogen auf ihr Körpergewicht eine deutlich höhere Dosis bekommen hatten als Non-Responder (median 3,33 mg/kg, Bereich 1,85 bis 5 mg/kg, vs. median 1,5 mg/kg, Bereich 1,35 bis 3,77 mg/kg); sie folgerten daraus, dass die initiale Loading-Dosis mindestens 2 mg/kg betragen sollte. Santamarina und Mitarbeiter [13] kamen zu einem ähnlichen Ergebnis nur für Patienten mit Behandlungserfolg innerhalb von sechs Stunden (frühe Responder median 3,85 mg/kg, Bereich 2,03 bis 5,66 mg/kg, vs. späte Responder median 1,43 mg/kg, Bereich 0,9 bis 2,39 mg/kg). Zusätzlich wirkte sich ein früher Einsatz positiv aus und ein Effekt der Infusionsgeschwindigkeit (0,70 mg/kg/min, Bereich 0,1 bis 1,1 mg/kg/min vs. 0,14 mg/kg/min, Bereich 0,06 bis 0,9 mg/kg/min) deutete sich an. Auch in dieser Arbeit wurde eine Loading-Dosis von über 1,85 mg/kg empfohlen. Dagegen fanden Orlandi und Mitarbeiter [9] keinen Effekt der Dosisstärke. Sie beschrieben einen positiven Effekt des frühzeitigen Einsatzes im Behandlungsverlauf, der sich auch aus den steigenden Durchbrechungsraten bei niedrigerem Median der Behandlungspositionen in Tabelle 1 erahnen lässt. Beide Arbeitsgruppen, die dies gezielt untersuchten [9, 13], fanden keinen Einfluss einer Vormedikation mit LEV auf den Behandlungserfolg von BRV.
Tab. 1. Fallserien zum Brivaracetam-Einsatz beim Status epilepticus (chronologisch)
Fallserie |
Anzahl der Brivaracetam-Behandlungsepisoden |
Initiale Brivaracetam-Dosen |
Positionen der 1. Brivaracetam-Gabe im Behandlungsverlauf |
Erfolgsrate |
[15] |
11 |
Median 100 mg Bereich 50–400 mg |
Median 5 |
27 % |
[5] |
7 |
Median 100 mg Bereich 50–200 mg |
Median 5 |
29 % |
[1] |
14 |
Median 2,2 mg/kg Bereich 1,35–5 mg/kg |
Median 4 |
50 % |
[13] |
43 |
Median 100 mg = 1,8 mg/kg Bereich 50–400 mg = 0,4–7,3 mg/kg |
Median 3 |
54 % |
[9] |
56 |
Median 100 mg = 1,33 mg/kg Bereich 50–300 mg = 0,5–2,9 mg/kg |
Median ≥ 3* |
57 % |
*Für 21 Patienten liegt lediglich die Angabe frühestens 3. Gabe nach Benzodiazepin vor, diese wurden als 4. Position gerechnet.
Nebenwirkungen
Gravierende Nebenwirkungen werden kaum beschrieben. Santamarina und Mitarbeiter [13] beobachteten bei immerhin fast 14 % ihrer Patienten eine Somnolenz, die sie nicht auf das Anfallsgeschehen zurückführten. Bei einem Patienten kam es zu einer Verschlechterung der Anfallssituation [13]. Orlandi und Mitarbeiter beobachteten Somnolenz bei knapp 11 % ihrer Patienten. Bei einem kam es zu einer vorübergehenden Erhöhung der Leberenzyme [9].
Diskussion
Die Menge der in den referierten Fallserien publizierten Behandlungsepisoden entspricht nur 10,5 % der bis 2019 in zwei ähnlich aufgebauten Übersichtsarbeiten [10, 11] zu LEV ausgewerteten Behandlungsepisoden. Die nach der gleichen Methode errechnete durchschnittliche Erfolgsrate von BRV lag geringfügig niedriger. Eine Überlegenheit von BRV zeichnet sich diesbezüglich also nicht ab. Lediglich in Einzelfällen wurde ein besonders schneller Wirkungseintritt gefunden [5, 13]. Auch dies ist noch kein klar dokumentierter Vorteil gegenüber LEV. Hier beschrieben beispielsweise McTague und Mitarbeiter [6] bei fünf Patienten einen Behandlungserfolg innerhalb von zehn Minuten nach einer LEV-Infusion über 10 bis 15 Minuten. Entsprechend wird in den aktuellen Leitlinien der DGN [12] (vollständig überarbeitet am 30.06.2020) 60 mg/kg LEV i. v. als Mittel der ersten Wahl bei Benzodiazepin-refraktärem Status epilepticus empfohlen. Eine Empfehlung zu BRV gab es nicht. Die Datenlage dazu erscheint zu gering. Zur Datenlage erscheint jedoch folgende Ergänzung angemessen: Nach Einschätzung der WHO [18] beträgt die durchschnittliche Tagesdosis bei LEV 1500 mg, bei BRV 100 mg. Berücksichtigt man dieses Verhältnis, müsste BRV beim Status epilepticus mit einer Dosis von 4 mg/kg eingesetzt werden, damit es der für LEV empfohlenen Dosis entspricht. Eine solche Dosis wurde in den vorliegenden Arbeiten nur bei wenigen Patienten angewandt. Dagegen fanden sich in zwei Arbeiten [1, 13] Hinweise darauf, dass wenigstens die Hälfte dieser Dosis eingesetzt werden sollte.
Schlussfolgerungen für die Praxis
Eine breite Empfehlung zum Einsatz von Brivaracetam beim Status epilepticus anstelle von Levetiracetam kann auf der vorliegenden Datenbasis nicht gegeben werden. Sollte der Einsatz im Einzelfall erwogen werden, sollte eine Dosis zwischen 2 mg/kg und 4 mg/kg appliziert werden. Beim klassischen Absence-Status erscheint der Einsatz von Brivaracetam wenig aussichtsreich.
Interessenkonflikterklärung
J. Rösche hat Vortragshonorare von Eisai erhalten. B. Schade hat Vortragshonorare von Novartis und Unterstützung für die MS-Sprechstunde von Bayer und Novartis erhalten.
Literatur
1. Aicua-Rapun I, André P, Rossetti AO, Decosterd LA, et al. Intravenous brivaracetam in status epilepticus: correlation between loading dose, plasma levels and clinical response. Epilepsy Res 2019;149:88–91.
2. Ammar AA, Ammar MA, Owusu K, Gilmore EJ. Intravenous brivaracetam for the management of refractory focal nonconvulsive status epilepticus. BMJ Case Rep 2020;13:e234955.
3. Brandt C, Bien CG. Brivaracetam – ein neues Antiepileptikum. Psychopharmakotherapie 2016;23:97–101.
4. D’Orsi G, Lalla A, Di Claudio MT, Valenzano A, et al. Brivaracetam in absence status epilepticus. Seizure 2020;80:3–4.
5. Kalss G, Rohracher A, Leitinger M, Pilz G, et al. Intravenous brivaracetam in status epilepticus: a retrospective single-center study. Epilepsia 2018;59(Suppl 2):228–33.
6. McTague A, Keen R, Kumar R, Spinty S, et al. Intravenous levetiracetam in acute repetitive seizures and status epilepticus in children: experience from a children’s hospital. Seizure 2012;21:529–34.
7. Navarro V, Dagron C, Elie C, Lamhaut L, et al. Prehospital treatment with levetiracetam plus clonazepam or placebo plus clonazepam in status epilepticus (SAMUKeppra): a randomized, double-blind, phase 3 trial. Lancet Neurol 2016;15:47–55.
8. Nicolas J-M, Hannestad J, Holden D, Kervyn S, et al. Brivaracetam, a selective high-affinity synaptic vesicle protein 2A (SV2A) ligand with preclinical evidence of high brain permeability and fast onset of action. Epilepsia 2016;57:201–9.
9. Orlandi N, Bartolini E, Audenino D, Coletti MM, et al. Intravenous brivaracetam in status epilepticus: A multicentric retrospective study in Italy. Seizure 2021;86:70–6.
10. Rösche J, Dudek M, Teleki A, Godau J, et al. Levetiracetam in der Behandlung des Status epilepticus – ein Update. Fortschr Neurol Psychiatr 2019;87:357–63.
11. Rösche J, Pohley I, Rantsch K, Walter U, et al. Erfahrungen mit Levetiracetam in der Behandlung des status epilepticus. Fortsch Neurol Psychiatr 2013;81: 21–7.
12. Rosenow F, Weber J, et al. Status epilepticus im Erwachsenenalter, S2k-Leitlinie, 2020. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.). Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (Zugriff am 02.05.2021).
13. Santamarina E, Carbonell BP, Sala J, Gutiérrez-Viedma A, et al. Use of intravenous brivaracetam in status epilepticus: A multicenter registry. Epilepsia 2019;60:1593–601.
14. Strzelczyk A, Kay L, Bauer S, Immisch I, et al. Use of brivaracetam in genetic generalized epilepsies and for acute, intravenous treatment of absence status epilepticus. Epilepsia 2018;59:1549–56.
15. Strzelczyk A, Steinig I, Willems LM, Reif PS, et al. Treatment of refractory and super-refractory status epilepticus with brivaracetam: A cohort study from two German university hospitals. Epilepsy Behav 2017;70:177–81.
16. Trinka E, Cock H, Hesdorffer D, Rossetti AO, et al. A definition and classification of status epilepticus – Report of the ILAE Task Force on Classification of Status Epilepticus. Epilepsia 2015;56:1515–23.
17. Wasterlain C, Suchomelova L, Matagne A, Klitgaard H, et al. Brivaracetam is a potent anticonvulsant in experimental status epilepticus. Epilepsia 2005;46:219–20.
18. WHO. Collaboration Centre for Drug Statistics Methodology Oslo ATC/DDD index. 2021 http://whocc.no/atc_ddd_index/ (Zugriff am 02.05.2021)
Priv.-Doz. Dr. med. Dr. phil. Johannes Rösche, Hephata Klinik, Schimmelpfengstraße 6, 34126 Schwalmstadt-Treysa, E-Mail: johannes.roesche@hephata.de
Dr. med. Bernd Schade, Hephata Klinik, Schimmelpfengstraße 6, 34126 Schwalmstadt-Treysa
Brivaracetam in treatment of status epilepticus: what is known?
Brivaracetam is a new antiepileptic drug with a higher affinity for SV2A than levetiracetam and a high lipid solubility, which allows it to reach the central nervous system within a few minutes after intravenous application. Meanwhile five case reports and four observational studies reporting 113 treatment episodes have been published. In the observational studies there was a mean efficacy rate of 51.25 % with a 95 % confidence interval of 52.9 % to 55.3 %. This is not superior to efficacy rates which were found in other reviews concerning levetiracetam. If under certain circumstances brivaracetam is given in the treatment of status epilepticus, the loading dose should be between 2 mg/kg and 4 mg/kg. It should not be used in absence status epilepticus.
Key words: Levetiracetam, efficacy rate, weight-based dosage, absence status
Psychopharmakotherapie 2021; 28(05):207-209