Pharmakotherapie der ADHS im Erwachsenenalter


Ein aktueller Überblick: Therapeutische Prinzipien, wirksame Substanzen und deren Eigenschaften

Markus Kölle, Sarah Mackert und Alexandra Philipsen, Bonn

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine der häufigsten Entwicklungsstörungen in der Kindheit, der Jugend und im Erwachsenenalter. Zu den Symptomen zählen eine Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit, äußere und innere Unruhe sowie übermäßige Impulsivität.
Psychoedukation ist meist die erste und wichtigste Konsequenz einer ADHS-Diagnose. Aktuelle Leitlinien empfehlen je nach Schweregrad der Symptome eine Psychotherapie und/oder Pharmakotherapie. Methylphenidat, Lisdexamfetamin und Atomoxetin sind in Deutschland zur Behandlung der ADHS bei Erwachsenen zugelassen.
Diese Übersichtsarbeit soll einen Überblick über die aktuell verfügbaren medikamentösen Strategien zur Behandlung der ADHS bieten. Allgemeine Therapieprinzipien, Haupteigenschaften der zur Verfügung stehenden Substanzen und aktuelle Evidenz zu Wirksamkeit und Verträglichkeit werden dargestellt.
Schlüsselwörter: ADHS, Erwachsene, S3-Leitlinie, Psychoedukation, Pharmakotherapie, Methylphenidat, Lisdexamfetamin, Atomoxetin
Psychopharmakotherapie 2021;28:146–54.

ADHS

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine Entwicklungsstörung, deren Symptome bei etwa der Hälfte der in der Kindheit betroffenen Patienten bis ins Erwachsenenalter persistieren und zu relevanten Einschränkungen führen. Weltweit wird von einer durchschnittlichen Prävalenz der ADHS im Kindes- und Jugendalter von 5,29 % ausgegangen, unter Erwachsenen von etwa 2,5 % [35, 41]. In Deutschland konnten Forscher mit einer Studie aus dem Jahr 2012 eine Prävalenz von 4,7 % unter Erwachsenen im Alter von 18 bis 64 Jahren nachweisen [16]. Demgegenüber steht eine bislang deutlich geringere Häufigkeit der Diagnose ADHS unter Erwachsenen in der klinischen Versorgung, wie sich aus Krankenkassen-Daten ergibt [5]. Voraussetzung für die Diagnose im Erwachsenenalter ist eine Manifestation der Störung bereits in der Kindheit, spätestens im zwölften Lebensjahr. Es gibt inzwischen Hinweise auf sogenannte „late onset“-Manifestationen der ADHS. Die bislang hierzu bestehende Evidenz ist jedoch noch nicht ausreichend [3, 36]. Die ICD-10 (International classification of diseases, 10. Aufl.) blieb bezüglich diagnostischer Kriterien für das Erwachsenenalter wenig ergiebig, daher werden international bis heute meist die diagnostischen Kriterien des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) angewandt. Die neu aufgelegte ICD-11 wird hier gewisse Fortschritte bringen [37].

Gemäß DSM lassen sich drei Subtypen oder besser Erscheinungsbilder (nach DSM „presentations“) von ADHS diagnostizieren: die vorwiegend unaufmerksame, die vorwiegend hyperaktiv-impulsive und die kombinierte Form der ADHS, bei der die diagnostischen Kriterien sowohl für Unaufmerksamkeit als auch für Hyperaktivität/Impulsivität erfüllt sind. Es gibt in den beiden Symptom-Kategorien Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität/Impulsivität jeweils neun diagnostische Kriterien. Im Erwachsenenalter müssen in mindestens einer der beiden Kategorien mindestens fünf Kriterien erfüllt sein, damit eine ADHS-Diagnose vergeben werden kann [1].

ADHS ist eine klinische Diagnose. Es gibt kein Test-Instrument, mit dem sich die Störung beweisen oder ausschließen lässt. Aufgabe des Klinikers in der Diagnostik ist es, möglichst viele verlässliche Informationen aus Anamnese und Fremdanamnese sowie nach Möglichkeit Vorbefunde und Therapieberichte aus Kindheit und Jugend, Verhaltensbeschreibungen aus Grundschulzeugnissen, zudem Fragebogen-Ergebnisse und – falls vorhanden – die Ergebnisse einer neuropsychologischen Untersuchung, zusammenzutragen und zu bewerten.

Das klinische Bild verändert sich über die Lebensspanne. Bekannt ist das Phänomen des sogenannten Symptomwandels der ADHS, womit die Veränderung des klinischen Bildes im Lauf des Erwachsenwerdens bezeichnet wird. Gemeint ist im Wesentlichen das Zurücktreten extremer äußerer Unruhe und Impulsivität bei gleichzeitig größer werdender Bedeutung der Aufmerksamkeitsstörung und der beeinträchtigten Selbstorganisation im Erwachsenenalter. Ausgeprägte innere Unruhe und Anspannung können weiterhin vorhanden sein. Auch Defizite hinsichtlich der Regulation von Emotionen können im Erwachsenenalter eine wichtige Rolle spielen. Die Veränderungen über die Lebensspanne dürften zum einen bedingt sein durch Reifungs- und Lernvorgänge, die im Lauf des Erwachsenwerdens zum Beispiel eine bessere Kontrolle über Handlungsimpulse ermöglichen, zum anderen aber auch durch die veränderten Anforderungen im Erwachsenenleben, die manche Defizite deutlicher zum Vorschein bringen [8].

Die Diagnosestellung und die Behandlung der ADHS sollten leitliniengerecht erfolgen. Die aktuell gültige AWMF-Leitlinie ist 2018 als S3-Leitlinie erschienen und gibt evidenzbasierte Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter [4].

Pathophysiologie

Ging man früher bei der ADHS in erster Linie von einer Störung des dopaminergen Systems aus, so ist das heute zunehmend anerkannte pathophysiologische Modell das einer komplexen Reifungsstörung des Gehirns, die vorwiegend frontale und temporale Hirnanteile betrifft [7, 19, 40]. Erblichkeit spielt eine große Rolle bei ADHS, die Heritabilität liegt bei 70 bis 80 % [17]. Wie genetische Mechanismen zum Störungsbild führen, ist bis heute unklar. Die erste große Genom-weite Assoziationsstudie der ADHS hat 12 signifikante Gen-Loci identifiziert, die zusammen jedoch nur ein h2 von 0,22 aufweisen [15]. Das heißt, dass für über zwei Drittel der Heritabilität die vermittelnden Mechanismen nicht bekannt sind. In den Fokus der Forschung rücken daher zunehmend epigenetische Phänomene wie DNA-Methylierung und Mikro-RNAs, aber auch die seltenen Copy-Number-Varianten [26, 29].

Psychoedukation und Psychotherapie

Dass sich eine ADHS im Erwachsenenalter einschränkend auswirkt und unter Umständen zum ersten Mal erkannt und diagnostiziert wird, ist oft eine Folge unpassender oder veränderter Lebensumstände. Seien es erschwerte Bedingungen oder erhöhte Anforderungen im Beruf, der Beginn eines Studiums oder einer anderen Weiterbildungsmaßnahme, Familiengründung oder eine vermeintliche Kleinigkeit wie eine Verletzung, die den gewohnten, regelmäßigen Sport verunmöglicht – alles Umstände, die die Anpassungsfähigkeit eines betroffenen Individuums im Alltag überfordern können. Die Eigenheiten und die besonderen Bedürfnisse, die zu ADHS gehören, im Rahmen einer guten Psychoedukation vermittelt zu bekommen, kann vielen Betroffenen helfen, ihr Lebenskonzept zu prüfen und es für sich selbst passender einzurichten. Leitliniengerecht ist es, in Fällen einer leichtgradigen ADHS ausschließlich psychoedukativ-psychotherapeutisch zu behandeln. Psychoedukation kann im individuellen Kontakt oder im Gruppen-Setting, beispielsweise Manual-basiert, erfolgen. Für kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen konnten signifikante Effekte nachgewiesen werden [25]. Die Überlegenheit einer störungsspezifischen Gruppentherapie gegenüber nicht-spezifischer Versorgung im Einzelsetting konnte nicht gezeigt werden, jedoch führt beides zu einer signifikanten klinischen Besserung, sowohl nach Abschluss der Behandlung als auch später im Verlauf [23, 33]. Für tiefenpsychologisch fundierte Ansätze, die je nach Ausgangssituation und Therapieziel klinisch gegebenenfalls als sinnvoll erachtet werden können, liegt bislang keine wissenschaftliche Evidenz zur Wirksamkeit vor.

Pharmakotherapie der ADHS

Gemäß S3-Leitlinie soll bei einer ADHS von leichtem Schweregrad primär psychosozial – einschließlich psychotherapeutisch – interveniert werden [10]. Ab einem mittleren Schweregrad wird empfohlen, in Abhängigkeit von den vorliegenden Begleitumständen, eine Pharmakotherapie anzubieten. Bei schwergradiger ADHS soll nach einer intensiven Psychoedukation primär eine medikamentöse Behandlung angeboten werden. Bei der Wahl des zu verordnenden Präparats sollen gemäß Leitlinie Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil sowie der jeweilige Zulassungsstatus berücksichtigt werden. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu wissen, dass die Zulassung der im Folgenden genannten Substanzen jeweils „im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie“ gilt, „wenn sich andere therapeutische Maßnahmen alleine als unzureichend erwiesen haben“ (vgl. Fachinformation). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die aktuell zur ADHS-Behandlung zugelassenen Präparate.

Tab. 1. Zur ADHS-Behandlung zugelassene Präparate

Wirkstoff

Handelsnamen

Wirkmechanismus, Substanzklasse

Einnahme, Wirkdauer

Dosierung

Zulassung

Methylphenidat

Medikinet

Ritalin

Medikinet Retard

Ritalin LA

Medikinet Adult

Ritalin Adult

Concerta

Kinecteen

Equasym Retard

(Methylphenidat-Generika)

Dopamin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung,

Stimulans

Medikinet, Ritalin (unretardiert): 1x bis mehrmals tgl., 1–4 h

Medikinet Retard/Adult, Ritalin LA/Adult: 1–2x tgl., 8–10 h

Concerta: 1x tgl., 12 h

Kinecteen: 1x tgl., 12 h

Equasym Retard: 1x tgl., 8–10 h

Medikinet: Tbl. à 5 mg/10 mg/20 mg

Ritalin: Tbl. à 10 mg

Medikinet Retard/Adult: Ret.-Kps. à 5 mg/10 mg/20 mg/30 mg/40 mg

Ritalin LA/Adult: Ret.-Kps. à 10 mg/20 mg/30 mg/40 mg

Concerta: Ret.-Tbl. à 18 mg/27 mg/36 mg/54 mg

Kinecteen: Ret.-Tbl. à 18 mg/27 mg/36 mg/54 mg

Equasym Retard: Ret.-Kps. à 10 mg/20 mg/30 mg

Höchstdosis: 80 mg/Tag

Medikinet, Ritalin, Medikinet Retard, Ritalin LA: Kinder u. Jugendliche ab 6 Jahre

Medikinet Adult, Ritalin Adult: Erwachsene

Concerta, Kinecteen: Kinder u. Jugendliche ab 6 Jahre. Erwachsene, wenn die in Kindheit/Jugend begonnene Behandlung im Erwachsenenalter fortgesetzt wird

Equasym Retard: Kinder u. Jugendliche ab 6 Jahre

Lisdexamfetamin

Elvanse

Elvanse Adult

Dopamin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung, Dopamin-/Noradrenalin-Freisetzung,

Stimulans

Elvanse, Elvanse Adult:

1x tgl., 8–11 h

Elvanse: Ret.-Tbl. à 20 mg/30 mg/
40 mg/50 mg/60 mg/70 mg

Elvanse Adult: Ret.-Tbl. à 30 mg/50 mg/70 mg

Höchstdosis: 70 mg/Tag

Elvanse: Kinder u. Jugendliche ab 6 Jahre, wenn Ansprechen auf Methylphenidat unzureichend

Elvanse Adult: Erwachsene

Dexamfetamin

Attentin

Dopamin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung, Dopamin-/Noradrenalin-Freisetzung,

Stimulans

1x tgl., 8–11 h

Tbl. à 5/10/20 mg

Höchstdosis: 40 mg/Tag

Kinder u. Jugendliche ab 6 Jahre, wenn Ansprechen auf Methylphenidat unzureichend

Atomoxetin

Agakalin

Strattera

(Atomoxetin-Generika)

Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung,

Nicht-Stimulans

Agakalin, Strattera:

t½ = 2–5 h (–21 h bei Poor Metabolizern)

wirkt durchgehend

1x tgl. (morgens)

Agakalin, Strattera: Tbl. à 10/18/25/40/60/80/100 mg

Kinder u. Jugendliche mit KG bis 70 kg:

0,5 mg/kg KG – etwa 1,2 mg/kg KG

Kinder, Jugendliche mit KG > 70 kg, Erwachsene: 40–100 mg/Tag

Kinder u. Jugendliche ab 6 Jahre, Erwachsene

Guanfacin

Intuniv

Alpha-2-Adrenozeptor-Agonismus,

Nicht-Stimulans, Sympathomimetikum

t½ = 13–34 h

wirkt durchgehend

1x tgl. (morgens oder abends)

Tbl. à 1 mg/2 mg/3 mg/4 mg

Kinder/Jugendliche 6–12 Jahre:

ab 25 kg: bis 4 mg/Tag

Kinder/Jugendliche 13–17 Jahre:

34–41,4 kg: bis 4 mg/Tag

41,5–49,4 kg: bis 5 mg/Tag

49,5–58,4 kg: bis 6 mg/Tag

58,5 kg und mehr: bis 7 mg/Tag

Für Erwachsene bislang keine Dosierungsvorschrift

Kinder u. Jugendliche ab 6 Jahre, wenn eine Behandlung mit Stimulanzien nicht infrage kommt, unverträglich ist oder sich als unwirksam erwiesen hat

Bei der Wahl des Medikaments sprechen die relevanten Metaanalysen der vergangenen Jahre für Stimulanzien als erste Wahl bei der Behandlung von Erwachsenen mit ADHS [14, 30]. Bis 2019 bedeutete dies – unter Berücksichtigung des Zulassungsstatus – eine Behandlung mit Methylphenidat. Für Methylphenidat spricht die Wirksamkeit mit Effektstärken um 0,5 bei überwiegend guter Verträglichkeit im Erwachsenenalter [10].

Seit 2019 ist zusätzlich Lisdexamfetamin zur ADHS-Behandlung im Erwachsenenalter in Deutschland zugelassen. Bereits 2018 erschien zudem eine große Metaanalyse, die Lisdexamfetamin bei der Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter als erste Wahl in Bezug auf Wirksamkeit und Verträglichkeit ergab (Methylphenidat bei Kindern und Jugendlichen); dies aufgrund der etwas höheren Effektstärke bei zugleich nicht signifikant höherem Risiko kardiovaskulärer Nebenwirkungen im Vergleich zu Placebo [13].

Sowohl Methylphenidat als auch Lisdexamfetamin eignen sich zur ADHS-Behandlung im Erwachsenenalter und stellen nach den international verfügbaren Leitlinien die Medikation erster Wahl dar. Für Methylphenidat sprechen die umfangreiche Datenlage, basierend auf mehreren Jahrzehnten klinischer Anwendung, und die weniger komplexe Pharmakodynamik. Für Lisdexamfetamin spricht die aktuellste Evidenz in Bezug auf Effektstärken und Verträglichkeit. Aus eigenen Studien ließ sich eine gute Verträglichkeit von Methylphenidat über einen Einnahmezeitraum von bis zu einem Jahr zeigen [22]. Vergleichende Metaanalysen zu einem solch langen Behandlungszeitraum liegen bislang nicht vor.

Pharmakotherapie bei komorbiden Störungen

Komorbide Störungen treten bei ADHS über die Lebensspanne häufig auf. Untersuchungen zu Komorbiditäten bei ADHS zeigen, dass etwa 70 % der Erwachsenen mit ADHS mindestens eine komorbide psychische Störung aufweisen [6, 34]. Sie sind bei vielen Patienten der Anlass, erstmals psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Komorbide Störungen schließen eine ADHS-Behandlung nicht aus, fordern aber ein gezieltes Vorgehen und erhöhte Aufmerksamkeit bei der Behandlung.

Angststörungen

Angststörungen treten bei ADHS mit etwa 25 % Häufigkeit komorbid auf [34, 38, 43]. Die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen ADHS-Behandlung mit Stimulanzien wird durch eine Angststörung nicht signifikant beeinflusst. Ängste können sich neben der ADHS-Symptomatik ebenfalls unter Stimulanzien bessern. Jedoch können unter Stimulanzien auch Angstsymptome neu oder verstärkt auftreten. Die Dosis des verordneten Stimulans sollte dann reduziert werden. Leitliniengerecht kann alternativ Atomoxetin eingesetzt werden. Ebenso ist es möglich, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zusätzlich zu einer Behandlung mit Stimulanzien zu verordnen, dabei sind mögliche Interaktionen zu berücksichtigen.

Depressive Störungen

Depressive Episoden treten mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 30 % komorbid bei ADHS auf [20, 26]. Eine antidepressive Behandlung mit SSRI ist in einem solchen Fall eine bewährte Strategie [18]. Falls keine kombinierte Behandlung mit Stimulanzien und SSRI angestrebt wird, kann eine Monotherapie mit Bupropion eine effektive Strategie sein. Falls eine antidepressive Behandlung in Kombination mit Stimulanzien durchgeführt wird, sollten serotonerg wirksame Substanzen wie Escitalopram, Sertralin oder Fluoxetin eingesetzt werden. Venlafaxin kann erfahrungsgemäß im Dosisbereich bis 150 mg/Tag gut eingesetzt werden, höhere Dosierungen sollten jedoch aufgrund der dann relevant werdenden noradrenergen Wirkkomponente in Kombination mit Stimulanzien nicht zum Einsatz kommen. Bei der Verordnung von Venlafaxin in Kombination mit Stimulanzien sollten unbedingt regelmäßige Kontrollen von Herzfrequenz und Blutdruck erfolgen.

Bipolare Störungen

Bipolare Störungen und ADHS treten ebenfalls komorbid auf und sind zudem genetisch stark assoziiert [44]. Erwachsene Patienten mit einer bipolaren Störung weisen eine Lebenszeit-Prävalenz für ADHS von etwa 10 % auf [32]. Es konnte gezeigt werden, dass die Verordnung von Methylphenidat bei Patienten mit einer bipolaren Störung, welche nicht mit einem Stimmungsstabilisierer behandelt wurden, das Risiko, eine Manie zu erleiden, signifikant erhöht. Jedoch konnte in derselben Untersuchung ebenfalls gezeigt werden, dass der Beginn einer Methylphenidat-Behandlung unter fortlaufender Verordnung einer stimmungsstabilisierenden Medikation, das Risiko, eine Manie zu erleiden, senkt [46]. Bei einer Komorbidität von ADHS und bipolarer Störung scheint sich demnach eine Stimulanzien-Behandlung positiv auf den Verlauf auszuwirken, vorausgesetzt die bipolare Störung wird ebenfalls suffizient medikamentös behandelt.

Schädlicher Substanzgebrauch und Abhängigkeitserkrankungen

Die mit Abstand häufigsten Komorbiditäten bei ADHS im Erwachsenenalter sind substanzbezogene Störungen [34]. Insbesondere der Gebrauch von Substanzen mit ausgeprägter, direkter oder indirekter dopaminerger Wirkung, wie Amphetamine und Cannabis, kommt häufig vor. Auch Alkohol und Nikotin spielen eine relevante Rolle [2]. Wie meist, gibt es hier verschiedene Schweregrade von Erkrankungen mit den entsprechenden Konsequenzen und einen Ermessensspielraum seitens des Behandlers. Nach Leitlinie sind bei Substanzabhängigkeit in der Vorgeschichte langwirksame Stimulanzien indiziert. Ein regelmäßiger Konsum illegaler Substanzen und eine gleichzeitige Stimulanzien-Behandlung schließen sich jedoch aus, zum einen aufgrund der unberechenbaren Risiken durch die Interaktion von illegalen und verordneten Substanzen, zum anderen durch den zu erwartenden, nicht verordnungsgemäßen Gebrauch der Medikation.

Besteht also eine Abhängigkeitserkrankung oder ein schädlicher Gebrauch, sind zunächst diese Störungen – beispielsweise suchtmedizinisch – anzugehen. Bei berichtetem Konsum illegaler Substanzen in der Vorgeschichte sollte nach Möglichkeit zumindest einmal ein Drogenscreening vor einem medikamentösen Behandlungsbeginn durchgeführt werden. Gelegentliche Drogenscreenings im Lauf der Behandlung geben mehr Sicherheit.

Leitliniengerecht ist es, Patienten mit ADHS und einem „erhöhten Risiko für einen nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch der Medikation“ eine Behandlung mit Atomoxetin oder Guanfacin anzubieten. In der Praxis sieht man sich seitens des Patienten immer wieder mit dem Wunsch nach einer Stimulanzien-Verordnung, also einer „legalen Behandlung“ konfrontiert, um mit der illegalen, schädlichen und wenig berechenbaren „Selbstbehandlung“, zum Beispiel mit Cannabis oder Amphetaminen, aufhören zu können. Je nach Einschätzung des Behandlers sollte in solchen Fällen ein konsumfreies Intervall von mindestens sechs Wochen gefordert werden, ebenso ein negatives Drogenscreening vor Behandlung. Es gibt Patienten, die sich ohne Schwierigkeiten an eine solche Vereinbarung halten können, andere nicht. Letzteren sollte man tatsächlich keine Stimulanzien-Behandlung anbieten – die Gefahr von wahllosem Konsum statt verordneter Behandlung ist zu groß und ebenso die damit verbundenen, erheblichen Risiken für den Patienten.

Wirkstoffe zur Behandlung der ADHS

Die zur Verfügung stehenden Substanzen können nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden, üblich ist die Unterscheidung nach Zugehörigkeit zu den Stimulanzien oder Nicht-Stimulanzien. Der folgende Teil soll einen kompakten Überblick über die zur Verfügung stehenden Präparate geben.

Methylphenidat

Methylphenidat war 2011 die erste und bis 2019 die einzige zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter in Deutschland zugelassene Substanz aus der Gruppe der Stimulanzien. Es ist zugleich das in Deutschland bei ADHS am häufigsten verschriebene Stimulans, sowohl im Kindes- und Jugend- als auch im Erwachsenenalter. Methylphenidat ist ein Wiederaufnahmehemmer an Dopamin- und Noradrenalin-Transportern und führt damit zu einer verstärkten dopaminergen und noradrenergen Modulation subkortikaler und kortikaler Gehirnanteile. Die zugelassene Tageshöchstdosis im Erwachsenenalter entspricht 80 mg. Übliche Tagesdosen liegen zwischen 20 und 60 mg, die Wirkdauer der zugelassenen Retardpräparate wird mit acht bis zehn Stunden angegeben. Die Verordnung sollte als einmalige Einnahme morgens oder auf zwei Tagesdosen verteilt im Abstand von etwa vier Stunden erfolgen, typischerweise morgens und mittags. Standardempfehlung ist die einmalige Einnahme morgens, mit einem zweiten Einnahmezeitpunkt kann man häufig Nebenwirkungen abschwächen und das von vielen Patienten um die Mittagszeit wahrgenommene Nachlassen der Wirkung der ersten Dosis mildern. Die Hauptwirkung hält so insgesamt etwa über einen 12-stündigen Tag an. Es stehen zwei für die Behandlung von Erwachsenen zugelassene Retard-Präparate zur Verfügung (Medikinet Adult und Ritalin Adult), die sich in Bezug auf den Freisetzungsmechanismus unterscheiden. Medikinet Adult sollte gemeinsam mit einer Mahlzeit eingenommen werden, Ritalin Adult kann unabhängig von Mahlzeiten eingenommen werden. Es gibt zudem individuelle Unterschiede bezüglich Wirkdauer und Verträglichkeit, welche von Patienten berichtet werden. Bei Schwierigkeiten in der Behandlung mit Methylphenidat kann sich ein Wechsel des Präparats lohnen. Zusätzlich zu den zugelassenen Adult-Präparaten sind auch die Retard-Präparate Concerta und Kinecteen im Erwachsenenalter zugelassen, wenn eine fortlaufende Behandlung mit Concerta aus dem Kindes- und Jugendalter fortgesetzt wird. Beide Präparate werden mit einer Wirkdauer von 12 Stunden einmal täglich morgens (unabhängig von Mahlzeiten) eingenommen. Equasym Retard (Wirkdauer 8 bis 10 Stunden) ist nicht zur Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter zugelassen.

Lisdexamfetamin

Seit 2019 ist Lisdexamfetamin die zweite zugelassene Substanz aus der Gruppe der Stimulanzien zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter. Lisdexamfetamin selbst ist pharmakologisch unwirksam und wird erst durch die hydrolytische Abspaltung von Lysin wirksam. In der wirksamen Form ist es wie Methylphenidat ein Wiederaufnahmehemmer am Dopamin- und Noradrenalin-Transporter. Zusätzlich führt die Bindung am Transporter-Molekül – wie allgemein bei den Amphetaminen – zur Umkehr der Transportrichtung, sodass präsynaptisch eine zusätzliche Ausschüttung von Dopamin bzw. Noradrenalin erfolgt. Mutmaßlich aus diesem zusätzlichen Mechanismus am Transporter resultieren die stärkere Wirksamkeit und auch die höhere Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen bei der Behandlung mit Lisdexamfetamin und anderen Amphetamin-Präparaten. Die Besonderheit des Prodrug-Charakters hat bei Lisdexamfetamin nach Einnahme einen flacheren Anstieg und ein längeres Plateau des Serum-Spiegels der wirksamen Substanz zur Folge. Eine einmalige Einnahme morgens wird empfohlen. Lisdexamfetamin kann unabhängig von Mahlzeiten eingenommen werden. Die zu erwartende Wirkdauer beträgt 10 bis 12 Stunden. Die Höchstdosis ist 70 mg/Tag.

Dexamfetamin

Dexamfetamin-Präparate sind im Kindes- und Jugendalter zugelassen, wenn die Behandlung mit Methylphenidat nachweislich nicht zu einer ausreichenden klinischen Besserung geführt hat oder nicht vertragen wurde. Im Erwachsenenalter kann Dexamfetamin nur im Rahmen einer Off-Label-Behandlung verordnet werden.

Atomoxetin

Atomoxetin ist zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter wie auch im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Atomoxetin ist ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, der zu einer erhöhten Verfügbarkeit des Botenstoffs im synaptischen Spalt noradrenerger Synapsen führt. Im Tiermodell kommt es unter Atomoxetin zu einer verstärkten noradrenergen Stimulation frontaler Gehirnanteile. Dopaminerge Effekte dürften bei der Behandlung allerdings auch eine wichtige Rolle spielen. Präfrontal ist im Tiermodell unter Atomoxetin ebenfalls eine erhöhte dopaminerge Transmission nachweisbar. Dagegen bleibt der Dopamin-Stoffwechsel subkortikaler Strukturen wie Striatum und Nucleus accumbens von Atomoxetin unbeeinflusst [9]. Die Einnahme erfolgt einmal täglich, unabhängig von Mahlzeiten. Typische Schwierigkeiten bei der Behandlung mit Atomoxetin sind der vergleichsweise langsame Wirkungseintritt innerhalb von Wochen bei häufig bereits früh auftretenden unerwünschten Nebenwirkungen. Mögliche unerwünschte Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Schläfrigkeit, Übelkeit, Herzfrequenz- und Blutdruck-Anstieg. Zu beachten ist die hepatische Metabolisierung über Cytochrom P450 (CYP) 2D6 (und in geringeren Anteilen auch CYP2C19). Bei verlangsamtem Metabolismus über CYP2D6 – genetisch bedingt (Poor Metabolizer) oder als Hemmung durch Komedikation – kann es zu einer verlängerten Halbwertszeit und damit erhöhten Serumspiegeln von Atomoxetin kommen. Inhibitorisch an CYP2D6 wirken beispielsweise Paroxetin und Fluoxetin, Melperon, Bupropion und Levomepromazin, aber auch Metoclopramid und Propranolol.

Atomoxetin kann als erste Wahl bei Patienten mit komorbider Angststörung und bei Patienten mit komorbider Abhängigkeitserkrankung verordnet werden. Geduld, insbesondere zu Beginn der Behandlung, ist erforderlich.

Bupropion

Bupropion ist zur Behandlung der ADHS weder im Kindes- und Jugend- noch im Erwachsenenalter zugelassen. Es ist unter dem Handelsnamen Elontril bzw. als Generikum zur Depressionsbehandlung und unter dem Handelsnamen Zyban zur Nikotin-Entwöhnung zugelassen. Bupropion ist ein selektiver Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und verstärkt zusätzlich auch die Ausschüttung von Noradrenalin und Dopamin. Es wird hauptsächlich über CYP2B6 zu Hydroxybupropion und weiteren aktiven Metaboliten verstoffwechselt und erzielt seine Hauptwirkung über Hydroxybupropion, dessen Serumspiegel 3- bis 15-mal höher gemessen werden kann als der Serumspiegel der Muttersubstanz. Dadurch wird eine konstante Wirkung erreicht. Trotz fehlender Zulassung bei ADHS hat Bupropion seinen Stellenwert in der ADHS-Behandlung, insbesondere bei komorbider Depression. Eine Metaanalyse von 2017 konnte eine mittlere Effektstärke von 0,5 zeigen [45]. Es besteht keine BtM-Rezeptpflicht. Das Missbrauchspotenzial ist geringer als bei Methylphenidat oder Amphetaminen, weswegen Bupropion zum Beispiel auch bei der Behandlung von Patienten mit komorbiden substanzbezogenen Störungen als Alternative zu Atomoxetin zum Einsatz kommen kann (off Label bei fehlender Depression).

SS(N)RI

Selektive Serotonin- und selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI bzw. SSNRI) sind zur Behandlung der ADHS weder im Kindes- und Jugendalter noch im Erwachsenenalter zugelassen. Die SSNRI kommen dennoch erfahrungsgemäß in der Behandlung der Erwachsenen-ADHS immer wieder zur Anwendung. Das Wirkungs-/Verträglichkeitsprofil sowie die in den wenigen verfügbaren Studien gezeigten Effektstärken rechtfertigen jedoch nicht den Einsatz zur Behandlung der ADHS-Kernsymptomatik. Nur zur Behandlung komorbider affektiver Störungen und Angststörungen sollten SSRI eingesetzt werden.

Guanfacin

Guanfacin ist in Deutschland im Kindes- und Jugendalter als Second-Line-Präparat zugelassen. Guanfacin ist ein (postsynaptischer) Alpha-2A-Adrenozeptor-Agonist. Die Wirkung bei ADHS wird vermutlich über die Bindung an präfrontalen Adrenozeptoren vermittelt. In einer Metaanalyse zu Effektstärken von Alpha-2A-Adrenozeptor-Agonisten in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen konnten für Guanfacin mittlere Effektstärken für die Monotherapie und etwas niedrigere Effektstärken in der Kombinationsbehandlung mit Stimulanzien gezeigt werden [21]. Bei Kindern und Jugendlichen kann Guanfacin ebenfalls zur Behandlung komorbider Tic- und Angststörungen eingesetzt werden. Es ist eine mögliche Alternative als Off-Label-Behandlung im Erwachsenenalter, anstelle von – oder in Kombination mit – Stimulanzien. Sedierung, Herzfrequenz-Senkung, Blutdruck- und EKG-Veränderungen können Nebenwirkungen von Guanfacin sein und erfordern ein regelmäßiges Monitoring.

Clonidin

Clonidin ist ebenfalls ein Alpha-2A-Adrenozeptor-Agonist. Clonidin ist in den USA zur Behandlung der ADHS zugelassen In Deutschland ist es in dieser Indikation nicht zugelassen, deshalb ist nur eine Off-Label-Behandlung mit Clonidin möglich. Für Clonidin konnten ebenfalls Effekte auf ADHS-Symptome sowohl als Monotherapie als auch in Kombination mit Stimulanzien gezeigt werden. Ebenso wie bei Guanfacin ist auf die möglichen Nebenwirkungen Sedierung, Hypotonie, Herzfrequenz-Senkung und EKG-Veränderungen zu achten.

Modafinil

Modafinil ist nicht zur ADHS-Behandlung zugelassen. Der Wirkungsmechanismus von Modafinil ist letzten Endes unklar. Es gibt Hinweise auf eine Modulation sowohl exzitatorischer als auch inhibitorischer Transmitter. Zudem konnte gezeigt werden, dass die Ausschüttung von Orexinen durch Modafinil gesenkt wird. Modafinil kann eine Reihe von Nebenwirkungen auslösen, darunter auch potenziell lebensbedrohliche Überempfindlichkeitsreaktionen der Haut. Die vorhandene Evidenz sowie das Nebenwirkungsprofil rechtfertigen keine Empfehlung für die Verordnung von Modafinil zur Behandlung von ADHS.

Untersuchungen vor Beginn einer medikamentösen Behandlung, Monitoring im Verlauf

Alle zur ADHS-Behandlung geeigneten Substanzen können Herzfrequenz und Blutdruck beeinflussen und zu EKG-Veränderungen führen. Methylphenidat und Amphetamin-Präparate sind bei manifesten, schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen kontraindiziert. Leitliniengerecht ist daher zumindest eine einmalige Bestimmung von Blutdruck und Puls sowie eine sorgfältige (Familien-)Anamnese hinsichtlich kardiovaskulärer Vorerkrankungen vor Behandlungsbeginn. Bei Hinweisen auf mögliche Vorerkrankungen sollte ein EKG abgeleitet werden, gegebenenfalls sollte auch eine vollständige kardiologische bzw. angiologische Abklärung erfolgen.

Im Therapieverlauf sollten kardiovaskuläre Parameter regelmäßig kontrolliert werden. Herzfrequenz und Blutdruck sollten etwa alle drei Monate kontrolliert werden, einmal jährlich sollte ein Ruhe-EKG durchgeführt werden.

Therapieverlauf

Erwachsene mit ADHS können typischerweise bereits nach wenigen Tagen beurteilen, ob eine Stimulanzien-Behandlung ihre Symptome verbessert oder nicht. Es ist jedoch auch möglich, dass zunächst über zwei bis vier Wochen in höhere Dosisbereiche gesteigert werden muss, bevor eine klinische Besserung eintritt. In den ersten Tagen der Behandlung und auch nach Dosis-Steigerungen treten häufig Kopfschmerzen auf, die innerhalb von zwei bis drei Wochen remittieren. Für die Stimulanzien-Behandlung sind im Verlauf jährliche Absetzversuche empfohlen.

Bei der Behandlung mit Atomoxetin und Alpha-2-Adrenozeptor-Agonisten ist zu Anfang meist eine längere Behandlungsdauer erforderlich, um den Therapieeffekt beurteilen zu können. Bei Alpha-Adrenozeptor-Agonisten kann die Wirkung meist innerhalb von drei bis vier Wochen beurteilt werden, die Wirkung von Atomoxetin kann in der Regel nach etwa acht Wochen Behandlungsdauer beurteilt werden.

Neue medikamentöse Therapieansätze

Mit Stimulanzien, anderen Dopamin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern und Alpha-2-Adrenozeptor-Agonisten stehen heute bewährte Substanzen zur medikamentösen Behandlung der ADHS zur Verfügung. Eine Metaanalyse randomisiert-kontrollierter Studien (RCT), die in den Jahren 2014 bis 2019 im Studienregister clinicaltrials.gov registriert wurden, konnte 28 RCTs identifizieren, mit denen neue Nicht-Stimulanzien auf ihre Wirksamkeit bei ADHS geprüft werden sollten. Darunter waren die Dreifach-Wiederaufnahmehemmer Centanafadin und Dasotralin, der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Viloxazin und das aus der Depressions-Behandlung bekannte Vortioxetin (Serotonin-Modulator). Außerdem wurden Studien zur Wirksamkeit von Fasoracetam (Nootropikum), Metadoxin (5-HT2B-Antagonist und GABA-Transaminase-Hemmer), Tipepidin Hibenzat (Antitussivum), Oxytocin (Hormon), Nabiximols (Cannabis-Extrakt) und Mazindol (atypisches Stimulans) registriert [31]. (Nur einige der genannten Substanzen sind in Deutschland zugelassen.) Die Autoren der Metaanalyse prüften dann verfügbare Daten zur Wirksamkeit aus den registrierten Studien. Die höchsten Effektstärken aus den verfügbaren Wirksamkeitsstudien konnten für Mazindol (Effektstärke 1,09) gezeigt werden, wobei die Autoren darauf hinweisen, dass die Daten aus einer Industrie-unterstützten Studie stammen und die Replikation abgewartet werden sollte. Für die weiteren untersuchten Substanzen konnten lediglich moderate Effektstärken gefunden werden, wobei Viloxazin einen Wirkeintritt bereits innerhalb einer Woche aufwies.

Die Zulassung neuer, wenn auch teils schon aus anderen Bereichen bekannter Substanzen – im Sinne eines Drug-Repurposing – scheint somit im Bereich ADHS in den nächsten Jahren durchaus möglich.

Weitere Therapieansätze

Zusätzlich zu psychoedukativ-psychotherapeutischen und medikamentösen Ansätzen gibt es inzwischen auch Erfahrungen und Evidenz für eine Reihe weiterer therapeutischer Strategien. Der Einsatz von Neurofeedback-basiertem Aufmerksamkeitstraining bei ADHS ist in verschiedener Form inzwischen sowohl im Kindes- und Jugendalter als auch im Erwachsenenalter etabliert. Eine große kontrollierte Studie mit erwachsenen Patienten hat zuletzt Zweifel an der Spezifität des EEG-Neurofeedback aufkommen lassen [39], weitere Studien mit verschiedenen Feedback-Verfahren folgen aktuell [48]. Im Bereich Ernährung sind sowohl Nahrungsergänzungen mit Vitaminen, Fettsäuren oder Zink als auch die Restriktion bestimmter Nahrungsanteile verbreitet und untersucht worden [24, 27, 28]. Eine Metaanalyse zur Effizienz nichtpharmakologischer Interventionen bei ADHS konnte lediglich für die Supplementierung von Omega-3/-6-Fettsäuren und für den Verzicht auf künstliche Nahrungsmittel-Farbstoffe signifikante Effekte zeigen [42].

Einen großen Stellenwert in der Psychoedukation und im therapeutischen Gesamtkonzept hat das Thema körperliche Aktivität und Sport. Für regelmäßigen Ausdauersport im Kindesalter konnten geringe, aber signifikante Effekte in kontrollierten Studien und Metaanalysen gezeigt werden [11, 12, 47].

Zusammenfassung

Die ADHS ist eine Entwicklungsstörung im Kindes- und Jugendalter, die bei etwa der Hälfte der Betroffenen auch im Erwachsenenalter weiterbesteht und zu Beeinträchtigungen führt. Psychoedukation ist die erste Konsequenz einer ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter. Zur medikamentösen Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter steht eine Auswahl an Stimulanzien und Nicht-Stimulanzien zur Verfügung. Die Präparate unterscheiden sich in Bezug auf Hauptwirkung, Verträglichkeitsprofil und Zulassungsstatus. Stimulanzien sind in der Mehrzahl der Fälle erste Wahl in der medikamentösen ADHS-Behandlung. Komorbiditäten kommen häufig vor und schließen eine Stimulanzien-Behandlung nicht aus. Auch ein Substanzgebrauch in der Vorgeschichte schließt eine Stimulanzien-Behandlung nicht aus, jedoch sind konsequentes Vorgehen und erhöhte Aufmerksamkeit bei der Behandlung erforderlich. Je nach Komorbidität können Nicht-Stimulanzien erste Wahl in der Behandlung sein. Wie sich die Häufigkeit der Verordnung von Methylphenidat im Vergleich zu Lisdexamfetamin mittel- und langfristig entwickelt, wird zu untersuchen sein. Zugleich wird weiter nach wirksamen Substanzen gesucht. Kandidaten in der Prüfung sind zum Beispiel das atypische Stimulans Mazindol oder der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Viloxazin, für welche bereits erste Daten vorliegen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass zur ADHS-Behandlung bei Erwachsenen aus einer Reihe wirksamer und gut verträglicher Substanzen gewählt werden kann. Wenn nach sorgfältiger Abwägung die medikamentöse ADHS-Behandlung gelingt, kann mit einem anhaltenden Therapieerfolg über Jahre und mit einer hohen Patientenzufriedenheit gerechnet werden.

Interessenkonflikterklärung

Markus Kölle: keine Interessenkonflikte.

Sarah Mackert: keine Interessenkonflikte.

Alexandra Philipsen: Forschungsunterstützung durch die Firma Medice. Beratertätigkeit für die Firmen Medice, Shire/Takeda, Boehringer. Supervisorin für Verhaltenstherapie und Dialektisch-Behaviorale Therapie. Autorin von Buchartikeln und Büchern zur Behandlung von ADHS.

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Prof. Dr. med. Alexandra Philipsen, Universitätsklinikum Bonn, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Venusberg-Campus 1, 53127 Bonn, E-Mail: Sekretariat.Psychiatrie@ukbonn.de

Dr. med. Sarah Mackert, Dr. med. Markus Kölle, Universitätsklinikum Bonn, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Venusberg-Campus 1, 53127 Bonn

Pharmacotherapy in adult ADHD

Attention deficit/hyperactivity disorder (ADHD) is on of the most common developmental disorders in childhood, adolescence and adulthood. The symptoms are an impaired ability to concentrate, restlessness and impulsivity. In most cases, psychoeducation is the first and most important consequence of an ADHD diagnosis. Current guidelines recommend psychotherapy and/or pharmacotherapy, depending on symptom severity. Methylphenidate, lisdexamfetamine and atomoxetine are approved for the treatment of adult ADHD in Germany. This review is intended to provide an overview of the currently available drug strategies for the treatment of adult ADHD. General therapeutic principles, main characteristics of the available substances and relevant evidence on efficacy and tolerability are discussed.

Key words: ADHD, adult, S3-guideline, psychoeducation, pharmacotherapy, methylphenidate, lisdexamfetamine, atomoxetine

Psychopharmakotherapie 2021; 28(04):146-154