Sabine M. Rüdesheim, Frechen
Migräne ist eine häufige Erkrankung: Jeden Tag erleiden 7 bis 8 % der Bevölkerung in Europa eine Migräneattacke; 27 % der Betroffenen sind schwer in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt. Allerdings erkennen lediglich 70 % der Betroffenen, dass sie unter Migräne leiden, und nur 41 % von ihnen suchen einen Arzt auf. Nach einer Befragung unter Hausärzten erhalten etwa 30 % der Kopfschmerzpatienten keine spezifische Diagnose und der Großteil von ihnen erhält keine adäquate Akuttherapie.
Entdeckung des migräneauslösenden Neuropeptids CGRP war Grundlage für die Entwicklung einer medikamentösen Prophylaxe, die spezifisch in die komplexe Abfolge der Migränekaskade eingreift, indem CGRP bzw. sein Rezeptor durch spezifische monoklonale Antikörper blockiert werden. Für CGRP-(Rezeptor-)Antikörper besteht nach den Leitlinien eine Indikation, wenn ≥ 3 Migräneattacken pro Monat auftreten, Migräneattacken regelmäßig länger als 72 Stunden anhalten, bei Nichtansprechen bzw. -tolerieren der Akuttherapie, Zunahme der Attackenfrequenz und Einnahme von Schmerz- oder Migränemitteln an mehr als zehn Tagen im Monat sowie bei komplizierten Migräneattacken mit beeinträchtigenden und/oder langanhaltenden Auren.
Ist die Indikation für einen CGRP-Antikörper abgeklärt, sind juristische, medizinische und wirtschaftliche Faktoren zu beachten und das Ansprechen durch eine genaue Dokumentation zu belegen. Dabei sind bei der Beurteilung des Therapieerfolgs neben der Reduzierung der Kopfschmerztage vom Patienten berichtete Behandlungserfahrungen, die mit dem Headache-Impact-Test-6 oder Migraine-Disability-Assessment-Score erfasst werden können, als alternative Kriterien in den Leitlinien verankert [1].
Behandlung unter Real-Life-Bedingungen
Im klinischen Alltag ist die Persistenz mit etwa 25 % nach sechs Monaten bei der Behandlung mit CGRP-(Rezeptor-)Antikörpern wesentlich besser als bei den herkömmlichen Prophylaktika, für die Nebenwirkungen und fehlende Wirksamkeit als häufigste Gründe für einen Therapieabbruch angegeben werden. Im Westdeutschen Kopfschmerzzentrum (WKZ) des Universitätsklinikums Essen wurden bislang 46 Patienten mit dem monoklonalen CGRP-Antikörper Fremanezumab behandelt, 40 davon mit einer Quartalsdosierung (675 mg alle drei Monate). Von diesen wechselten fünf Patienten im Verlauf auf monatliche Dosierung (225 mg jeden Monat). Von 33 Patienten liegen 3-Monats-Behandlungsdaten vor, von denen 15 an chronischer und 18 an episodischer Migräne litten. Bei allen wurde nach 3-monatiger Therapie eine signifikante Reduktion der Kopfschmerz- bzw. Migränetage sowie Einnahmetage von Akutmedikation mit Fremanezumab beobachtet. Als Nebenwirkungen traten lediglich Rötungen um die Injektionsstelle auf. In keinem Fall wurden die typischen Nebenwirkungen der „alten Prophylaktika“ wie Müdigkeit, kognitive Nebenwirkungen, Gewichtszunahme oder Depression beobachtet und es wurde kein Therapieabbruch verzeichnet. Mit dem CGRP-Rezeptor-Antikörper Erenumab vorbehandelte Patienten respondierten in dieser Fallserie zwar schlechter als ein naives Kollektiv – trotzdem ist ein Therapiewechsel sinnvoll, weil einige Patienten ein sehr gutes Ansprechen auf den zweiten Antikörper zeigen, signalisierte Prof. Dagny Holle-Lee, Essen.
Der Einsatz als Quartalsdosierung ist in Deutschland zurzeit lediglich mit Fremanezumab möglich [2]. Ein therapeutischer Unterschied zur Monatsdosierung wurde nicht festgestellt. Von der Quartalsdosierung können zum Beispiel Patienten mit Spritzenphobie profitieren oder solche, die viel reisen oder die aus bestimmten Gründen nicht selbst spritzen können.
Laut Prof. Dr. Stefan Evers, Coppenbrügge, sind die CGRP-Antikörper ein Meilenstein in der prophylaktischen Behandlung von Migränepatienten. Da sich nur aus einer guten Datengrundlage Therapieentscheidungen ableiten lassen, empfahl er, auch weiterhin Langzeitdaten hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit zu generieren. Die von den Leitlinien empfohlene Therapiepause nach neun bis 12 Monaten sollte nach Holle-Lee nochmals intensiv diskutiert und weiter wissenschaftlich evaluiert werden.
Quelle
Prof. Dr. med. Dr. phil. Stefan Evers, Coppenbrügge; Prof. Dr. med. Zaza Katsarava, Unna; Dr. med. Axel Heinze, Kiel; Prof. Dr. med. Dagny Holle-Lee, Essen; virtuelles Symposium „Anti-CGRPs gegen die Migräne: Sie kamen, sie sahen, sie siegten?“, veranstaltet von Teva im Rahmen des Deutschen Schmerz- und Palliativtags, 12. März 2021.
Literatur
1. Diener HC, et al. Prophylaxe der Migräne mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor. Im Internet: https://dgn.org/wp-content/uploads/2013/01/030057_LL_Addendum_Migr%C3%A4ne_2019_aktualisiert2.pdf (Zugriff am 18.03.2021).
2. Fachinformation AJOVY® 225-mg-Injektionslösung in Fertigspritze/Fertigpen. Stand: September 2020.
Psychopharmakotherapie 2021; 28(04):172-183