Dr. med. Peter Stiefelhagen, Starnberg
Nicht-dystrophe Myotonien (NDM) sind eine Gruppe seltener, erblich bedingter, neuromuskulärer Störungen. Ihre Prävalenz liegt weltweit bei 1 : 100 000. Sie werden autosomal rezessiv oder autosomal dominant vererbt. Die Erkrankungen äußern sich in einer verzögerten Muskelrelaxation, auch Myotonie genannt. Bei einigen Formen entwickeln sich auch passagere Lähmungen.
Vielfältige Symptome
Unter einer Myotonie versteht man die Unfähigkeit, eine willkürliche Muskelkontraktion zu lockern. Das kann zu Problemen bei vielen alltäglichen Aktivitäten wie Händeschütteln, Treppensteigen, Blinzeln oder Überqueren der Straße führen. Dazu kommen Schmerzen und Müdigkeit als die häufigsten Myotonie-Symptome. Individuell können neben Beinen und Armen auch Augenlider, Kiefer, Rachen oder Speiseröhre betroffen sein. Somit beeinträchtigen diese Erkrankungen, auch wenn sie keine prognostische Relevanz haben, die Lebensqualität der Betroffenen deutlich. Im Unterschied zu myotonen Dystrophien treten bei den nicht-dystrophen Myotonien neben der Myotonie keine weiteren Störungen, insbesondere keine Dystrophien auf.
Antiarrhythmika sind Arzneimittel der ersten Wahl
Ursache der verzögerten Muskelrelaxation ist die genetisch determinierte Übererregbarkeit der Skelettmuskulatur. Die Mutationen betreffen die Gene für die Natrium- oder Chlorid-Kanäle, die in der Skelettmuskulatur exprimiert werden. Daraus ergibt sich die Wirksamkeit von Antiarrhythmika wie Mexiletin, Flecainid und Propafenon, die als Arzneimittel der ersten Wahl gelten. Arzneimittel der zweiten Wahl sind Antiepileptika wie Lamotrigin, Carbamazepin oder Phenytoin. Alle diese Arzneimittel stellten bisher einen Off-Label-Use dar.
Mexiletin (Namuscla®) ist das erste, offiziell im Dezember 2018 von der Europäischen Kommission zugelassene Medikament für die Behandlung der Myotonie bei Erwachsenen mit nicht-dystrophischen myotonischen Erkrankungen. Seine Entwicklung ist ein Beispiel für sogenanntes Repurposing, denn bis 2009 war Mexiletin als Antiarrhythmikum verfügbar.
Mexiletin wird oral verabreicht, und zwar mit einer empfohlenen Anfangsdosis von einer Kapsel (167 mg Mexiletin). Die Dosierung kann abhängig von der Schwere der Symptomatik und dem klinischen Ansprechen auf drei Kapseln täglich gesteigert werden.
Überzeugende Studienevidenz
Die Zulassung basiert auf den Daten mehrerer Studien. So wurden die Wirksamkeit und Sicherheit von Mexiletin in einer multizentrischen, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Cross-over-Studie (MYOMEX) bei 25 Erwachsenen mit NDM sowie zwei weiteren Placebo-kontrollierten klinischen Studien und einer retrospektiven Langzeitstudie dokumentiert. Mit Mexiletin konnte eine signifikante Besserung der Muskelsteifigkeit und eine deutliche Steigerung der Lebensqualität im Vergleich mit Placebo erreicht werden, und dies bei einem sehr guten Nutzen-Risiko-Profil.
Der primäre Endpunkt der MYOMEX-Studie war die Einstufung der Muskelsteifigkeit anhand einer visuellen Analogskala (0−100 mm). Gegenüber dem Ausgangswert wurde der Wert durch Mexiletin im Median um 42 mm gesenkt, unter Placebo stieg er um 2 mm (p < 0,001). Dieses Ergebnis bedeutet einen signifikanten und klinisch relevanten Behandlungseffekt. Dabei erwies sich Mexiletin als sicher und gut verträglich. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Bauchschmerzen (12 %), Schwindel (8 %) und Schlafstörungen (12 %) [1].
Risiken durch Interaktionen
Unter der Therapie mit einem Antiarrhythmikum sollte sich bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder Arrhythmien die QTc-Zeit nicht um mehr als 20 % verlängern. Grundsätzlich sollte die QTc-Zeit nicht mehr als 500 ms betragen. Deshalb erfordert die Gabe von Mexiletin regelmäßige kardiologische Kontrollen.
Auch müssen zahlreiche Interaktionen bedacht werden. Bei einer Umstellung von Propafenon oder Flecainid auf Mexiletin ist der Abbau von Mexiletin verzögert. CYP1A2-Inhibitoren wie Ciprofloxazin, Fluvoxamin und Propafenon steigern den Effekt von Mexiletin. Mexiletin ist selbst ein potenter CYP1A2-Inhibitor; so reduziert es den Metabolismus von Theophyllin, Tizanidin und Coffein um 50 %. CYP1A2-Induktoren wie Omeprazol, Phenytoin und Rifampicin reduzieren den Effekt von Mexiletin durch einen beschleunigten Metabolismus in der Leber. Rauchen erhöht durch eine Induktion von CYP1A2 die Clearance von Mexiletin um das 1,3- bis 1,7-Fache, wobei die Interaktion nicht durch Nikotin, sondern durch Teerbestandteile des Tabakrauchs zustande kommt [2].
Fazit
Den nicht-dystrophen Myotonien liegt eine genetisch bedingte Störung der Natrium- oder Chlorid-Kanäle zugrunde. Mit Mexiletin steht eine medikamentöse Therapie zur Verfügung, die nach vorliegenden Studienergebnissen die Muskelsteifigkeit signifikant verringert und die Lebensqualität deutlich verbessert. Doch bei Gabe dieser Substanz müssen eine Reihe von Interaktionen bedacht werden.
Quelle
Prof. Dr. med. Christiane Schneider-Gold, Bochum, virtuelles Symposium „Seltene neuromuskuläre Erkrankungen im Fokus“, veranstaltet von Hormosan Pharma im Rahmen des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung, 13. November 2020.
Literatur
1. European Medicines Agency. Namuscla assessment report EMA/831802/2018, section 2.5.2 and table, 7, October 2018.
2. Namuscla®-Fachinformation, Stand Dezember 2018.
Psychopharmakotherapie 2021; 28(01):40-49