Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Bei der multiplen Sklerose werden zwei Verlaufsformen unterschieden. Am häufigsten ist der schubförmige Verlauf, wobei nach den einzelnen Schüben durchaus Restsymptome verbleiben können. Seltener ist die progrediente MS mit der Unterscheidung in primär progrediente und sekundär progrediente MS. Bei der sekundär progredienten MS beginnt die Erkrankung mit Schüben und geht dann in einen progredienten Verlauf über. Im Gegensatz zu rein entzündlichen pathophysiologischen Mechanismen spielen bei der progredienten MS neurodegenerative Prozesse eine wichtige Rolle. Daher stammt die Hypothese, dass Biotin bei der progredienten MS möglicherweise wirksam sein könnte. In präklinischen Modellen verbessert Biotin die Reparatur von entzündlich geschädigtem Myelin und unterstützt die Synthese von Myelin.
Die MS-SPI-Studie war eine randomisierte, doppelblinde, Placebo-kontrollierte Studie mit 154 Patienten mit progredienter MS und ergab, dass MD1003 den Behinderungsgrad über 12 Monate hinweg verbesserte [1]. Die SPI2-Studie wurde konzipiert, um die Sicherheit und Wirksamkeit von MD1003 bei progredienten Formen der multiplen Sklerose in einer größeren, repräsentativeren Patientenkohorte zu untersuchen.
Studiendesign
SPI2 war eine randomisierte, doppelblinde, Placebo-kontrollierte Parallelgruppenstudie, die an 90 MS-Zentren in 13 Ländern durchgeführt wurde. Die Patienten waren 18 bis 65 Jahre alt und hatten eine primär oder sekundär progrediente multiple Sklerose. Sie wiesen eine Punktzahl auf der Expanded Disability Status Scale (EDSS) von 3,5 bis 6,5 auf und benötigten im Timed 25-Foot Walk (TW25) für eine Gehstrecke von 25 Fuß (ca. 7,6 m) weniger als 40 Sekunden. In den letzten zwei Jahren hatten sie nachweislich ein Fortschreiten der klinischen Behinderung, aber keine MS-Schübe. Begleitende krankheitsmodifizierende Therapien waren erlaubt. Die Patienten wurden nach dem Zufallsprinzip (1 : 1) mit MD1003 (oral verabreichtes Biotin 100 mg dreimal täglich) oder Placebo behandelt. Teilnehmer, Untersucher und Begutachter waren bezüglich der Behandlungszuweisung verblindet.
Der primäre Endpunkt war der Anteil der Studienteilnehmer mit einer bestätigten Verbesserung der EDSS oder TW25 im Monat 12 mit Bestätigung im 15. Monat gegenüber dem Ausgangswert. Die Sicherheitsanalyse umfasste alle Teilnehmer, die mindestens eine Dosis von MD1003 erhalten hatten.
Ergebnisse
Von Februar 2017 bis Juni 2018 wurden 642 Teilnehmer mit MD1003 (n = 326) oder Placebo (n = 316) behandelt. Die Patienten waren im Mittel 52,7 Jahre alt und 46 % waren Männer. 35 % hatten eine primär und 65 % eine sekundär progrediente MS. Die doppelblinde, Placebo-kontrollierte Phase der Studie endete im November 2019. Die mittlere Zeit in der Placebo-kontrollierten Phase betrug 20,1 Monate.
Bezüglich des primären Endpunkts verbesserten sich innerhalb von 12 Monaten 39 (12 %) Patienten in der MD1003-Gruppe und 29 (9 %) in der Placebo-Gruppe. Dies entspricht einem Odds-Ratio von 1,35 und einem 95%-Konfidenzintervall (KI) von 0,81 bis 2,26. Die Studie ergab auch für alle sekundären Endpunkte keine signifikanten Unterschiede.
Unerwünschte Ereignisse traten bei 277 (84 %) von 331 Teilnehmern in der MD1003-Gruppe auf und bei 264 (85 %) von 311 in der Placebo-Gruppe. 87 (26 %) Teilnehmer in der MD1003-Gruppe und 82 (26 %) Teilnehmer der Placebo-Gruppe hatten mindestens eine schwerwiegende Nebenwirkung. Ein Patient starb plötzlich aus ungeklärter Ursache in der MD1003-Gruppe. Es gab keine Todesfälle in der Placebo-Gruppe.
Verfälschte Laborergebnisse
Die Autoren der SPI2-Studie weisen darauf hin, dass hohe Biotin-Konzentrationen im Blut die Ergebnisse von Immunoassays verfälschen können, die auf der Wechselwirkung von Biotin und Streptavidin beruhen. Solche Tests sind zum Beispiel in der Herzinfarkt- oder Schilddrüsenfunktionsdiagnostik verbreitet. Verfälschte Testergebnisse können zu falschen Therapieentscheidungen führen. Auch deshalb, nicht nur wegen des fehlenden Wirksamkeitsnachweises, raten die Autoren von der Einnahme von hochdosiertem Biotin gegen progrediente MS ab.
Kommentar
Die Ergebnisse dieser viel beachteten Studie sind natürlich frustrierend. Viele betroffene Patienten hatten gehofft, dass mit Biotin eine wirksame und gleichzeitig nebenwirkungsarme Therapie der progredienten MS zur Verfügung steht. Die Studie war bezüglich der Patientenzahl ausreichend dimensioniert, aber für alle primären und sekundären Endpunkte eindeutig negativ. Daher kann Biotin zur Therapie der progredienten MS nicht empfohlen werden.
Quelle
Cree BAC, et al. Safety and efficacy of MD1003 (high-dose biotin) in patients with progressive multiple sclerosis (SPI2): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet Neurol 2020;19:988–97.
Literatur
1. Tourbah A, et al. MD1003 (high-dose biotin) for the treatment of progressive multiple sclerosis: A randomised, double-blind, placebo-controlled study. Mult Scler 2016;22:1719–31.
Psychopharmakotherapie 2021; 28(01):40-49