Welchen patientenrelevanten Nutzen haben neue Arzneimittel in der Neurologie und Psychiatrie?


Manuela Bamberger, Siezenheim (Österreich)

Neu zugelassene Arzneimittel werden in den Medien vor allem in zwei Zusammenhängen erwähnt, entweder in Kontext mit hohen Kosten einzelner Wirkstoffe, oder in Bezug auf die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung. Wird in der frühen Nutzenbewertung kein Zusatznutzen anerkannt, wird dies vereinfachend als fehlender therapeutischer Mehrwert im Vergleich zu vorhandenen Therapieoptionen kommuniziert. In den Indikationsgebieten Neurologie und Psychiatrie ist der Anteil von Arzneimitteln mit bestätigtem Zusatznutzen besonders niedrig. Bringen neue Arzneimittel in der Neurologie und Psychiatrie den Patienten keinen Mehrwert?
Schlüsselwörter: Nutzenbewertung, Zusatznutzen, AMNOG, Neurologie, Psychiatrie
Psychopharmakotherapie 2020;27:289–94.

Die frühe Nutzenbewertung von Arzneimitteln in Deutschland

Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) wurde 2011 die frühe Nutzenbewertung in Deutschland eingeführt. In diesem Verfahren soll beurteilt werden, ob ein erstattungsfähiges Arzneimittel mit einem neu zugelassenen Wirkstoff einen therapeutischen Mehrwert („Zusatznutzen“) gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) besitzt. In der frühen Nutzenbewertung wird das zu bewertende Arzneimittel daher mit der ZVT, gegebenenfalls auch mit mehreren ZVTs für unterschiedliche Patientenpopulationen, verglichen.

Die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung gewinnen zwar in zunehmendem Maße Bedeutung für den ärztlichen Behandlungsalltag, ursprünglich wurden sie jedoch rein als Preisfindungsinstrument konzipiert. Das Budget der gesetzlichen Krankenversicherung sollte nur mit Mehrausgaben für patentgeschützte Arzneimittel belastet werden, wenn diese einen therapeutischen Mehrwert gegenüber bereits vorhandenen Therapieoptionen, beziehungsweise der ZVT, aufweisen.

Die Entscheidung über die Anerkennung eines Zusatznutzens fällt im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung mit Entscheidungskompetenz über den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die frühe Nutzenbewertung als Instrument zur Preisbildung von Arzneimitteln

Die ZVT fungiert als Referenz für die Preisverhandlungen. Wird der Zusatznutzen eines Arzneimittels für mindestens eine Subgruppe der Patientenpopulation bestätigt, können der pharmazeutische Unternehmer und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen einen Erstattungsbetrag vereinbaren, der über dem der ZVT liegt. Kommt der G-BA in seiner Bewertung jedoch zum Schluss, der Zusatznutzen eines Arzneimittels im Vergleich zur ZVT sei nicht belegt, ist das Arzneimittel bestenfalls zu den Kosten der ZVT erstattungsfähig.

Auch wenn die mediale Aufmerksamkeit hochpreisigen Arzneimitteln gilt, so sind am anderen Ende des Preisspektrums Tagestherapiekosten im Bereich weniger Cent möglich. Insbesondere in Indikationen, in denen günstige Generika als ZVT verfügbar sind, lassen sich die Erstattungsbeträge „zusatznutzenloser“ Arzneimittel auf ein niedriges Niveau festlegen.

Die Indikationen Neurologie und Psychiatrie in der frühen Nutzenbewertung

Zwischen den einzelnen Fachgebieten sind deutliche Unterschiede in der frühen Nutzenbewertung erkennbar, sowohl hinsichtlich der Häufigkeit der durchgeführten Verfahren als auch der Bewertungsergebnisse.

Mit Stand Ende April 2020 wurden 471 Verfahren der frühen Nutzenbewertung abgeschlossen. Etwa 40 % davon (191 Verfahren) entfallen auf onkologische Arzneimittel. In der Indikation „Neurologie“ wurden im selben Zeitraum 33 Verfahren (einschließlich Orphan-Drugs) durchgeführt, in der Indikation „psychische Erkrankungen“ lediglich sechs [8].

Ergebnisse der Nutzenbewertung

Für psychiatrische Arzneimittel konnte in einem Verfahren ein Zusatznutzen bestätigt werden (Tab. 1), in fünf Verfahren gilt ein Zusatznutzen als nicht belegt (Tab. 2). Der Zusatznutzen neurologischer Arzneimittel wurde in zehn Verfahren bestätigt (Tab. 1) und gilt in 17 Verfahren als nicht belegt (Tab. 2).

Tab. 1. Arzneimittel mit bestätigtem Zusatznutzen für mindestens eine Subgruppe der Patienten in der Neurologie und Psychiatrie

Indikation

Wirkstoff

Jahr der Beschlussfassung

Neurologie

Migräneprophylaxe

Erenumab

2019

Migräneprophylaxe

Fremanezumab

2019

Migräneprophylaxe

Galcanezumab

2019

Multiple Sklerose

Fingolimod (rasch fortschreitende schubförmig remittierende multiple Sklerose)

2012

Multiple Sklerose

Fingolimod (rasch fortschreitende schubförmig remittierende multiple Sklerose)

2015

Multiple Sklerose

Fingolimod (Patienten ≥ 10 bis < 18 Jahre)

2019

Multiple Sklerose

Ocrelizumab

2018

Schlafstörungen

Melatonin

2019

Spastik bei multipler Sklerose

Extrakt aus Cannabis sativa

2012

Spastik bei multipler Sklerose

Extrakt aus Cannabis sativa

2018

Psychiatrie

Schizophrenie

Cariprazin

2018

Tab. 2. Arzneimittel in der Neurologie und Psychiatrie, deren Zusatznutzen als nicht belegt gilt

Indikation

Wirkstoff

Jahr der Beschlussfassung

Neurologie

Epilepsie

Brivaracetam (fokale Anfälle bei Epilepsie, ≥ 16 Jahre)

2016

Epilepsie

Brivaracetam (fokale Anfälle bei Epilepsie, Zusatztherapie, 4 bis < 16 Jahre)

2019

Epilepsie

Perampanel (Epilepsie, fokale Anfälle, ≥ 12 Jahre)

2012

Epilepsie

Perampanel (Epilepsie, fokale Anfälle, ≥ 12 Jahre)

2014

Epilepsie

Perampanel (primär generalisierte Anfälle, ≥ 12 Jahre)

2018

Epilepsie

Retigabin

2012

Epilepsie

Retigabin

2014

Epilepsie

Vigabatrin (fokale Anfälle, < 7 Jahre)

2019

Epilepsie

Vigabatrin (West-Syndrom, < 7 Jahre)

2019

Multiple Sklerose

Cladribin

2018

Multiple Sklerose

Dimethylfumarat

2014

Multiple Sklerose

Fampridin

2012

Multiple Sklerose

Fingolimod (multiple Sklerose, nach vorheriger Therapie)

2014

Multiple Sklerose

Fingolimod (hochaktive schubförmig remittierende multiple Sklerose, nach unzureichender Vorbehandlung)

2016

Multiple Sklerose

Teriflunomid

2014

Parkinson-Krankheit

Opicapon

2017

Parkinson-Krankheit

Safinamid

2015

Psychiatrie

ADHS bei Kindern ab 6 Jahren

Lisdexamfetamindimesilat

2013

ADHS bei Erwachsenen

Lisdexamfetamindimesilat

2019

Major Depression

Vortioxetin

2015

Reduktion des Alkoholkonsums bei Alkoholabhängigkeit

Nalmefen

2015

Schizophrenie

Lurasidon

2014

ADHS: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen

Sechs Verfahren neurologischer Arzneimittel beziehen sich auf Orphan-Drugs, deren Zusatznutzen bereits mit der Zulassung belegt ist. Dem G-BA obliegt es, das Ausmaß des Zusatznutzens zu quantifizieren. Dies gelang in einem Verfahren, in den übrigen fünf Verfahren war eine Quantifizierung auf Basis der wissenschaftlichen Datenlage nicht möglich (Tab. 3).

Tab. 3. Bewertungsergebnisse neurologischer Arzneimittel mit Zulassung als Orphan-Drug

Wirkstoff

Indikation

Jahr der Beschlussfassung

Ausmaß des Zusatznutzens

Cannabidiol

Dravet-Syndrom

2020

Nicht quantifizierbar

Cannabidiol

Lennox-Gastaut-Syndrom

2020

Nicht quantifizierbar

Mexiletin

Myotonie

2019

Nicht quantifizierbar

Nusinersen

Spinale Muskelatrophie

2017

Erheblich/beträchtlich/nicht quantifizierbar

Pitolisant

Narkolepsie

2017

Nicht quantifizierbar

Tasimelteon

Schlafstörungen (Schlaf-Wach-Rhythmus) bei blinden Patienten

2017

Nicht quantifizierbar

Eine Analyse der bis Ende 2018 abgeschlossenen Verfahren der frühen Nutzenbewertung zeigte, dass für Arzneimittel in pädiatrischen Indikationen ein Zusatznutzen für 74 % der Subgruppen der Patienten anerkannt wurde. Für Psychopharmaka, ebenso wie für Antidiabetika, liegt dieser Anteil bei lediglich 10 % [1].

Wie diese Zahlen belegen, werden in der Neurologie und Psychiatrie im Vergleich zu anderen Indikationen wie der Onkologie nicht nur weniger Arzneimittel zugelassen bzw. auf dem deutschen Markt eingeführt, auch die Bewertungsergebnisse in der frühen Nutzenbewertung fallen vergleichsweise schlecht aus.

Für Arzneimittel in der Neurologie und Psychiatrie spielen somit gleich mehrere ungünstige Faktoren zusammen: eine im Vergleich zu anderen Indikationsgebieten geringe Erfolgsquote in der Zulassung, ein erschwerter Nachweis eines Zusatznutzens und ein gemeinhin geringes Preisniveau. Die Kombination dieser Faktoren wirkt sich negativ auf die Versorgung von Patienten mit neurologischen und psychischen Erkrankungen aus – kurzfristig durch Marktrücknahmen, langfristig durch fehlende Forschungsanreize zur Entwicklung von Arzneimitteln gerade in Indikationen, in denen schon lange keine Forschungserfolge verzeichnet werden konnten und das Preisniveau von Generika bestimmt wird.

Zusatznutzen

Der Nutzen eines Arzneimittels wird in der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung als patientenrelevanter therapeutischer Effekt definiert, der zu einer Verringerung der Krankheitsdauer, einer Verbesserung des Gesundheitszustands, einer Verlängerung des Überlebens, einer Verringerung von Nebenwirkungen oder einer Verbesserung der Lebensqualität führt (§ 2 Abs. 3 AM-NutzenV). Ein Zusatznutzen ist ein Nutzen, der qualitativ oder quantitativ höher ist als der Nutzen der ZVT (§ 2 Abs. 4 AM-NutzenV).

Ein bestätigter Zusatznutzen bezieht sich entsprechend dieser Definition auf patientenrelevante Endpunkte, die vier Kategorien zugeordnet werden können:

  • Verlängerung der Lebensdauer (Mortalität),
  • Verringerung der vom Patienten wahrgenommenen Symptomatik (Morbidität),
  • Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und
  • Verringerung von Nebenwirkungen.

Aspekte, die über diese vier Kategorien hinausgehen, haben keinen Einfluss auf das Ergebnis der frühen Nutzenbewertung (z. B. Innovationsgrad durch ein neuartiges Wirkprinzip).

Wahrscheinlichkeit zum Nachweis eines Zusatznutzens

Die Kriterien zur Beurteilung des Zusatznutzens in den genannten vier Kategorien gelten einheitlich für alle Indikationsgebiete. Eine faire Behandlung unterschiedlicher Arzneimittel und deren Hersteller soll dadurch erreicht werden, dass in der Nutzenbewertung ein einheitlicher Bewertungsmaßstab angelegt wird. Doch führen einheitliche Bewertungskriterien zu einer gleich hohen Wahrscheinlichkeit, einen Zusatznutzen nachweisen zu können?

Beispiel Mortalität

Eine möglichst lange Lebensdauer gilt unumstritten als patientenrelevant. Gesamtüberleben (overall survival [OS]) ist ein häufiger und sinnvoller Studienendpunkt in Indikationen mit begrenzter Lebenserwartung der Patienten, etwa bei onkologischen Erkrankungen in fortgeschrittenen Stadien. Für onkologische Erkrankungen in frühen Therapielinien, in denen Folgetherapien die Ergebnisse zu OS verfälschen und Patienten möglicherweise geheilt werden oder noch eine lange Lebenserwartung haben, lässt sich der Zusatznutzen auf Basis einer Lebensverlängerung jedoch nicht nachweisen.

Auch neurologische und psychische Erkrankungen sind oftmals chronisch verlaufend und die Patienten haben eine lange Lebenserwartung. Lebensverlängerung stellt in diesen Situationen weder das primäre Therapieziel dar, noch ist es ein sinnvoller Studienendpunkt.

In diesem Zusammenhang stellen die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften und die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie in einem gemeinsamen Positionspapier fest, dass die aktuelle Methodik der frühen Nutzenbewertung vor allem Krankheitsindikationen mit kurzer Lebenserwartung und Arzneimitteln mit Orphan-Drug-Status entgegenkomme. Chronische Erkrankungen mit langem Therapie- und Krankheitsverlauf seien hingegen benachteiligt, was sich langfristig negativ auf die Entwicklung neuer Arzneimittel auswirke. Es sei erforderlich, die Methodik in eine Richtung weiterzuentwickeln, die Parameter der Morbidität bei chronisch verlaufenden Erkrankungen berücksichtige [1].

Nachweis eines Zusatznutzens

Für den Nachweis eines Zusatznutzens ist es erforderlich, statistisch signifikante Vorteile in Bezug auf patientenrelevante Endpunkte der Kategorien Mortalität, Morbidität, Lebensqualität oder unerwünschte Ereignisse zeigen zu können. Ein Zusatznutzen bezieht sich immer auf den direkten oder indirekten Vergleich von Behandlungsgruppen.

Erkrankungen wie Epilepsien oder Depressionen zeichnen sich jedoch durch ein höchst individuelles Therapieansprechen aus. Während etwa in der Onkologie ein klarer Trend in Richtung Präzisionsmedizin erkennbar ist, fehlen für viele neurologische und psychische Erkrankungen Therapieprädiktoren, nach denen sich Patientenkollektive definieren ließen. In der frühen Nutzenbewertung zeigt sich über heterogene Behandlungsgruppen hinweg kein Vorteil, wodurch ein Zusatznutzen nicht nachweisbar ist – der individuelle Patientennutzen und der Nutzen einer weiteren Therapieoption im ärztlichen Behandlungsalltag kann jedoch sehr wohl vorhanden sein.

Vor diesem Hintergrund äußerten etwa die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie in einer gemeinsamen Stellungnahme Bedenken, den Zusatznutzen von Antikonvulsiva vor allem über einen Head-to-Head-Vergleich zu definieren [4].

Was macht den Mehrwert neuer Arzneimittel aus?

Aus ärztlicher Sicht decken die Kriterien, die zur Bewertung des Zusatznutzens herangezogen werden, nicht das gesamte Spektrum eines möglichen therapeutischen Mehrwerts ab. Unter anderem deshalb kommen medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften teils zu anderen Bewertungen hinsichtlich des klinischen Zusatznutzens neuer Arzneimittel. Eine systematische Untersuchung aus der Onkologie zeigt, dass die Empfehlungen der Leitlinien in 60 % der Fälle von den Bewertungen des G-BA zum Zusatznutzen abweichen [11]. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft hat angeregt, einen wissenschaftlichen Beirat zu etablieren, der unter anderem die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung einer medizinischen Plausibilitätskontrolle unterziehen könnte [2].

Zusatznutzen aus klinischer Sicht

Im ärztlichen Behandlungsalltag kann sich der Mehrwert eines Arzneimittels bereits aus seiner bloßen Verfügbarkeit ergeben. Vor allem für Patienten, die auf vorhandene Therapieoptionen unzureichend ansprechen oder diese nicht vertragen, sind neue Behandlungsmöglichkeiten ein Mehrwert an sich. So führte beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie zu einem Antiepileptikum in der pädiatrischen Anwendung aus, dass insbesondere für die Altersgruppe zwischen vier und sechs Jahren durch die geringe Anzahl zugelassener Antikonvulsiva im Anwendungsgebiet ein Zusatznutzen allein durch die Verfügbarkeit einer zusätzlichen Behandlungsoption gesehen werde [3].

Klinisch tätige Fachärzte und wissenschaftliche Fachgesellschaften haben die Möglichkeit, Stellungnahmen zu einzelnen Verfahren einzureichen und auf diesem Weg ihre Expertise in die frühe Nutzenbewertung einzubringen. Die klinisch-praktische Perspektive hat mit der Methodik der frühen Nutzenbewertung allerdings wenig gemeinsam, sodass sich nach AMNOG-konformer Aufbereitung der Studienevidenz praktisch erlebbare Vorteile des Arzneimittels nicht unbedingt in den bewertungsrelevanten Daten widerspiegeln müssen.

Zwei unvereinbare Welten?

In Bezug auf patientenrelevante Endpunkte lässt sich zusammenfassend feststellen, dass aus einer ärztlich-anwendungsorientierten Perspektive Faktoren von Bedeutung sind, die über die Systematik der frühen Nutzenbewertung nicht erfasst werden und somit den klinischen Nutzen neuer Arzneimittel nicht vollständig abbilden. Umgekehrt werden in der frühen Nutzenbewertung Parameter beurteilt, die grundsätzlich patientenrelevant sind, jedoch nicht dem Therapieziel im konkreten Einzelfall entsprechen. So ist die Frage nach einer Lebensverlängerung beispielsweise in der Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen von eher untergeordneter Bedeutung.

Von Seiten der GESENT (Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-Psychopharmako-Therapie) wurde gefordert, Verbesserungen in von Fachgesellschaften akzeptierten Scores als Zusatznutzen anzuerkennen [5]. Verbesserungen in verschiedenen Skalen wurden in einzelnen Verfahren auch bereits in der Bewertung des Zusatznutzens berücksichtigt, beispielsweise im Verfahren von Cariprazin [7].

Eine generelle Akzeptanz von Ratingskalen durch den G-BA lässt sich durch dieses Beispiel jedoch nicht ableiten, da die Erfahrungswerte dazu insgesamt zu begrenzt sind. Dies ist sowohl auf die geringe Zahl durchgeführter Verfahren in psychiatrischen Indikationen zurückzuführen, als auch auf den Umstand, dass der G-BA sich in aller Regel nur bei grundsätzlicher Eignung der zugrunde liegenden Studien inhaltlich zu den vorgelegten Daten äußert.

Konsens über patientenrelevante Endpunkte – die Lösung allen Übels?

Insgesamt ist es unerlässlich, über verschiedene Interessengruppen hinweg ein gemeinsames Verständnis über patientenrelevante Endpunkte und die Kriterien zur Erhebung in einer klinischen Prüfung zu entwickeln. Dieser Punkt allein ist jedoch nicht ausreichend, um langfristig die Bewertungsergebnisse neurologischer und psychiatrischer Arzneimittel in der frühen Nutzenbewertung zu verbessern, Forschungsanreize zu setzen und eine individuell bestmögliche Arzneimittelversorgung für die betroffenen Patienten sicherzustellen.

Evidenzanforderungen

In der Vergangenheit sind neurologische und psychiatrische Arzneimittel in der frühen Nutzenbewertung nicht allein an der engen Definition der bewertungsrelevanten Endpunkte und den Anforderungen an ihre Operationalisierung gescheitert. Die vorgelegte Studienevidenz war teils nicht zur Beantwortung der Fragestellung der frühen Nutzenbewertung – nämlich dem direkten oder indirekten Vergleich des zu bewertenden Arzneimittels mit der ZVT – geeignet. Dass vorgelegte Evidenz als irrelevant eingestuft und keiner inhaltlichen Bewertung unterzogen wird, ist ein massives und nicht auf die Indikationsgebiete Psychiatrie und Neurologie begrenztes Problem. Insgesamt wird rund die Hälfte der eingereichten Studien vom G-BA abgelehnt [9].

Brauchen wir für die Nutzenbewertung neue Studiendesigns?

Die Fragestellung der frühen Nutzenbewertung stellt einzelne neurologische und psychiatrische Indikationen vor ein Dilemma: In Studien im klassischen Parallelgruppendesign zeigen sich durch die heterogenen Patientenkollektive im Gruppenvergleich, etwa bei den bereits erwähnten Antikonvulsiva, oftmals keine statistisch signifikanten Unterschiede. Dadurch gilt auch ein Zusatznutzen als nicht belegt. Andere Studiendesigns, zum Beispiel Cross-over-Studien, werden den Herausforderungen der klinischen Entwicklung von Psychopharmaka möglicherweise besser gerecht [6]. Diese werden derzeit aber nicht zur Bewertung des Zusatznutzens herangezogen. Der Lösungsansatz, für die frühe Nutzenbewertung Studiendesigns abseits des klassischen Parallelgruppendesigns zu entwickeln, wurde bereits von Gründer thematisiert [10].

Unterschiedliche Anforderungen von Arzneimittelzulassung und früher Nutzenbewertung

Bislang fehlt die Harmonisierung der Anforderungen von Arzneimittelzulassung und früher Nutzenbewertung. Endpunkte, auf deren Grundlage die Zulassung eines Arzneimittels erfolgt, werden in der frühen Nutzenbewertung als „nicht patientenrelevant“ beurteilt und nicht zur Bewertung des Zusatznutzens herangezogen. Das Paradebeispiel schlechthin ist das progressionsfreie Überleben (progression free survival) in der Onkologie. Umgekehrt können Therapiebeurteilungen aus Patientensicht (patient reported outcomes) als sekundäre Endpunkte, die im Zulassungsverfahren lediglich ergänzende Informationen geben, zur Anerkennung eines Zusatznutzens führen.

Eine Harmonisierung der Anforderung von Arzneimittelzulassung und früher Nutzenbewertung ist vor diesem Hintergrund dringend erforderlich. Dies betrifft insbesondere die Wahl einer geeigneten Vergleichstherapie für Zulassungsstudien, aber auch Überlegungen zu patientenrelevanten Endpunkten, Dosierungsschemata, Studiendauern und der Frage nach der Generalisierbarkeit der Studienergebnisse.

Rahmenbedingungen für Innovationen schaffen

Nicht zuletzt können auch ökonomische Zusammenhänge nicht völlig ausgeblendet werden. Wenn die pharmazeutische Industrie ihre Forschungsbestrebungen nicht dauerhaft in Richtung rentabler Indikationen verlagern soll, muss auch (oder vor allem) in Indikationen mit geringerer Innovationsdynamik Forschungsleistung adäquat honoriert werden. Nur so ist langfristig die Entwicklung innovativer Arzneimittel sichergestellt, die einen ungedeckten Versorgungsbedarf decken.

Fazit

Der Zusatznutzen neuer Arzneimittel in der Neurologie und Psychiatrie lässt sich vergleichsweise schwerer nachweisen als in anderen Indikationen, wobei ein nicht belegter Zusatznutzen nicht mit einem fehlenden Patientennutzen gleichgesetzt werden kann.

Ein einzelnes Problem, dessen Lösung die Ergebnisse in der frühen Nutzenbewertung schlagartig bessern würde, lässt sich nicht einfach identifizieren. Das gemeinsame Ziel aller Akteure muss darin bestehen, durch die Kombination wohldurchdachter Maßnahmen eine bedarfsgerechte und individuell bestmögliche Therapie für die Patienten zu gewährleisten und langfristig die Entwicklung neuer Arzneimittel in der Psychiatrie und Neurologie zu fördern.

Interessenkonflikterklärung

Es bestehen keine Interessenkonflikte.

Literatur

1. Arbeitsgemeinschaft der Medizinischen Wissenschaftlichen Fachgesellschaften e. V. und Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. Positionspapier Frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel 2019 – Gerecht und nachhaltig? https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Stellungnahmen/Medizinische_Versorgung/201905_Fruehe_Nutzenbewertung_Positionspapier_1.0.pdf (Zugriff am 29.04.2020).

2. Deutsche Diabetes Gesellschaft e. V. Ökonomisierung in der Medizin: Weniger Medikamente, Klinikabteilungen und Ärzte für immer mehr Menschen mit Diabetes? Pressemeldung vom 15.03.2017  https://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/presse/oekonomisierung-in-der-medizin-weniger-medikamente-klinikabteilungen-und-aerzte-fuer-immer-mehr-menschen-mit-diabetes (Zugriff am 29.04.2020).

3. Deutsche Gesellschaft für Epileptologie e. V. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie e. V. zu Brivaracetam, pädiatrische Anwendung vom 22.01.2018. https://www.g-ba.de/downloads/40-268-6203/2019-01-17_AM-RL-XII_Brivaracetam_D-371_ZD.pdf (Zugriff am 29.04.2020).

4. Deutsche Gesellschaft für Epileptologie e. V. und Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. Gemeinsame Stellungnahme zu Perampanel/Fycompa vom 09.03.2018 https://www.g-ba.de/downloads/40-268-5214/2018-05-17_AM-RL-XII_Perampanel_D-325_ZD.pdf (Zugriff am 29.04.2020).

5. Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-Psychopharmako-Therapie (GESENT) e. V. Plädoyer für eine Neuausrichtung neuropsychiatrischer Arzneimitteltherapie. Psychopharmakotherapie 2019;26:43–4.

6. Everitt BS, Wessely S. Clinical Trials in Psychiatry. Oxford University Press, 2003.

7. Gemeinsamer Bundesausschuss. Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII – Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SBG V – Cariprazin vom 04.10.2018. https://www.g-ba.de/downloads/40-268-5293/2018-10-04_AM-RL-XII_Cariprazin_D-354_TrG.pdf (Zugriff am 31.07.2020).

8. Gemeinsamer Bundesausschuss. Übersicht über die Verfahren der Nutzenbewertung nach § 35a SGB V. https://www.g-ba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung/ (Zugriff am 29.04.2020).

9. Greiner W, Witte J. AMNOG-Report 2017.

10. Gründer G. Bedeutung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes für die Psychopharmakotherapie. Nervenarzt 2016;87:356–66.

11. Holzerny P, Werner S, Ruof J. Sind G-BA-Beschlüsse für die Versorgungssteuerung geeignet? Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2018;23:328–64.


Dr. Manuela Bamberger, Scientific Advisor frühe Nutzenbewertung, Almstraße 13, 5072 Siezenheim, Österreich, E-Mail: mail@amnog-studien.de

Novel drugs in neurology and psychiatry in AMNOG assessments – don't they have any added benefit for patients?

In order to reduce spendings on innovative drugs, Germany has implemented early benefit assessment of newly authorised drugs, also known as AMNOG assessments. In early benefit assessment the innovative drug is compared to an appropriate comparative therapy, followed by reimbursement negotiations based on the results of the assessment. Pivotal studies in neurology and psychiatry often do not meet the methodical standards of early benefit assessment, so novel drugs for neurological and psychiatric diseases perform rather badly in AMNOG assessments. This means that their prices may be set at a very low level, reflecting a low rate of innovation in neurology and psychiatry and availability of generics. Evaluation results of early benefit assessment do not necessarily reflect the clinical benefit of novel drugs, as the assessment is limited to restrictively defined patient-relevant endpoints. A discussion of methology is as essential as an innovation-friendly environment in order to improve development of drugs for patients with neurological and psychiatric disorders.

Key words: early benefit assessment, AMNOG, Germany, appropriate comparative therapy, neurology, psychiatry, drugs

Psychopharmakotherapie 2020; 27(06):289-294