Cannabis-Präparate bei chronischen Schmerzen


Winfried Häuser, Saarbrücken/München, und Frank Petzke, Göttingen

Chronische Schmerzen sind die häufigste Indikation für die von den gesetzlichen Krankenkassen genehmigten Behandlungen mit Cannabis-Präparaten (medizinisches Cannabis und Cannabis-Extrakte, Cannabis-basierte Rezeptur- und Fertigarzneimittel) in Deutschland. Aktuelle Übersichtsarbeiten von randomisierten kontrollierten Studien kamen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen bezüglich der Wirksamkeit und Sicherheit dieser Präparate bei chronischen Schmerzen. Je umfangreicher die Literatursuche (Einschluss grauer Literatur), je höher die Kriterien für den Einschluss von Studien (klinisch relevante Studiendauer) und einer klinischen Relevanz der Studienergebnisse, umso ernüchternder sind die Schlussfolgerungen bezüglich der Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabis-Präparaten. Es besteht eine mäßige Qualität der Evidenz für eine moderate Schmerzreduktion bei chronischen neuropathischen Schmerzen. Cannabis-Präparate können daher als eine Drittlinientherapie bei chronischen neuropathischen Schmerzen erwogen werden. Für alle übrigen chronischen Schmerzsyndrome ist der Einsatz von Cannabis-Präparaten ein individueller Heilversuch, wenn etablierte Therapien versagt haben oder dem Patienten nicht zumutbar sind.
Schlüsselwörter: Chronische Schmerzen, Medizinalhanf, Cannabis-basierte Arzneimittel, systematische Übersichtsarbeit, randomisierte kontrollierte Studien
Psychopharmakotherapie 2020;27:114–21.

Hintergrund

Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur „Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ vom 10. März 2017 können Ärzte Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen und bei fehlenden Therapiealternativen Cannabis-Präparate in Form von getrockneten Blüten oder Cannabis-Extrakten (sog. Medizinalhanf oder medizinisches Cannabis), standardisierten Extrakten (z. B. Fertigarzneimittel Nabiximols, Vollspektrum-Cannabis-Extrakte als Rezepturarzneimittel), Dronabinol als Rezepturarzneimittel bzw. synthetisch hergestellten Cannabisanaloga (z. B. Nabilon) zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnen [9].

Mit dem Gesetz wurde das in Deutschland geltende System aus Zulassungsverfahren, früher Nutzenbewertung und Preisverhandlung, wie es normalerweise für neue Arzneimittel gilt, komplett umgangen und ein nicht überprüfbarer Begriff von Wirksamkeit („nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung“) eingeführt. Darauf basierend erhielten die Krankenkassen einen Genehmigungsvorbehalt, der auch in Bezug auf die Indikationen einer Verschreibung unklar definiert ist. Die Bundesärztekammer hatte sich im Vorfeld des Gesetzes gegen die Verschreibungsfähigkeit von Cannabis-Blüten aufgrund der unzureichenden Datenlage zur Wirksamkeit und Risiken ausgesprochen [8]. Die Umgehung der Standards der Arzneimittelzulassung für Cannabis-Blüten geschah auch in anderen Ländern und hat kritische Äußerungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften hervorgerufen [11, 14].

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wurde mit dem Gesetz beauftragt, eine nichtinterventionelle Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabis-Arzneimitteln durchzuführen. In einer Zwischenauswertung am 1. Februar 2019 waren insgesamt 4153 vollständige Datensätze eingegangen. Die häufigste Indikation für die Verschreibung von Cannabis-Präparaten waren mit 69 % chronische Schmerzen [27].

In randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) sowie systematischen Übersichtsarbeiten von RCTs mit und ohne Metaanalysen zur Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabis-Präparaten bei chronischen Schmerzen kann überprüft werden, ob die Bedingungen der Arzneimittelbehörden und die Kriterien einer evidenzbasierten Medizin bezüglich des Nutzens von Cannabis-Präparaten erfüllt sind. Dies liegt aber über den Anforderungen des Gesetzes an die Wirksamkeit („nicht ganz entfernt liegende Aussicht“) für eine Verordnung. Dabei betritt der Leser von RCTs und Übersichtsarbeiten ein methodisches Minenfeld: Die von systematischen Übersichtsarbeiten beschriebenen (statistischen) Effekte der Cannabis-Präparate zur Schmerzreduktion reichten von „nicht vorhanden“ bis „stark“ und die Einschätzung der Qualität der festgestellten Evidenz von „gering“ bis „mäßig“. Befürworter einer Therapie mit Cannabis-Präparaten zitieren die Übersichtsarbeiten mit positiven Schlussfolgerungen, Skeptiker die mit vorsichtigen bzw. negativen Schlussfolgerungen [17, 20].

Der vorliegende Beitrag will einen Überblick über aktuelle systematische Übersichtsarbeiten geben und Gründe für deren unterschiedliche Ergebnisse und Schlussfolgerungen darstellen. Er will den Leser sensibilisieren, Original- und Übersichtsarbeiten kritisch zu lesen. Auch Publikationen in einer hochrangigen Zeitschrift können methodische Fehler und ungerechtfertigte Schlussfolgerungen enthalten.

Die Grundlage dieser Übersichtsarbeit sind systematische Literatursuchen, systematische Übersichtsarbeiten mit Metaanalysen bzw. systematische Übersichten von Übersichtsarbeiten zu Cannabis-Präparaten bei chronischen Schmerzen im Allgemeinen und neuropathischen Schmerzen im Besonderen [12, 15, 17, 19, 20, 24, 27].

Vorbemerkungen

„Cannabis“ als Arznei: unterschiedliche Präparate

Der Begriff „Cannabis“ wird in den Medien und der Politik oft für alle auf der Cannabis-Pflanze beruhenden oder von ihr abgeleiteten Arzneimitteln wie Cannabis-Blüten mit Hunderten von variablen Inhaltsstoffen, Rezeptur- und Fertigarzneimitteln mit aus der Hanfpflanze extrahiertem/synthetisiertem Tetrahydrocannabinol (THC) und/oder Cannabidiol (CBD) und synthetischen THC-Analoga gebraucht (Tab. 1). Einige systematische Übersichtsarbeiten zur Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabisprodukten bei chronischen Schmerzen [20] schlossen auch experimentelle synthetische Modulatoren des Endocannabinoid-Systems ein, welche nicht als Arzneimittel erhältlich sind.

Tab. 1. Cannabis-haltige Arzneimittel und ihre Verfügbarkeit in Deutschland

Medizinisches Cannabis (sogenannter Medizinalhanf)*:

Aktuell sind 21 Sorten von Cannabis-Blüten rezeptierbar, deren THC-Konzentrationen zwischen 1 % und 23,5 % und CBD-Konzentrationen zwischen 0,05 % und 9 % liegen. Dosierungsangaben für einzelne Indikationen fehlen. Die im Gesetz festgelegte Verschreibungshöchstmenge liegt bei 100 g Cannabis pro 30 Tage.

Fertigarzneimittel mit Extrakten aus der Cannabis-Pflanze

Das THC/CBD-haltige Mundspray (Sativex®) ist als Fertigarzneimittel seit 2011 zugelassen für die Indikation mittelschwere und schwere Spastik bei multipler Sklerose, die nicht angemessen auf eine andere antispastische Therapie angesprochen hat und klinisch erhebliche Verbesserung bei einem Therapieversuch gezeigt hat. Dosierung: 1 Stoß 2,7 mg THC/2,5 mg CBD; maximal 12 Sprühstöße/Tag.

Weiterhin ist das CBD-haltige Fertigarzneimittel Epidyolex® als Antiepileptikum zur Behandlung zweier seltener Epilepsieformen zugelassen.

Dronabinol-haltige Arzneimittel

THC-haltige Kapseln und Öl (Dronabinol oder (–)-Δ9-trans-Tetrahydrocannabinol [THC]) sind arzneimittelrechtlich nicht zugelassen. Sie können als Rezepturarzneimittel in Form von Tropfen, Kapsel und Inhalationslösung im Rahmen eines individuellen Heilversuchs verschrieben und von Apotheken entsprechend NRF-Rezeptur nach DAC hergestellt werden. Der Ursprung ist je nach Hersteller natürlich oder synthetisch. Spezifische Indikationen sind nicht genannt. Die empfohlenen Tagesdosen liegen zwischen 5 und 30 mg.

Vollspektrum-Cannabis-Extrakte

Sogenannte standardisierte Vollspektrum-Cannabis-Extrakte sind arzneimittelrechtlich nicht zugelassen. Sie liegen als Rezepturarzneimittel vor und werden als THC10/CBD10 (jeweils 10 mg/ml THC und CBD), THC25 (mit 25 mg/ml THC und < 0,5 mg/ml CBD) und THC/CBD 50 (jeweils 12 mg/ml THC und CBD), THC 50 (12 mg/ml THC) und CBD 50 (12 mg/ml CBD) vertrieben. Randomisierte kontrollierte Studien zu diesen Extrakten liegen nicht vor.

Synthetisch hergestellte Cannabinoide

Nabilon (Canemes®), ein vollsynthetisches Cannabinoid, eng verwandt mit THC, ist als Fertigarzneimittel seit Dezember 2016 in Deutschland bei der Indikation Übelkeit und Erbrechen bei Patienten unter Chemotherapie, wenn andere Arzneimittel nicht entsprechend wirken, zugelassen. Die empfohlene Dosierung liegt bei 2 bis 4 mg/Tag.

*Cannabis (lateinisch: Hanf) ist ein Sammelbegriff für Stoffe aus der weiblichen Hanfpflanze der Gattung Cannabis sativa. Cannabinoide sind ein Sammelbegriff für Substanzen aus dem Harz der Hanfpflanze. Die weibliche Hanfpflanze enthält mehr als 100 Phytocannabinoide. Am besten charakterisiert sind das psychotrope Tetrahydrocannabinol (THC) und das überwiegend antiinflammatorisch wirksame Cannabidiol (CBD). DAC: Deutscher Arzneimittel Codex; NRF: Neues Rezeptur-Formularium

Die Ansatzpunkte der Cannabis-Präparate am Endocannabinoid-System können unterschiedlich sein, beispielsweise von Monopräparaten mit Tetrahydrocannabinol versus Kombinationspräparate mit Cannabidiol (das nicht an Cannabinoid-Rezeptoren bindet). Es ist methodisch nicht korrekt, von der Wirksamkeit einer Gruppe von Cannabis-Präparaten (z. B. synthetisches THC-Analogon) auf eine andere (z. B. Cannabis-Blüten) zu schließen.

Chronische Schmerzsyndrome unterscheiden sich in ihrer Symptomatik und pathophysiologischen Mechanismen

In einigen Übersichtsarbeiten wurden alle kontrollierten Studien zu allen Formen von chronischem Schmerz (tumor- und nichttumorbedingt) in quantitative Analysen zusammengefasst. Dieses Vorgehen ist aus mehreren Gründen problematisch: Chronische Schmerzsyndrome (nozizeptiv, neuropathisch, noziplastisch und Mischformen) können sich sowohl in ihren pathophysiologischen Mechanismen als auch in ihrer Symptomatik (z. B. Schmerzcharakteristika) erheblich unterscheiden. So lassen sich bei neuropathischen Schmerzen durch quantitative sensorische Testung unterschiedliche sensorische Profile unterscheiden [6]. Das sei am Beispiel einer RCT mit Botulinumtoxin bei peripheren neuropathischen Schmerzsyndromen verdeutlicht, in der eine statistisch signifikante Überlegenheit von Botulinumtoxin gegenüber Placebo bezüglich einschießender Schmerzen und Allodynie, nicht jedoch für Parästhesien, brennenden und tiefen Schmerz gefunden wurde [4]. Eine gepoolte Analyse aller Schmerzsyndrome ohne Subgruppenanalyse nach Schmerzsyndromen/-mechanismen gibt dem Kliniker daher wenig Orientierung, mit welchem Präparat er einen Patienten mit einem klinisch definierten Schmerzsyndrom (z. B. Fibromyalgie), mit einem definierten Schmerzphänotyp (z. B. nozizeptiver Schmerzcharakter) und einem definierten sensorischen Phänotyp (z. B. bei neuropathischen Schmerzen) behandeln soll.

Von einer gepoolten Analyse von sieben Studien mit neuropathischen Schmerzen und einer Studie mit Tumorschmerzen auf die Wirksamkeit von Cannabis-Präparaten auf alle chronischen Schmerzen zu schließen, wie Whiting und Koautoren [29], ist daher methodisch nicht korrekt. Andererseits wird durch gepoolte Analysen die Wirksamkeit in Subgruppen womöglich unterschätzt.

Datenbasis

Gepoolte Analysen verschiedener Schmerzsyndrome

Die Tabellen 2 und 3 zeigen die Charakteristika und Ergebnisse von drei aktuellen systematischen Übersichtsarbeiten mit Metaanalysen [5, 27, 29]. Die divergenten Ergebnisse reichen von einer mäßigen Effektstärke einer durchschnittlichen Schmerzreduktion [5] bis zu einer fehlenden statistischen Signifikanz des Odds-Ratios für eine Schmerzreduktion um mindestens 30 % [29]. Die Unterschiede lassen sich durch die unterschiedliche Zahl von eingeschlossenen Studien aufgrund unterschiedlicher Einschlusskriterien erklären.

Tab. 2. Charakteristika der randomisierten kontrollierten Studien mit Cannabis-Präparaten, die in aktuelle systematische Übersichtsarbeiten zu chronischen Schmerzen eingeschlossen wurden

Referenz

Art der Schmerzsyndrome
(Anzahl der Studien)

Anzahl Studien/Patienten in Metaanalyse

Dauer der randomisierten Phase (Minimum; Maximum)

Art der Cannabis-Präparate (Anzahl
der Studien)

Methodische Qualität der eingeschlossenen Studien

Aviram et al. 2017 [5]

Neuropathisch (18)

Krebs (2)

Postoperativ (2)

Fibromyalgie (1)

Kopfschmerz (1)

24/1337

1 Tag – 24 Wochen

THC (6)

Nabilon und andere synthetische THC-Analoga (10)

THC/CBD (5)

Medizinalhanf (3)

CBD (1)*

Zwei Studien mit Jadad-Score 2, sechs Studien mit Jadad-Score 3, zehn Studien mit Jadad-Score 4 und sechs Studien mit Jadad-Score 5

Stockings et al. 2018 [27]

Neuropathische Schmerzen (26)

Schmerz bei neurologischen Erkrankungen (ALS, MS, Parkinson) (12)

Fibromyalgie (3)

Gemischt (2)

Bauchschmerzen (2)

Kopfschmerzen (1)

Rheumatoide Arthritis (1)

47/4271

1 Tag bis 3 Jahre

THC/CBD (20)*

Dronabinol/THC (12)

Medizinalhanf (8)

Nabilon (7)

CBD (1)

Synthetisches THC-Analogon CT3 (1)

Mehrzahl der Studien mit unklarem oder hohem Verzerrungsrisiko

Whiting et al. 2015 [29]

Krebs (1)

Neuropathischer Schmerz (7)

8/868

5 Tage bis 16 Wochen

THC/CBD (7)

Medizinalhanf (1)

Mäßige Qualität der Evidenz nach GRADE

*Studien mit mehreren Armen von Cannabis-basierten Arzneimitteln

ALS: amyotrophe Lateralsklerose; CBD: Cannabidiol; CT3: 1’,1’-Dimethylheptyl-Δ8-tetrahydrocannabinol-11-oic acid (synthetisches THC-Analogon); GRADE: Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation; MS: multiple Sklerose; THC: Tetrahydrocannabinol

Tab. 3. Ergebnisse von aktuellen Metaanalysen randomisierter kontrollierter Studien von Cannabis-Arzneimitteln bei Patienten mit chronischen Schmerzen

Referenz

Datenbanken und Zeitraum Literatursuche

Wirksamkeit (95%-KI)

Anzahl der Studien/Patienten in quantitativer Analyse

Verträglichkeit und Sicherheit (95%-KI)

Anzahl der Studien/Patienten in quantitativer Analyse

Schlussfolgerungen der Autoren

Aviram et al. 2017 [5]

MEDLINE und Google Scholar bis Juli 2015

Keine Responderanalysen

SMD –0,61 (–0,78; –0,43)

24/1334

Keine Analyse der Abbruchraten wegen Nebenwirkungen und von schwerwiegenden Nebenwirkungen

Analyse von zentralnervösen, psychiatrischen, gastrointestinalen und kardialen Nebenwirkungen

Cannabis-Arzneimittel sind möglicherweise wirksam in der Behandlung chronischer Schmerzen, vor allem neuropathischer Schmerzen. Die Evidenz ist begrenzt.

Stockings et al. 2018 [27]

MEDLINE, Embase, PsycINFO und CENTRAL bis Juli 2017

≥ 30 % Schmerzreduktion:

OR 1,46 (1,16–1,84)

NNTB 24 (15–61)

9/1734

Abbruch wegen Nebenwirkungen:

OR 3,47 (2,64–4,56)

NNTH 40 (35–49)

19/3265

Schwere Nebenwirkungen:

OR 1,82 (0,93–3,59)

11/1974

Die Evidenz für die Wirksamkeit von Cannabis-Arzneimitteln für chronische nichttumorbedingte Schmerzen ist begrenzt. Die Zahl der Patienten, um einen zusätzlichen Nutzen zu erzielen, ist hoch, und für einen zusätzlichen Schaden zu erzielen niedrig. Die Wirkung auf andere Bereiche ist begrenzt. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Cannabis-Arzneimittel hocheffektive Medikamente zur Behandlung chronischer Schmerzen sind.

Whiting et al. 2015 [29]

28 Datenbasen bis April 2015

≥ 30%-Schmerzreduktion:

OR 1,41 (0,99–2,00)

8/868

Keine Analyse

Es besteht eine Evidenz mäßiger Qualität, den Einsatz von Cannabinoiden bei chronischen Schmerzen zu unterstützen.

KI: Konfidenzintervall; NNTB: Number needed to treat for additional benefit; NNTH: Number needed to treat for additional harm; OR: Odds-Ratio; SMD: standardisierte Mittelwertdifferenz

Neuropathische Schmerzen

In drei systematischen Reviews [3, 12, 24] wurden bis zu 25 RCT mit 1837 Teilnehmern und einer Studiendauer von fünf Stunden bis 15 Wochen analysiert (Tab. 4 und 5).

Tab. 4. Charakteristika der randomisierten kontrollierten Studien, die in aktuelle systematische Übersichtsarbeiten zu Cannabis-Präparaten bei chronischen neuropathischen Schmerzen eingeschlossen wurden

Referenz

Anzahl Studien/Teilnehmer

Dauer der randomisierten Phase (Minimum; Maximum)

Art der Cannabis-Präparate (Anzahl der Studien)

Methodische Qualität der eingeschlossenen Studien

Andreae et al. 2015 [3]

5/178

5 Stunden bis zwei Wochen

Medizinalhanf (5)

Cochrane risk of bias tool: 1 Studie mit niedrigem, 2 Studien mit mäßigem und 2 Studien mit hohem Verzerrungsrisiko

Finnerup et al. 2015 [12]

9/1110

3 bis 14 Wochen

THC/CBD (Nabiximols) (8)

Nabilon (1)

Jadad-Score für fünf vollständige publizierte Studien: Eine Studie mit Score 3 und jeweils zwei Studien mit Score 4 und 5

Mücke et al. 2018 [24]

16/1750

2 bis 15 Wochen

Dronabinol (2)

Nabilon (2)

Medizinalhanf (2)

THC/CBD (10)

Qualität der Evidenz der einzelnen Ergebnisvariablen nach GRADE: Niedrig bis mäßig

CBD: Cannabidiol; GRADE: Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation; THC: Tetrahydrocannabinol

Tab. 5. Ergebnisse von Metaanalysen von randomisierten kontrollierten Studien von Cannabis-Präparaten bei Patienten mit chronischen neuropathischen Schmerzen

Referenz

Databanken und Zeitraum Literatursuche

Wirksamkeit (95%-KI)

Anzahl der Studien/Patienten in quantitativer Analyse

Verträglichkeit und Sicherheit (95%-KI)

Anzahl der Studien/Patienten in quantitativer Analyse

Schlussfolgerungen der Autoren

Andreae et al. 2015 [3]

Cochrane Central, PubMed, EMBASE und AMED; kein Datum berichtet

Handsuche in Abstracts der Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections 2011, International AIDS Conference und World Congress of Pain 2010

≥ 30 % Schmerzreduktion:

OR 3,2 (1,6–7,2)

NNT 6 (3–14)

5/178

Keine quantitative Analyse

Inhaliertes Cannabis führt zu einer kurzfristigen Schmerzreduktion bei einem von sechs behandelten Patienten

Finnerup et al. 2015 [12]

PubMed/Medline

Cochrane CENTRAL

EMBASE , FDA-Website, EMEA-Website, Clinicaltrials.gov, Additional studies

Datum des Endes der Suche nicht berichtet

≥ 30 % Schmerzreduktion:

RD 0,03 (–0,03, 0,09)

NNTB nicht berechnet, da kein signifikantes Ergebnis

2/149

NNH für einen zusätzlichen Abbruch wegen Nebenwirkungen:

12 (9–20)

4/672

Schwache Empfehlung gegen den Einsatz von Cannabinoiden bei chronischen neuropathischen Schmerzen

Mücke et al. 2018 [24]

CENTRAL, MEDLINE, Embase, clinicaltrials.gov bis November 2017

≥ 30 % Schmerzreduktion:

RD 0,09 (0,03–0,15)

NNTB 11 (7–33)

10/1586

NNH für einen zusätzlichen Abbruch wegen Nebenwirkungen:

RD 0,04 (0,02–0,07)

NNTH 25 (16–50)

13/1848

Keine statistisch signifikanten Unterschiede bei schwerwiegenden Nebenwirkungen zwischen Cannabis-Präparaten und Placebo

Der potenzielle Nutzen von Cannabis-basierten Arzneimitteln wird möglicherweise durch ihren Schaden aufgehoben

KI: Konfidenzintervall; NNTB: Number needed to treat for additional benefit; NNTH: Number needed to treat for additional harm; OR: Odds-Ratio; RD: Risk difference

In der Metaanalyse zur Anwendung von Medizinalhanf wurde eine klinisch relevante Number needed to treat for an additional benefit (NNTB) von 6 für eine mindestens 30%ige Schmerzreduktion errechnet. Die Autoren schlussfolgerten, dass Medizinalhanf kurzfristig (Dauer der analysierten Studien ein bis 14 Tage) bei neuropathischen Schmerzen zur Schmerzreduktion wirksam ist [3]. Ein systematischer Review mit allen Cannabis-Präparaten bei neuropathischen Schmerzen mit einer Studiendauer von mindestens zwei Wochen und unter Einschluss „grauer Literatur“ fand für dieses Ergebnismaß bei einer gepoolten Analyse eine NNTB von 14. In der Subgruppenanalyse war Medizinalhanf Placebo in der durchschnittlichen Schmerzreduktion statistisch signifikant, jedoch nicht klinisch relevant überlegen. THC/CBD-Spray war Placebo in der durchschnittlichen Schmerzreduktion und einer mindestens 30%igen Schmerzreduktion statistisch signifikant überlegen. Die standardisierte Mittelwertdifferenz für die durchschnittliche Schmerzreduktion war klinisch relevant, nicht jedoch die NNTB für mindestens 30 % Schmerzreduktion. Bei der gepoolten Analyse aller Cannabis-Präparate war die NNTH (Number needed to treat for additional harm) von 19 für einen Abbruch wegen Nebenwirkungen klinisch nicht relevant. Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede zu Placebo in der Rate der schwerwiegenden Nebenwirkungen. Die Autoren folgerten, dass Cannabis-Präparate allenfalls als Drittlinientherapie bei sorgfältig ausgewählten Patienten eingesetzt werden sollen [24] (Tab. 5).

Schmerzen bei rheumatischen Erkrankungen

In drei systematischen Reviews wurden insgesamt vier RCTs analysiert, davon eine RCT mit THC/CBD-Spray bei 58 Patienten mit rheumatoider Arthritis, zwei RCTs mit 72 Patienten mit Fibromyalgiesyndrom und eine RCT mit 30 Patienten mit muskuloskelettalen Schmerzen. Die Schlussfolgerung war, dass die Evidenz aktuell nicht ausreichend ist, Cannabis-Präparate zur Behandlung von Schmerzen bei rheumatischen Erkrankungen zu empfehlen [13, 15, 28].

Viszerale Schmerzen

Ein systematischer Review schloss drei RCTs mit insgesamt 93 Patienten mit aktivem Morbus Crohn ein. Zum Einsatz kamen THC-haltige Cannabis-Zigaretten, 10 % CBD-Öl und Cannabis-Öl mit 10 % CBD und 4 % THC. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass aufgrund der Studien keine Schlussfolgerungen bezüglich der Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabis-basierten medizinischen Produkten beim Morbus Crohn gezogen werden können [22]. Die Autoren zogen dieselben Schlussfolgerungen für zwei RCTs mit 92 Patienten mit Colitis ulcerosa, die mit CBD-Kapseln bzw. THC-haltigen Zigaretten behandelt wurden [23].

In einer 3-monatigen Studie mit 65 Patienten mit Schmerzen bei chronischer Pankreatitis war orales THC Placebo in der Schmerzreduktion nicht überlegen [10].

Tumorbedingte Schmerzen

Die aktuellste verfügbare Übersichtsarbeit berücksichtigt Ergebnisse einer Literatursuche bis Dezember 2018 in CENTRAL, Pubmed, SCOPUS und Studienregistern. Randomisierte kontrollierte Studien mit medizinischem Cannabis und Cannabis-basierten Arzneimitteln zur Behandlung von Krebsschmerzen und einer Studiendauer von mindestens zwei Wochen und mit mindestens 20 Patienten pro Behandlungsarm wurden eingeschlossen. Fünf RCTs mit bukkalem Nabiximols oder Tetrahydrocannabinol (THC) und 1534 Teilnehmern mit mäßigen oder starken tumorbedingten Schmerzen trotz Opioid-Therapie wurden gefunden. Die Doppelblindperiode der RCTs dauerte zwischen zwei und fünf Wochen. Vier RCTs mit einem Parallel-Design und 1333 Patienten wurden in die Metaanalyse eingeschlossen. Die Qualität der Evidenz war sehr gering für alle Vergleiche. Nabiximols und THC unterschieden sich von Placebo weder in der Reduktion von Schmerzen, Schlafstörungen und Opioid-Dosierungen noch in der Häufigkeit von kombinierten Ansprechraten sowie schwerer bzw. psychiatrischer Nebenwirkungen. Die Zahl der Patienten, die eine starke oder sehr starke globale Besserung berichteten, war mit Nabiximols und THC höher als mit Placebo (NNTB 16 [95%-Konfidenzintervall [KI] 8 bis unendlich]). Negative Effekte waren höher unter Nabiximols und THC als mit Placebo. Die Anzahl der behandelten Patienten, um im Vergleich zu Placebo einen zusätzlichen Schaden zu erzielen (NNTH), betrug für die Abbruchrate wegen Nebenwirkungen 20 (95%-KI 11–100), für Nebenwirkungen des Nervensystems 10 (95%-KI 7–25) und für gastrointestinale Nebenwirkungen 11 (95%-KI 7–33).

Es besteht eine Evidenz sehr niedriger Qualität, dass Nabiximols und THC keinen Effekt auf Schmerz, Schlafstörungen und Opioid-Verbrauch bei Patienten mit Krebsschmerzen mit unzureichender Schmerzreduktion durch Opioide haben [21].

Die methodischen Minenfelder systematischer Übersichtsarbeiten

Selektive Literatursuche

Reporting-Bias, also die selektive Publikation positiver und die partielle bzw. fehlende Publikation negativer Studienergebnisse, ist eines der Hautprobleme in der Beurteilung von Behandlungen [18]. Systematische Reviews sollten daher nach sogenannter „grauer Literatur“ suchen, das heißt nach Studien, die beispielsweise in Datenbanken, aber nicht in Zeitschriften mit Begutachtungsverfahren veröffentlicht wurden. Die systematische Übersichtsarbeit von Aviram et al. führte jedoch keine Suchen nach grauer Literatur durch [5] (siehe Tab. 1). Die Autoren schlossen drei Studien, die nur in einer medizinischen Datenbank verfügbar waren, nicht in ihre quantitative und qualitative Analyse ein. In den drei nicht eingeschlossenen Studien waren Cannabis-Präparate Placebo in der Schmerzreduktion nicht überlegen [20]. Die Autoren überschätzten daher die (statistische) Effektstärke von Cannabis-Präparaten, die in ihrer gepoolten Analyse aller Schmerzsyndrome als mäßig beschrieben wurde (siehe Tab. 2).

Selektive Analysen

Die von Protagonisten einer generellen Wirksamkeit von Cannabis-Präparaten in der Schmerztherapie vielzitierte, in der renommierten Zeitschrift JAMA publizierte systematische Übersichtsarbeit mit Metaanalyse von Whiting und Koautoren [29] schloss – ohne Angaben von Gründen – nur acht von 28 im Flussdiagramm aufgeführten Studien zu chronischem Schmerz in die Metaanalyse einer mindestens 30%igen Schmerzreduktion ein (siehe Tab. 3). Finnerup und Kollegen [12] schlossen nur zwei von neun Studien in die quantitative Analyse einer Schmerzreduktion um mindestens 30 % ein. Im Gegensatz zu beiden Übersichtsarbeiten benutzten Mücke und Koautoren [24] validierte Imputationsmethoden, um bei möglichst vielen der durch die Literatursuche gefundenen Studien eine mindestens 30%ige Schmerzreduktion berechnen zu können (siehe Tab. 4 und 5).

Die Bedeutung der Studiendauer

Die negativen Schlussfolgerungen von Finnerup und Kollegen [12] für neuropathische Schmerzen lassen sich auch durch ihr Einschlusskriterium einer Dauer der randomisierten Phase von mindestens drei Wochen erklären. Daher schlossen sie die fünf verfügbaren Studien (mit positiven Ergebnissen) mit Medizinalhanf aus. Die Übersichtsarbeit von Andreae et al., die einen klinischen relevanten Nutzen von Cannabis-Blüten mit einer NNTB von 6 für eine mindestens 30%ige Schmerzreduktion beschrieben, schloss zwei Studien, die einen Tag und eine Studie, welche fünf Tage dauerte, ein. Solche sehr kurzen Studien werden als experimentelle Studien bezeichnet, die keine Aussage über die Wirksamkeit bei chronischen Schmerzen erlauben [3] (siehe Tab. 4 und 5).

Selektive Ergebnisdarstellung

Das in der Übersichtsarbeit von Whiting und Mitarbeitern berichtete 95%-Konfidenzintervall des OR für eine mindestens 30%ige Schmerzreduktion schloss die Null mit ein und war daher nicht statistisch signifikant. Die gewichtete Mittelwertdifferenz (WMD) der durchschnittlichen Schmerzreduktion dagegen war statistisch signifikant. Somit sind die Ergebnisse der Schmerzreduktion nicht konsistent und die Schlussfolgerung der Autoren, dass eine mäßige Qualität der Evidenz besteht [29], nicht nachvollziehbar.

Der im Auftrag von verschiedenen öffentlichen US-Institutionen in Auftrag gegebene Report der National Academies of Sciences, Engineering and Medicine; Health and Medicine Division stellte fest, dass eine „substanzielle“ Evidenz bestehe, dass Cannabis eine wirksame Behandlung von chronischen Schmerzen bei Erwachsenen ist [1]. Grundlage dieser Feststellung waren nur die systematischen Übersichtsarbeiten von Andreae [3] sowie Whiting und Mitarbeitern [29], deren Probleme in dieser Übersichtsarbeit bereits dargestellt wurden. Bezüglich der Festlegung der Qualität der Evidenz liest man in dem Report: „The weight of the evidence was determined during private deliberations of subgroups of the committee“ [1].

Statistische versus klinische Signifikanz

Nur wenige systematische Übersichten haben sich zur klinischen Relevanz der Ergebnisse geäußert. In der bislang umfangreichsten Übersicht zu chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen kalkulierten Stockings und Koautoren aus 34 RCTs mit 3896 Patienten eine durchschnittliche Schmerzreduktion von 2,9 mm auf einer 100-mm-Schmerzskala gepoolt für alle chronischen Schmerzsyndrome und schlossen daher, dass es unwahrscheinlich ist, dass Cannabis-Präparate generell effektive Schmerzmittel beim CNCP sind [27].

In dem Cochrane-Review zu neuropathischen Schmerzen wurde mit einer NNTB von 11 für eine mindestens 30%ige Schmerzreduktion das Kriterium der Pain Palliative and Supportive Care Group der Cochrane Collaboration für einen klinisch relevanten Nutzen (NNTB ≤ 10) knapp verfehlt [24].

Abwägen von Nutzen und Risiken

Das Abwägen von Nutzen und Schaden einer Behandlung ist in systematischen Übersichtsarbeiten wie auch in der klinischen Praxis essenziell. Whiting und Koautoren führten keine getrennte Analyse der Nebenwirkungen und Abbruchraten für die Studien mit chronischen Schmerzen durch und berücksichtigten daher bei ihrer Empfehlung nicht die möglichen Risiken von Cannabis-Präparaten [29]. Im Gegensatz dazu kontrastierten Stockings und Mitarbeiter die NNTB und NNTH und schlussfolgerten, dass die Zahl der Patienten, um einen zusätzlichen Nutzen zu erzielen, hoch, und um einen zusätzlichen Schaden zu erzielen, niedrig ist [27] (siehe Tab. 2).

Auch wenn die Abbruchrate wegen Nebenwirkungen bei neuropathischen Schmerzen das Kriterium der Pain Palliative and Supportive Care Group der Cochrane Collaboration für einen klinisch relevanten Schaden (NNTH ≤ 10) nicht erreichte und keine statistisch signifikanten Unterschiede zu Placebo bezüglich schwerer Nebenwirkungen feststellbar waren, fanden sich eine Häufung von Nebenwirkungen bei Cannabis-Präparaten mit einer NNTH für zentralnervöse Nebenwirkungen von 3 und für psychiatrische Störungen von 10 [24].

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass RCTs in der Dauer der Anwendung begrenzt sind und somit nur eine limitierte Einschätzung der Risiken für eine längerfristige Behandlung ermöglichen. Hier liegen zur medizinischen Behandlung mit Cannabis derzeit nur wenige Daten vor.

Repräsentativität der Studienpopulation

Die optimistische Schlussfolgerung von Andreae und Koautoren zur Wirksamkeit von Cannabis-Blüten bei neuropathischen Schmerzen muss nicht nur bezüglich der Zeitdauer – es müsste „sehr kurzfristig“ heißen –, sondern auch bezüglich der externen Validität ihrer Studienpopulationen kritisch gesehen werden. Zwei Studien wurden mit 89 Patienten mit einer HIV-assoziierten Polyneuropathie vor der Ära der hochaktiven antiretroviralen Therapie durchgeführt [3]. Bis zu 100 % der eingeschlossenen Patienten mit HIV-Neuropathie hatten Vorerfahrung mit dem Freizeitkonsum von Cannabis. Ein relevanter Teil der Studienpopulation der Metaanalyse war daher nicht repräsentativ für aktuelle Patienten mit neuropathischen Schmerzen in Deutschland.

Empfehlungen von Fachgesellschaften

Aktuell ist den Autoren keine interdisziplinäre, evidenz- und konsensusbasierte Leitlinie bekannt, welche den Einsatz von Cannabis-Präparaten im Allgemeinen und von Medizinalhanf im Besonderen als Erstlinientherapie bei chronischen Schmerzen empfiehlt. Die aktualisierte kanadische Praxisleitlinie [2] wie auch die Positionspapiere der European Pain Federation (EFIC) [16] und der Deutschen Schmerzgesellschaft [25] empfehlen einen Einsatz von Cannabis-Präparaten bei chronischen neuropathischen Schmerzen als Drittlinientherapie. Die kanadische Leitlinie sieht eine Drittlinienindikation bei Krebsschmerzen nach Ausschöpfung etablierter Therapieoptionen und spricht eine negative Empfehlung zur Schmerztherapie bei rheumatischen und Kopfschmerzerkrankungen aus [2]. Nach den Positionspapieren der EFIC wie auch der deutschen Schmerzgesellschaft kann sowohl bei Tumorschmerzen als auch bei allen nicht neuropathischen Nichttumorschmerzsyndromen ein individueller Heilversuch nach Ausschöpfen etablierter Therapieoptionen erwogen werden [16, 25]. Wenn Cannabis-Präparate eingesetzt werden, sollen primär Cannabis-basierte Rezeptur- und Fertigarzneimittel verwendet werden. Beide Positionspapiere begründen diese Empfehlung mit der besseren Datenlage und besseren Dosierbarkeit von Rezeptur- und Fertigarzneimitteln. Weiterhin wird ein höheres Risiko psychotroper Wirkungen („High“) und der missbräuchlichen Verwendung zu Freizeitzwecken höher bei inhalierten Cannabis-Blüten als bei Cannabis-Extrakten oder Rezepturarzneimitteln eingeschätzt. Laut EFIC und Deutscher Schmerzgesellschaft kann Medizinalhanf bei Unverträglichkeit oder Wirkungslosigkeit von Rezeptur- und Fertigarzneimitteln erwogen werden [16, 25]. Die kanadische Leitlinie wie auch beide Positionspapiere raten vom Rauchen von Medizinalhanf (mit und ohne Tabak) wegen der mit dem Rauchen verbundenen Gesundheitsschäden ab und empfehlen den Gebrauch eines Vaporisators. Cannabinoide sollten nicht als isoliertes Therapieverfahren, sondern in Kombination mit physiotherapeutischen und schmerzpsychotherapeutischen Verfahren Anwendung finden [2, 16, 25].

Resümee

In einem JAMA-Editorial mit dem Titel „Is the cart before the horse“ wurde darauf hingewiesen, dass die Zulassung von Medizinalcannabis in mehreren Bundesstaaten der USA auf Evidenz von niedriger Qualität, öffentlicher Meinung und politischem Willen beruht. Die Missachtung der von Arzneimittelbehörden geforderten Standards für die Zulassung eines Arzneimittels sei ein einmaliger Vorgang [11]. Dieser Vorgang hat sich auch in Deutschland wiederholt. Die Deutsche Schmerzgesellschaft und die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin begrüßen die Gesetzesänderung, weil sie die bisherigen Barrieren bei der Kostenerstattung von Cannabis-haltigen Rezeptur- und Fertigarzneimitteln für die Behandlung von ausgewählten Patienten mit besonders schwerwiegenden Erkrankungen abbaut [25].

Die eher ernüchternden Ergebnisse der qualitativ hochwertigen systematischen Übersichtsarbeiten sollten zu realistischen Erwartungen bei Patienten und Behandlern bezüglich eines möglichen Therapieerfolgs führen. Auf der anderen Seite weisen deutsche Fallserien mit Rezepturarzneimitteln auf eine effektive und nebenwirkungsarme Schmerzreduktion bei einigen sorgfältig ausgewählten Patienten mit chronischen nichttumorbedingten Schmerzen hin, die auf alle etablierten Schmerzmittel nicht angesprochen oder diese nicht vertragen haben und/oder bei seltenen Erkrankungen mit chronischen Schmerzen, für die es nie eine RCT geben wird [7]. Dieser individuelle Heilversuch ist in Deutschland nur aufgrund des besonderen Verständnisses von Wirksamkeit in der aktuellen Regelung im SGB V zur Verschreibung von Cannabis möglich. Die juristisch bzw. politisch festgelegten Wirksamkeitskriterien entsprechen nicht den üblichen medizinischen Standards der Zulassung von Arzneimitteln in Deutschland.

Interessenkonflikterklärung

Die Autoren erklären, keine finanziellen Interessenkonflikte zu haben. WH und FP sind Autoren systematischer Übersichtsarbeiten zu Cannabis-Präparaten beim chronischen Schmerz. WH ist der Vorsitzende der Arbeitsgruppe zu Cannabis-Präparaten zur Schmerzbehandlung der European Pain Federation. WH erhielt in 2017 und 2018 von der Kongressorganisation Bioevents Erstattung von Reise- und Übernachtungskosten für die Mitorganisation einer Tagung zu „Controversies on cannabis-based medicines“. FP ist der Sprecher der Ad-hoc-Kommission „Cannabis in der Medizin“ der Deutschen Schmerzgesellschaft. FP erhielt Übernachtungskosten für einen Vortrag im Rahmen der Tagung „Controversies on cannabis-based medicines“ in 2019.

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Prof. Dr. med. Winfried Häuser, Innere Medizin 1, Klinikum Saarbrücken, Winterberg 1, 66119 Saarbrücken, und Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Technische Universität München, 81635 München, E-Mail: whaeuser@klinikum-saarbruecken.de

Priv.-Doz. Dr. med. Frank Petzke, Schmerzmedizin, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsmedizin Göttingen, Robert-Koch-Straße 40, 37075 Göttingen

Cannabis-based medicinal products for chronic pain management

Chronic pain is the most frequent indication for treatments with cannabis-based medicinal products (medical cannabis flowers, extracts of cannabis flowers, cannabis-based formulated medicinal products and compounded medication) covered by statutory health insurance companies in Germany.

Recent systematic reviews came to divergent conclusions on the efficacy and safety of cannabis-based medicinal products for chronic pain. The more extensive the search of literature (inclusion of grey literature) and the higher the criteria for inclusion of studies (study duration) and of clinical relevance of the study results were, the more disillusioning were the conclusions on efficacy and safety of cannabis-based medicinal products. There is moderate quality evidence for a moderate reduction of neuropathic pain. Cannabis-based medicinal products can therefore be considered as a third line treatment of chronic neuropathic pain. For any other pain chronic condition, treatment with cannabis – based medicinal products is an individual therapeutic trial if established treatment options have failed or cannot be attempted to the patient.

Key words: chronic pain, medical marijuana, cannabis-based medicines, systematic review, randomized controlled trial

Psychopharmakotherapie 2020; 27(03)