Tina Mainka, Berlin, und Carsten Buhmann, Hamburg
Seit nunmehr drei Jahren können in Deutschland für Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung Cannabisblüten und -extrakte bzw. synthetische Cannabinoide zulasten der Krankenkassen verordnet werden. Hierbei hat sich der Gesetzgeber auf keine spezifischen Indikationen festgelegt. Somit kann jedem schwerkranken Patienten, unabhängig von der Grunderkrankung, Cannabis auf Rezept zugänglich gemacht werden, wenn keine geeignete Therapie zur Verfügung steht oder diese „unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann“ [12]. Die maßgebliche Einschränkung für die Verordnung liegt laut Gesetzgeber darin, dass „eine nicht ganz entfernte Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf schwerwiegende Symptome“ bestehen soll [12]. Dem verschreibenden Arzt obliegt es nun also, die Wirksamkeit des medizinischen Cannabis bei der Vielfalt der möglichen Indikationen und Grunderkrankungen einzuschätzen.
Mit diesem Artikel wollen wir eine Übersicht über mögliche Behandlungsindikationen im Bereich der Neurologie geben. Insbesondere beleuchten wir die existierenden Studien zu medizinischem Cannabis bei Bewegungsstörungen (M. Parkinson, atypische Parkinson-Syndrome, Dystonie, M. Huntington, Tic-Störungen), multipler Sklerose, epileptischen Syndromen und Motorneuronerkrankungen. Im Anschluss an die Darstellung der aktuellen Studienlage wird jeweils eine kurze Einschätzung zur Behandlungsmöglichkeit mit medizinischem Cannabis gegeben.
Bewegungsstörungen
M. Parkinson
Cannabinoide scheinen in der Selbstbehandlung von Symptomen des M. Parkinson schon länger in Gebrauch zu sein. Eine 2004 veröffentlichte Umfrage unter Parkinson-Patienten in Prag ergab, dass 25 % der 339 Teilnehmer bereits Cannabis zu sich genommen hatten. Fast die Hälfte (46 %) berichtete, eine positive Wirkung auf Krankheitssymptome erlebt zu haben (31 % Verbesserung Ruhetremor, 45 % Verbesserung der Bradykinese, 38 % Rückgang der Muskelrigidität, 14 % Reduktion von Levodopa-induzierten Dyskinesien). Lediglich 5 % der Patienten bemerkten eine Verschlechterung der Symptome durch die Cannabis-Einnahme [54]. Auch neuere, Internet-basierte Umfragen bestätigen den hohen Anteil von aktuell Cannabis-konsumierenden Parkinson-Patienten (37 %), die meisten nahmen bereits über ein Jahr Cannabis ein (70 %). Zumeist wurde Cannabis geraucht (41 %), oral eingenommen (6 %) oder beides (20 %). Fast die Hälfte der Patienten (48 %) berichtete, dass sie die verschriebene Medikation unter der Selbstmedikation mit Cannabis reduzieren konnten [23]. Eine retrospektive Auswertung von 47 Patienten, die im Mittel 19,1 Monate mit Cannabinoiden behandelt wurden, ergab eine deutliche Verbesserung von motorischen und nichtmotorischen Symptomen wie Reduktion von Stürzen, Tremor und Muskelrigidität sowie eine Verbesserung des Schlafs, der Stimmung und von Schmerzen. Als Nebenwirkungen der zumeist durch Rauchen (81 %) zugeführten Medikation wurden Verwirrung (17 %) und Halluzinationen (17 %) berichtet [3].
In zwei Fallserien wurde der Effekt von Cannabinoiden auf motorische Symptome untersucht. Bei fünf Parkinson-Patienten, die nach der nächtlichen Medikationspause eine Zigarette mit 1 g Marihuana (2,9 % THC) rauchten, konnte keine Reduktion des Tremors festgestellt werden [16]. Hingegen wurde in einer Untersuchung von 22 Patienten nach Rauchen von 0,5 g Cannabis (unbekannter THC/CBD-Gehalt) eine signifikante Verbesserung des Scores im motorischen Teil der MDS-UPDRS (33,1 ± 13,8 vs. 23,2 ± 10,5) mit ebenfalls signifikanter Reduktion der Subscores für Tremor, Rigidität und Bradykinese festgestellt. Zusätzlich wurden eine signifikante Reduktion von Schmerzen und eine verbesserte Schlafqualität beschrieben [26].
Nichtmotorische Parkinson-Symptome wurden in zwei weiteren unkontrollierten Studien untersucht. Bei sechs Patienten mit Parkinson-assoziierter Psychose wirkten sich 400 mg CBD/Tag positiv auf psychiatrische Positiv- und Negativsymptome gemäß Brief Psychiatric Rating Scale aus [60]. Mit REM-Schlafverhaltensstörungen assoziierte Symptome wie Agitation, Schlagen, Treten und Albträume verschwanden bei vier Patienten, die 75 oder 300 mg CBD pro Tag einnahmen [5a].
Es existieren drei höherwertige, Placebo-kontrollierte Studien, in denen die Wirkung von Cannabinoiden auf motorische und nichtmotorische Symptome untersucht wird. Sieradzan und Kollegen setzten Nabilon ein, um dessen Effekt auf Levodopa-induzierte Dyskinesien (LID) bei einem Levodopa-Test bei sieben Patienten zu untersuchen. Zwar fand sich eine signifikante Reduktion der Schwere, nicht jedoch der Dauer der LID [45]. Caroll und Kollegen untersuchten den Effekt einer THC/CBD-(2 : 1)-Mischung auf LID bei 17 Patienten über vier Wochen. Weder konnte eine Verbesserung von LID noch von sekundären Outcome-Kriterien wie dem motorischen Teil der MDS-UPDRS, der Lebensqualität, Schmerzen oder Schlafqualität nachgewiesen werden [5]. Chagas und Kollegen untersuchten den motorischen Teil der MDS-UPDRS und die Lebensqualität sechs Wochen nach Behandlung mit 75 oder 300 mg CBD (oder Placebo) bei sieben Patienten pro Behandlungsarm. Zwar konnte eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität in der 300-mg-CBD-Gruppe gefunden werden, der MDS-UPDRS-Score unterschied sich jedoch nicht zwischen den Gruppen [6]. Kürzlich wurde das Studienprotokoll für die österreichische, qualitativ hochwertige „The NMS-Nab Study“ veröffentlicht, welche die Wirkung von Nabilon auf nichtmotorische Symptome bei M. Parkinson (gemessen an der MDS-UPDRS Teil 1) über vier Wochen untersuchen wird [37].
Interessanterweise wurde neben den genannten CB1- und CB2-Agonisten auch der Effekt eines selektiven CB1-Antagonisten, Rimonabant, auf motorische Parkinson-Symptome inklusive LID untersucht. Hier zeigte sich bei vier Patienten nach einem Levodopa-Test keine zusätzliche Wirkung des Rimonabants auf den motorischen Teil der MDS-UPDRS oder auf LID [30].
Insgesamt ist die Datenlage für Cannabinoide im Hinblick auf motorische und nichtmotorische Symptome beim M. Parkinson sehr dünn. Neben der Vielzahl von untersuchten Zielsymptomen sind auch die angewendeten Cannabis-Präparate sehr heterogen, sodass letztlich keine evidenzbasierte Empfehlungen ausgesprochen werden können. Aufgrund dessen sollten Cannabinoide erst nach Ausschöpfung der leitliniengerechten Therapie und am ehesten bei schwer behandelbaren Symptomen wie Levodopa-induzierten Dyskinesien, Schmerzen oder Schlafstörungen eingesetzt werden. Es empfiehlt sich, den Therapieerfolg mittels objektiver Skalen zu verifizieren.
Atypische Parkinson-Syndrome
Die Behandlung von motorischen und nichtmotorischen Symptomen bei atypischen Parkinson-Syndromen ist angesichts der zumeist schlechten Wirksamkeit der dopaminergen Medikation eine große Herausforderung. Zur Behandlung motorischer Symptome mit Cannabinoiden konnten wir keine Fallberichte oder Studien identifizieren. Hinsichtlich nichtmotorischer Symptome ist erwähnenswert, dass ein Großteil der Patienten mit atypischen Parkinson-Syndromen unter Schmerzen leidet (z. B. Multisystematrophie 71 %, Lewy-Body-Demenz 50 %, progressive supranukleäre Blickparese 40 % [7]), wobei dies häufiger bei Patienten mit Synucleinopathien als bei Tauopathien der Fall zu sein scheint [58]. Als am analgetisch wirksamsten (etwa je 80 % Therapieresponder) wurden nichtsteroidale Antiphlogistika und Cannabis beschrieben, wobei hier keine Aussage zur Substanz und Art der Einnahme getroffen wurde [58]. In einem Fallbericht konnte keine Wirkung von Dronabinol auf therapierefraktäre Agitation und Aggression bei einem Patienten mit Lewy-Body-Demenz nachgewiesen werden [57].
Phytocannabinoide stehen aufgrund ihrer antioxidativen und antiinflammatorischen Wirkung immer wieder als mögliche neuroprotektive Substanzen im Fokus, jedoch konnte der klinische Nutzen bislang noch nicht belegt werden [24]. Aufgrund der generell meist unzureichenden medikamentösen Behandlungsmöglichkeit der motorischen und nichtmotorischen Symptome bei atypischen Parkinson-Syndromen sollte den Patienten nach Einsatz der „konventionellen“ Medikation ein Therapieversuch mit Cannabinoiden unserer Meinung nach nicht verwehrt werden. Auch hier empfiehlt sich die Festlegung von Zielsymptomen, die während der Therapie mit validierten Scores dokumentiert werden sollten, um einen Therapieerfolg verifizieren zu können.
Dystonie
Die Erfahrungen mit Cannabinoiden bei der idiopathischen Dystonie sind begrenzt. Anekdotische Fallberichte beschreiben einen positiven Effekt bei Patienten mit zervikaler Dystonie, generalisierter Dystonie oder Meige-Syndrom (idiopathische orofaziale Dystonie) bei CBD-Einnahme von bis zu 600 mg pro Tag [9, 44]. Auch wurden Symptome bei einer Patientin mit Blepharospasmus nach Einnahme von Dronabinol [19] und bei einem Pianisten mit Musikerdystonie nach der Einnahme von THC deutlich gelindert [20]. Darüber hinaus existieren zwei randomisierte, doppelblinde Cross-over-Studien: Fox et al. untersuchten 2002 den Effekt einer Einzeldosis Nabilon (0,03 mg/kg) bei einem heterogenen Patientenkollektiv (n = 15), zumeist mit der Diagnose einer generalisierten Dystonie (n = 9). Hier konnte kein positiver Effekt des Nabilons im Vergleich zu Placebo nachgewiesen werden [15]. In der zweiten Cross-over-Studie bei neun Patienten mit zervikaler Dystonie über acht Wochen war Dronabinol (15 mg/Tag) Placebo nicht überlegen, um dystone Symptome abzumildern [59].
Demnach kann die Verwendung von Cannabinoiden bei dystonen Syndromen generell nicht empfohlen werden. Bei therapierefraktären Einzelfällen kann der Einsatz von Cannabis-Präparaten jedoch gemäß der Bestimmung des Gesetzgebers diskutiert werden.
Morbus Huntington
Eine doppelblinde, randomisierte Cross-over-Studie mit 15 Huntington-Patienten mit CBD (10 mg/kg/Tag) über 12 Wochen zeigte keinen Effekt auf die Schwere der Chorea als primären Outcome-Parameter [8]. In einer ebenfalls kontrollierten Studie mit 44 Huntington-Patienten konnte eine Verbesserung der motorischen und Chorea-Subskala der Unified Huntington’s Disease Rating Scale (UHDRS) von Nabilon im Vergleich zu Placebo nachgewiesen werden, jedoch fand sich kein Unterschied zwischen einer Dosis von 1 oder 2 mg Nabilon/Tag [11]. Die Behandlung von 26 Huntington-Patienten mit Nabiximols (Sativex®), einem alkoholhaltigen Spray zur Anwendung in der Mundhöhle mit gleichen Teilen THC und CBD, über 12 Wochen führte im Vergleich zu Placebo zu keiner Verbesserung von motorischen, kognitiven oder funktionellen Parametern [25].
Hinsichtlich möglicher neuroprotektiver Effekte wurde in Nagermodellen zur Huntington-Erkrankung eine Phytocannabinoid-Kombination, ähnlich der von Nabiximols untersucht. Hier zeigten sich Veränderungen neurochemischer Parameter, die auf eine Verlangsamung der striatalen Degeneration und somit der Krankheitsprogression hindeuten könnten [42, 52, 53].
Die Datenlage im Hinblick auf die Behandlung der Chorea beim M. Huntington ist schlecht und eine Behandlung kann somit momentan nicht empfohlen werden. Es bleibt abzuwarten, ob sich der im Tiermodell mögliche neuroprotektive Effekt auch beim Menschen nachweisen lässt.
Tic-Störungen
Bei primären Tic-Störungen wie beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (GTS) zeigten erste Erfahrungsberichte in den 80er- und 90er-Jahren eine Wirksamkeit von Cannabis auf motorische und vokale Tics [33, 43]. In einer doppelblinden, Placebo-kontrollierten Cross-over-Studie bei 12 GTS-Patienten mit einer Einzeldosis THC (5–10 mg) wurde eine deutliche Verbesserung der Tics und auch der häufig bei GTS-Patienten auftretenden komorbiden Symptome einer Zwangsstörung festgestellt [32]. Eine weitere hochwertige Studie derselben Arbeitsgruppe mit 24 GTS-Patienten über sechs Wochen demonstrierte ebenfalls eine deutliche Abnahme der Tic-Frequenz und des Schweregrads nach Gabe von bis zu 10 mg THC/Tag [34].
Nicht nur die Gabe von THC, auch die Kombination mit CBD, zum Beispiel in Nabiximols, kann in der Therapie des GTS Verwendung finden. Neben Fallberichten [21, 51] existieren hier jedoch noch keine weiteren kontrollierten Studien [2].
Des Weiteren existieren Ansätze, durch Stärkung des endogenen Cannabinoid-Systems GTS-Symptome zu kontrollieren, beispielsweise durch Hemmung der Monoacylglycerol-Lipase (MAGL), was den Abbau von Endocannabinoiden verhindert [36]. Eine Phase-Ib-Studie mit einem MAGL-Inhibitor zeigte bereits positive Ergebnisse im Hinblick auf die Symptomschwere bei GTS ohne schwere Arzneimittelnebenwirkungen [2].
Da es an einer größeren Anzahl qualitativ hochwertiger Studien mangelt, gibt es bislang keine evidenzbasierte Empfehlung für den Gebrauch von Cannabinoiden in der Therapie des Tourette-Syndroms [10, 39]. Trotzdem wird von manchen deutschen Experten die Meinung vertreten, dass Cannabis-Präparate in der Second-Line-Behandlung von ansonsten medikamentös- und verhaltenstherapeutisch therapierefraktären Patienten Anwendung finden können [27, 31].
Multiple Sklerose
Nabiximols (Sativex®) ist zugelassen für die Behandlung einer mittelschweren bis schweren Spastik bei Patienten mit multipler Sklerose (MS), nachdem einige Studien eine signifikante antispastische Wirkung nachgewiesen hatten [29, 55]. Weiterhin wurde die Wirkung von medizinischem Cannabis auf Schmerz [41] und eine neurogene Blasenstörung [28] bei der MS untersucht. Systematische Reviews und Metaanalysen zeigen hier jedoch nur eine begrenzte Wirkung der Cannabinoide [35, 50].
Die Verträglichkeit der Cannabinoide, insbesondere von Nabiximols, scheint bei der MS gut zu sein. Auch gibt es Hinweise, dass sich der Gebrauch von Nabiximols nicht negativ auf die Fahrtüchtigkeit von MS-Patienten auswirkt [17], was womöglich auch auf andere Patientengruppen übertragen werden kann. Der Einsatz von Nabiximols zur Behandlung der Spastik selbst bzw. der Schmerzen bei Spastik bei MS-Patienten scheint lohnenswert, andere Indikationen müssen für evidenzbasierte Aussagen noch eingehender untersucht werden. Neben der symptomatischen Wirkung stehen auch mögliche neuroprotektive Effekte von medizinischem Cannabis bei der MS im Fokus der Forschung [18, 46].
Epileptische Syndrome
Bei ungefähr einem Drittel der Epilepsie-Patienten können die epileptischen Anfälle nicht ausreichend durch eine antikonvulsive Medikation kontrolliert werden [48]. Da der antikonvulsive Effekt von Cannabinoiden in Tiermodellen bereits nachgewiesen wurde [1], hat man in den vergangenen Jahren insbesondere den antikonvulsiven Effekt von Cannabidiol (CBD) auch klinisch untersucht. Dies hat unter anderem bereits dazu geführt, dass CBD als Epidyolex® nun zur Behandlung von zwei häufig pharmakoresistenten Epilepsieformen, dem Lennox-Gastaut- (LGS) und dem Dravet-Syndrom, eingesetzt werden darf.
In einer Phase-III-Studie, an der 225 Adoleszente mit pharmakotherapieresistentem LGS teilnahmen, führte die Gabe von 10 bzw. 20 mg/kg/Tag CBD über 14 Wochen zu einer gegenüber der Placebo-Gruppe signifikanten 37%igen bzw. 42%igen Reduktion der epileptischen Anfälle [47]. In einer weiteren randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studie an der gleichen Patientengruppe (n = 171) wurde 20 mg/kg/Tag CBD als zusätzliche antikonvulsive Medikation über 14 Wochen untersucht. Bei den 86 Patienten in der CBD-Gruppe kann es zu einer signifikanten 44%igen Anfallsreduktion [49]. Die häufigsten unerwünschten Nebenwirkungen waren Diarrhö (19 %), Somnolenz (15 %), Fieber (13 %), verminderter Appetit (13 %) und Erbrechen (10 %), was bei 14 % der Patienten in der CBD-Gruppe zu einem vorzeitigen Studienabbruch führte (im Vergleich zu 1 % in der Placebo-Gruppe) [49]. Bei ungefähr einem Viertel der Patienten fielen im Zusammenhang mit der CBD-Einnahme erhöhte Leberenzymwerte auf, zumeist bei Patienten, die gleichzeitig Valproinsäure einnahmen [49]. Auch beim Dravet-Syndrom konnte durch die Behandlung mit 20 mg/kg/Tag CBD eine signifikante Anfallsreduktion über einen Zeitraum von 14 Wochen in einer randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studie (n = 120) nachgewiesen werden. Bei 43 % der Patienten in der CBD-Gruppe wurde eine über 50%ige Reduktion der Anfallsfrequenz erreicht (im Vergleich zu 27 % der Patienten in der Placebo-Gruppe). Die unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen waren äquivalent zu denen, die bei den Studien für das LGS berichtet wurden [13]. Neben diesen seltenen Epilepsie-Syndromen zeigen eine Metaanalyse und ein systematisches Review auch die Effektivität von CBD für weitere therapieresistente Epilepsie-Syndrome, wobei die meisten Daten aus qualitativ schlechteren, nichtrandomisierten Studien stammen [14, 47].
Interessanterweise scheint die Selbstmedikation mit Cannabis auch bei Epilepsie-Syndromen eine Rolle zu spielen, wobei Patienten in den USA angaben, durch tägliche Einnahme eine wesentlich bessere Anfallskontrolle zu erreichen [22]. Genauere Zahlen zur Häufigkeit der Selbstmedikation existieren jedoch bislang noch nicht. Bei der Verwendung von oralem CBD kann die Einnahme zusammen mit einer fettreichen Mahlzeit die Bioverfügbarkeit der Medikation drastisch steigern [4]. Dies gilt sicherlich nicht nur für die in dieser Studie untersuchten Patienten mit therapierefraktärer Epilepsie, sondern auch für andere Patientengruppen.
Neben dem LGS und Dravet-Syndrom gibt es aktuell keine Indikationen, bei denen sich Cannabis-Präparate evidenzbasiert als wirksam erwiesen haben. Aus Sicht der Experten erscheint bei pharmakotherapieresistenten Epilepsie-Syndromen nach Ausschöpfung der leitliniengerechten Medikation angesichts der Schwere der Erkrankung ein Therapieversuch mit hoch gereinigtem oder synthetischen CBD gerechtfertigt [38]. Um einen möglichen Therapieerfolg sicher feststellen zu können, empfiehlt sich auch hier die Dokumentation der Anfallshäufigkeit und -schwere vor und während der Therapie mit Cannabinoiden.
Motoneuronerkrankungen
Spastik ist ein Hauptsymptom von Motoneuronerkrankungen wie der amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Selbst der Effekt von „gängigen“ antispastischen Medikamenten wie Baclofen oder Dantrolen ist schlecht untersucht [40]. Eine ältere randomisierte, doppelblinde Cross-over-Studie konnte keine Reduktion von „Krämpfen“ nach THC-Einnahme bei ALS-Patienten nachweisen [56]. Kürzlich hat man jedoch in einer doppelblinden, Placebo-kontrollierten Phase-II-Studie einen positiven Effekt von Nabiximols auf die Spastik von Patienten mit Motoneuronerkrankungen gezeigt. Neben der Verbesserung der modifizierten Ashworth-Skala für Spastik wurde das Medikament gut vertragen, sodass nun größere weitere Studien an diesem Patientenkollektiv geplant sind [40].
Zusammenfassung
Es existieren nur einige Indikationen, bei denen bestimmte Cannabis-Präparate bereits zur Behandlung zugelassen sind. Hierzu zählen das Dravet- und Lennox-Gastaut-Syndrom mit CBD als Epidyolex® und die Spastik bei multipler Sklerose mit einer Mischung aus THC und CBD (Nabiximols) als Sativex®. Die Evidenz für eine „nicht ganz entfernte Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf schwerwiegende Symptome“, die laut Gesetzgeber Voraussetzung für eine Verschreibung von medizinischem Cannabis ist, ist bei den meisten anderen Indikationen im Bereich der Neurologie eher minderwertig und generelle Empfehlungen für die Verwendung von medizinischem Cannabis oder gar für ein bestimmtes Cannabinoid und seine Dosierung können nicht ausgesprochen werden. Da die Verträglichkeit im Allgemeinen gut zu sein scheint, sollte unserer Ansicht nach Patienten mit pharmakotherapierefraktären schweren Symptomen die Behandlung mit Cannabinoiden im Einzelfall jedoch nicht vorenthalten werden.
Abkürzungsverzeichnis
CBD |
Cannabidiol |
LID |
Levodopa-induzierte Dyskinesien |
MDS-UPDRS |
Unified Parkinson’s Disease Rating Scale |
THC |
Delta-9-Tetrahydrocannabinol (Dronabinol) |
Interessenkonflikterklärung
Für beide Autoren bestehen keine Interessenkonflikte. TM ist Teilnehmerin des BIH-Charité Clinician Scientist Programms, welches von der Charité-Universitätsmedizin Berlin und dem Berlin Institute of Health finanziert wird.
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Prof. Dr. med. Carsten Buhmann, Klinik und Poliklinik für Neurologie und Ambulanzzentrum GmbH, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistraße 52, 20246 Hamburg, E-Mail: buhmann@uke.de
Dr. med. Tina Mainka, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie, Charité Universitätsmedizin Berlin, Charitéplatz 1, 10117 Berlin; Berlin Institute of Health, Berlin
Cannabinoids in neurology
In Germany, patients with severe diseases can be prescribed cannabis buds, extracts and synthetic cannabinoids whereby the costs can be covered by health insurance companies. The legislative authority did not restrict the prescription of cannabinoids to specific patient groups. Therefore, cannabinoids can be prescribed to every severely affected patient, independent from the underlying disease, if standard treatment has failed, resulted in unbearable side-effects or is contra-indicated due to other medical factors. According to regulations, cannabinoids can be prescribed as long as there is at least a slight chance of improvement of severe clinical symptoms. The challenge for the prescribing physician is to estimate a possible effect of medical cannabis regarding certain indications and diseases or clinical symptoms of the individual patient. This article provides an overview on possible treatment indications for medical cannabis in neurology and discusses and evaluates studies in movement disorders (Parkinson's disease, atypical parkinsonian syndromes, dystonia, Huntington's disease, tic disorders), multiple sclerosis, epileptic syndromes and motor neuron diseases in order to support the physician in the decision-making process of prescribing medical cannabis.
Key words: Cannabis, THC, CBD, neurology, movement disorders
Psychopharmakotherapie 2020; 27(03)