Dr. Claudia Bruhn, Berlin
Mehrere Studien der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass bei erwachsenen ADHS-Patienten ein höheres Risiko für Unfälle, insbesondere Autounfälle, besteht. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass eine Behandlung mit Methylphenidat das Unfallrisiko reduzieren kann. Man schätzt, dass 22 % der Autounfälle, in die ADHS-Patienten involviert sind, durch eine Medikation mit Methylphenidat (MPH) verhindert werden können [1]. Die bisherigen Studien zu dieser Thematik weisen jedoch mehrere Limitationen auf. So waren beispielsweise die Fallzahlen zum Teil gering und der Fokus lag vor allem auf Verkehrsunfällen.
Prophylaxe zur Senkung des Unfallrisikos sinnvoll
Die Teilnehmer der im Oktober 2019 publizierten PRADA-Studie (Prevalence of ADHD in accident victims, [2]) waren Opfer verschiedenartiger Unfälle. Sie wurden in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfurt am Main und in zwei unfallchirurgischen Abteilungen im dortigen Uniklinikum rekrutiert. Man screente insgesamt 905 Unfallopfer mithilfe der aus 18 Fragen bestehenden „Adult ADHD Self-Report Scale“ (ASRS-18) und erfasste Unfallursachen und -hergang. Als Vergleichsgruppe diente eine zufällig ausgewählte Stichprobe von ASRS-18-negativen Unfallpatienten (n = 214). Unter den 905 gescreenten Unfallopfern betrug die ADHS-Prävalenz 6,2 % (n = 56) und damit das 1,6-Fache der Allgemeinbevölkerung. Allerdings lag nur bei 17 % der ASRS-18-positiven Probanden bereits eine ADHS-Diagnose vor, und nur knapp ein Drittel von ihnen nahm ein Stimulanzien-Medikament ein. Die Analyse der Fragebögen ergab, dass ADHS-Patienten signifikant häufiger als die Vergleichspersonen direkt vor dem Unfallereignis von innerer Ablenkung (p = 0,04) und Selbstüberschätzung (p = 0,02) betroffen waren. Außerdem hatten die ADHS-Patienten signifikant mehr frühere Unfälle (p < 0,0001).
Die Autoren schlussfolgern aus diesen Ergebnissen, dass bei unfallchirurgischen Patienten ein ADHS-Screening sinnvoll sein kann. Um das Unfallrisiko für die Zukunft zu reduzieren, könnten im Falle einer positiven Diagnose eine Stimulanzientherapie oder nichtmedikamentöse Maßnahmen wie Stressbewältigungstraining, Training gegen innere Ablenkung („mindwandering“) und Psychoedukation bezüglich Alkohol- und Drogengebrauch empfehlenswert sein.
Methylphenidat-Behandlung unter Praxisbedingungen
Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) sind wichtig und geeignet, um die Wirksamkeit und Sicherheit eines Medikaments zu ermitteln. Sie bilden jedoch nicht die gesamte Behandlungswirklichkeit ab. Aus diesem Grund wurde eine Beobachtungsstudie konzipiert, in der 468 Patienten (57,9 % männlich) im Alter zwischen 18 bis 71 Jahren auf Methylphenidat (Medikinet adult®) neu bzw. erstmalig eingestellt worden waren. Die durchschnittliche Beobachtungsdauer lag bei 3,3 ± 1,6 Monaten. Das Arzturteil ergab bereits nach drei Monaten einen erkennbaren Behandlungserfolg (Clinical global impression of change, CGI: 55,0 % viel besser, 19,4 %: sehr viel besser). Damit waren die Behandlungsergebnisse ähnlich gut ausgefallen wie in RCTs mit Methylphenidat bei adulter ADHS. Über unerwünschte Ereignisse hatten 10,9 % der Patienten berichtet. Es traten keine anderen Nebenwirkungen auf als in RCTs mit Methylphenidat. Am häufigsten beobachtete man Appetitminderung, Kopfschmerzen und Unruhe [4]. Nach Beendigung des Beobachtungszeitraums wurden 89 % der Patienten weiterbehandelt.
Neue Langzeitdaten zu Methylphenidat bei Erwachsenen
Kürzlich wurden außerdem Langzeitdaten einer multimodalen Behandlung von adulten ADHS-Patienten aus der COMPAS-Studie (Comparison of methylphenidate and psychotherapy in adult ADHD study) veröffentlicht [3]. Von den ursprünglich 433 randomisierten Patienten konnten 256 Patienten (59,1 %) nach 2,5 Jahren nachuntersucht werden. Dabei lag ein ausgewogenes Verhältnis aus den ursprünglichen Randomisierungsgruppen vor. Es zeigte sich ein anhaltender Effekt der multimodalen ADHS-Therapie über einen Zeitraum von 1,5 Jahren nach Beendigung der einjährigen kontrollierten Behandlung. Sowohl die spezifische Gruppenpsychotherapie (GPT) als auch die unspezifische Einzeltherapie (CM) lieferten langfristig bessere Ergebnisse, wenn die Patienten zusätzlich Methylphenidat anstelle Placebo einnahmen (Abb. 1). Die deutlichste Symptomreduktion fand man bei den Patienten, die von Baseline an mit Methylphenidat behandelt worden waren und den Wirkstoff noch in Woche 130 einnahmen.
Abb. 1. Veränderungen im Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder (ADHD) Index Score in der Follow-up-Analyse der COMPAS-Studie [3]. Bis Woche 52 waren die Patienten im 2 × 2 faktoriellen Design mit spezifischer Gruppenpsychotherapie (GPT: group psychotherapy) oder unspezifischer Einzeltherapie (CM: clinical management) sowie mit Methylphenidat (MPH) oder Placebo behandelt worden. Im Follow-up bis Woche 130 nahm in allen Gruppen jeweils ein knappes Drittel der Patienten MPH. CAARS-O:L: Conners Adult ADHD Rating Scale, observer-rated, Langversion
Quelle
Prof. Dr. med. Sarah Kittel-Schneider, Würzburg, Prof. Dr. med. Wolfgang Retz, Homburg/Saar; Symposium „ADHS im Erwachsenenalter: Neue Daten – neue Situation“, veranstaltet von MEDICE im Rahmen des DGPPN-Kongresses 2019, Berlin, 28. November 2019.
Literatur
1. Chien WC, et al. The risk of injury in adults with attention-deficit hyperactivity disorder: A nationwide, matched-cohort, population-based study in Taiwan. Res Dev Disabil 2017;65:57–73.
2. Kittel-Schneider S, et al. Prevalence of ADHD in accident victims: Results of the PRADA study. J Clin Med 2019;8: pii: E1643.
3. Lam AP, et al. Long-term effects of multimodal treatment on adult attention-deficit/hyperactivity disorder symptoms. Follow-up analysis of the COMPAS-Trial. Netw Open 2019;2:e194980.
4. Rösler M, et al. Methylphenidat-Behandlung von Erwachsenen mit ADHS unter Routinebedingungen verbessert den Schweregrad der Erkrankung. Psychopharmakotherapie 2019;26:78–84.
Psychopharmakotherapie 2020; 27(01):33-40