Leserbrief

Harnverhalt als interaktionsbedingte Komplikation


Zum Beitrag „Harnverhalt unter der Kombinationstherapie aus Mirtazapin, Risperidon und Solifenacin“ (Psychopharmakotherapie 2019;26:299–302):

Zur Darstellung und Diskussion der Kasuistik einer Anfang 80-jährigen Patientin mit Harnverhalt [1] möchten wir einige Überlegungen mitteilen, die sich auf die Auswertung dieses Fallbeispiels mittels der Scholz-Datenbank stützen. Die Autoren stellen fest, dass keinerlei richtungsweisende pharmakokinetische Interaktion laut Abfrage einer Interaktionsdatenbank festgestellt werden konnte. Die Simulation des Falles mit der SCHOLZ Datenbank (SDB) ergibt folgendes Bild:

1. Die Recherche nach pharmakodynamischen Neben- bzw. Wechselwirkungen über die Stichworte „Miktionsstörung“ oder „Harnverhalt“ sowie auch die Analyse der „anticholinergen Last“ ergibt durchaus richtungsweisende Informationen dazu, dass das Risiko des Harnverhalts für alle drei Arzneimittel mit unterschiedlichen Häufigkeiten bekannt ist [2–4]. Ein kumulativer Effekt ist anzunehmen, insbesondere, weil, wie auch die Autoren annehmen, unterschiedliche Wirkmechanismen zu diesem Harnverhalt beitragen können.

2. Es wurde nicht verfolgt und erörtert, dass pharmakogenetische Aspekte aufgrund patientenindividueller Gegebenheiten eine Rolle spielen könnten. Wir haben den Fall einmal ohne und einmal mit der Annahme simuliert, dass die Patientin ein CYP2D6-Poor-Metabolizer ist. Sowohl Mirtazapin als auch Risperidon sind, wenn auch nur in geringem bis moderatem Umfang, Substrate des CYP2D6 [5]. Die geschätzte Zunahme des Risikos erhöhter anticholinerger Last um ca. 41 % wird der erhöhten Exposition von Mirtazapin und Risperidon zugerechnet.

Bedenkt man, dass Mirtazapin bei einer alten Patientin mit evtl. besonderer Empfindlichkeit mit der maximal üblichen Erwachsenen-Dosierung von 45 mg/Tag gegeben wurde, könnten auch Erhöhungen der Exposition von 25 bis 35 % im Zusammenspiel mit den anderen Arzneimitteln das Fass zum Überlaufen gebracht haben und die Auslösung des Harnverhalts begünstigt haben.

3. In dem vorliegenden Fallbeispiel wurde wegen delirogener Wirkung von Solifenacin die Dosis von 5 mg auf 2,5 mg reduziert. Die Autoren weisen am Ende des Artikels außerdem auf die Leitlinie Harninkontinenz für geriatrische Patienten hin, die auch aufzeigt, dass Anticholinergika bei älteren Patienten nur nach sehr sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung und Überwachung des Patienten eingesetzt werden sollten.

Solifenacin ist laut Priscus-Liste unter anderem aufgrund peripherer und zentraler anticholinerger Nebenwirkugen sowie weiterer zentraler und kardiologischer Nebenwirkungen für ältere Patienten nicht geeignet [6]. Zentrale anticholinerge Effekte wie Halluzinationen und Verwirrtheitszustände treten unter Solifenacin zwar nur sehr selten auf, trotzdem können sowohl Solifenacin als auch auch andere Arzneimittel wie z. B. Mirtazapin oder Bispoprolol als Mitverursacher der psychischen Symptomatik nicht komplett ausgeschlossen werden [SDB, 4].

Laut Priscus-Liste [6] wird Trospiumchlorid als risikoärmerer Ersatz für Solifenacin empfohlen, da es gerade im Hinblick auf ältere Patienten ein günstigeres Risikoprofil besitzt [7, 8]. Bei Trospiumchlorid handelt es sich um ein quartäres Ammoniumsalz, das kaum ZNS-gängig ist. Somit sind weniger zentrale Nebenwirkungen zu erwarten [SDB, 7, 8].

Interessenkonflikte

Wolfgang U. Scholz, Apotheker, ist Gründer der SCHOLZ Datenbank und Geschäftsführer der ePrax GmbH.

Dr. rer. nat. Stefanie Brune, Apothekerin, AMTS-Managerin, leitet die Med.-Wiss. Abteilung der Scholz Datenbank.

Quellen

1. Schneider M, Greiner T, Degner D, Bleich S, Grohmann R, Toto S, Heinze M. Harnverhalt unter der Kombinationstherapie aus Mirtazapin, Risperidon und Solifenacin. Psychopharmakotherapie 2019;26:299–302.

2. Fachinformation Risperdal®-Filmtabletten (Stand 01/2019).

3. Fachinformation Mirtazapin-neuraxpharm® (Stand 08/2015).

4. Fachinformation Vesikur® 5 mg (Stand 12/2018).

5. Kirchheiner J, Nickchen K, Bauer M, et al. Pharmacogenetics of antidepressants and antipsychotics: the contribution of allelic variations to the phenotype of drug response. Mol Psychiatry 2004;9:442–73.

6. Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA. Potentially inappropriate medication in the elderly – PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int 2010;107:543–51.

7. Wiedemann A. „Es gibt bessere Alternativen“. Dtsch Apoth Ztg 2017;157(39):32.

8. Fachinformation Spasmex® 20 mg Filmtabletten (Stand 05/2019).


Wolfgang U. Scholz, Dr. rer. nat Stefanie Brune, ePrax GmbH, Dessauerstr. 9, 80992 München, E-Mail: medwiss@eprax.de

Psychopharmakotherapie 2020; 27(01):41-41