Ingolf Neunübel und Ewald König, Berlin
Der Parlamentarische Abend war der erste Schritt auf dem absehbar nicht einfachen Weg zu einer Informationskampagne über die sich abzeichnenden negativen Konsequenzen des AMNOG in diesem Bereich. Die Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-/Psychopharmako-Therapie (GESENT e. V.) verfolgt damit das Ziel, einen Prozess in Gang zu setzen, in dessen Verlauf die Gesetzeslage den Bedingungen der Neuropsychiatrie angepasst wird. Es ging und geht also nicht um Abschaffung, sondern um Optimierung des AMNOG-Verfahrens. Das AMNOG ist gut gemeint, aber schlecht gemacht.
Immer mehr Experten aus Gesundheitswesen, Fachgesellschaften, Patienten- und Selbsthilfeorganisationen sowie aus der Industrie sind mit der aktuellen Gesetzeslage unzufrieden. Einer der Gründe ist die mit dem AMNOG einhergehende Verschlechterung der Verwertungsbedingungen für eine Vielzahl der teils mit immensem Aufwand entwickelten neuen Medikamente. Auf dem Parlamentarischen Abend, der auf Initiative von GESENT im Deutschen Bundestag stattfand, beleuchteten hochkarätige Referenten das AMNOG-Dilemma aus der Sicht von Wissenschaft und Praxis.
Gut gemeint, schlecht gemacht
„Wenn bei aussichtsreichen, von Patienten und Fachärzten gelobten Medikamenten im AMNOG-Verfahren kein Zusatznutzen festgestellt wurde, dann ist das ein alarmierendes Ergebnis“, so Prof. Dr. Dr. Peter Riederer von der Universität Würzburg, Präsident von GESENT e. V.
Was kann ein neues Medikament mehr als bereits verfügbare Therapien? Die Bewertung des Zusatznutzens neuer Medizin und die damit verbundene Entscheidung über die Preisgestaltung stehen im Mittelpunkt des 2011 in Kraft getretenen AMNOG. „Gegen dieses Gesetz wäre nichts einzuwenden“, meinte der Neurowissenschaftler, „wenn die Zielstellung – Schaffung einer fairen Balance zwischen Innovation und Bezahlbarkeit von Arzneimitteln – tatsächlich erfüllt werden würde.“
Insbesondere im Bereich von Neurologie und Psychiatrie sei das jedoch allzu häufig nicht der Fall. Ein Zusatznutzen wie beispielsweise Verringerung von Mortalität ist bei Neuro-/Psychopharmaka kein praktikables Zielkriterium. „Damit erweist sich das AMNOG zunehmend als Hindernis für die Versorgung spezifischer Patientengruppen mit innovativen Medikamenten. Deshalb müssen die gesetzlichen Regelungen überprüft und Anpassungen rechtlicher und Verfahrensregelungen vorgenommen werden“, forderte Riederer.
Betreffende Medikamente würden hierzulande nicht auf den Markt kommen. „In Deutschland geraten wir im Bereich Neuro-Psychopharmaka gegenüber der Arzneimittelversorgung anderer Staaten langsam, aber sicher in Versorgungsrückstand.“ Die forschenden Arzneimittelhersteller stufen demnach den deutschen Markt nicht mehr als prioritär ein und verlegten in der Folge die Arzneimittelentwicklung ins Ausland.
„Wir meinen, dass die Zusatznutzenbewertung für neuropsychiatrische Arzneimittel zu wenig flexibel gehandhabt wird, siehe Mortalität als Kriterium oder Morbidität. Wer kennt schon wirklich genau die Ursachen neuropsychiatrischen Krankheiten – ihren multifaktoriellen Verlauf, ihre multifaktoriellen Trigger und multigenetische Basis? Würde man darauf warten, bis die Ursachen von Depression, Schizophrenie, Alzheimer-Krankheit oder Parkinson-Krankheit in deren sporadischen Formen aufgeklärt und als Folge davon innovative/neue Arzneimittel entwickelt würden, würden etwa zwanzig Jahre vergehen. Sollen solange neue Arzneimittel mit weniger anspruchsvollem Hintergrund den Patienten in Deutschland vorenthalten werden? Ist das politisch gewollt und ethisch gesehen vertretbar?“, fragte Professor Riederer und gab auch gleich selbst die Antwort: „Wohl kaum!“
Zielvorstellung sei es daher, dass die Verantwortlichen im Gesundheitswesen das AMNOG-Gesetz überdenken und die Zusatznutzendefinition für Neuro-Psychopharmaka neu definieren bzw. Modifikationen des AMNOG-Gesetzes anstreben.
Europäischer Konsens unverzichtbar
Prof. Dr. Walter Schwerdtfeger, ehemaliger Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), unterstrich vor dem Fachpublikum, dass psychische Erkrankungen die häufigste Ursache von Frühverrentungen seien. Sie träten in Deutschland bei mehr als 25 % der Erwachsenen auf und zählten zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. Sie führten zu Kosten im Gesundheitswesen von rund 45 Milliarden Euro pro Jahr.
Außerdem verursachten psychische Erkrankungen in Deutschland 15 % der Arbeitsunfähigkeitstage (DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde; Bundesverband der Krankenkassen). Im Sinne der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung sei der Zusatznutzen eines Arzneimittels ein Nutzen […], der quantitativ oder qualitativ höher sei als der Nutzen, den die zweckmäßige Vergleichstherapie aufweise.
Für die Bewertung des Zusatznutzens gebe es aber keinen internationalen Konsens. Verweise auf „internationale Standards der evidenzbasierten Medizin“ – unter anderem im AMNOG und im Vorschlag für eine „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bewertung von Gesundheitstechnologien“ suggerierten einen internationalen Konsens, „der so nicht besteht“, kritisierte Schwerdtfeger.
Dazu komme, dass die Interpretation des wissenschaftlichen Erkenntnisstands durch unterschiedliche Einrichtungen in vielen Fällen zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen führe.
Schwerdtfeger plädierte daher für europäisch einheitliche Kriterien und stellte europäische Ansätze einer Vereinheitlichung vor. Bei der frühen Nutzenbewertung (FNB) lägen keine Praxiserfahrungen aus dem Versorgungsalltag vor. Eine erneute Nutzenbewertung (ENB) komme häufig zu einem anderen Ergebnis als die frühe Nutzenbewertung.
Die Auswirkungen der vergleichenden Nutzenbewertung bei neuen Psychopharmaka seien dramatisch. Wenn die Erstattung von Tagestherapiekosten zwischen 15 und 35 Cent betrage, rechne sich die Markteinführung in Deutschland nicht.
Als Beispiel nannte Schwerdtfeger Vortioxetin, das erste Antidepressivum mit günstigen Wirkungen auf Gedächtnis und Exekutivfunktionen. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) habe das Medikament zur Behandlung von Depressionen zugelassen, doch Deutschland will „keinen Zusatznutzen“ erkannt haben. Der G-BA habe die Tagestherapiekosten auf weniger als 20 Cent (!) veranschlagt, worauf der Hersteller das Produkt wieder vom Markt genommen habe. In 84 % der ausgewerteten Verfahren resultiere die Bewertung „kein Zusatznutzen“ allein aus formalen Gründen, darunter Verfahrensmängel, angeblich unzureichende Daten oder fehlende Nachweise. In solchen Fällen könne es daher zu einer falschen negativen Bewertung kommen.
Billigmedizin bei Psychopharmaka
Prof. Dr. Wolfgang Jost von der Parkinson-Klinik Ortenau, Wolfach, brachte mit dem VW-Käfer aus seinem Geburtsjahr ein anschauliches Beispiel für den Begriff des Zusatznutzens: Entsprechend der AMNOG-Definition hätten alle späteren VW-Modelle keinerlei Zusatznutzen im Vergleich zum Käfer-Modell von 1959, obwohl es damals noch keine Sicherheitsgurte, Kopfstützen und diverse Assistenzsysteme gegeben habe.
In Analogie zum AMNOG-Zusatznutzen zähle beim Auto nur das Ziel, von A nach B zu gelangen, gleich ob es sich um einen alten VW-Käfer oder einen neuen Golf handle. Komfort und Sicherheitsstandards spielten keinerlei Rolle. So erhebe sich die Frage, ob Medikamente mit weniger Nebenwirkungen tatsächlich keinen Zusatznutzen haben. Bei Psychopharmaka herrsche heute eine unglaubliche „Billigmedizin“ vor, die Tagestherapiekosten bewegten sich im Cent-Bereich. Dagegen falle im Bereich der Onkologie eine veritable Kostenexplosion auf.
Das Problem sei die Definition des Zusatznutzens. Grundsätzlich sei es ja nicht zu beanstanden, so Jost, dass das AMNOG die steigenden Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung eindämmen und der Preis neuer Medikamente sich an ihrem Zusatznutzen verglichen mit den auf dem Markt befindlichen Therapien orientieren soll.
Psychische Erkrankungen benachteiligt
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, zitierte die Deutsche Rentenversicherung Bund (2018): Psychische Erkrankungen seien bereits zu 43 % der Grund für frühzeitige Berentung. Im Jahr 1983 seien es erst 8,6 % gewesen. Jedes Jahr seien acht Millionen Menschen betroffen, deren Depression behandelt werden müsse. Die Behandlung erfolge überwiegend mit Antidepressiva.
Als bedrohliche Entwicklung sah Professor Hegerl, dass mehrere große Pharmaunternehmen die Forschungslinien zu Psychopharmaka geschlossen haben. Der Nachweis von Zusatznutzen sei bei Depression schwieriger als bei vielen anderen Erkrankungen, da weder die Diagnose noch der Nachweis des Behandlungserfolgs anhand von Laborwerten oder andere Biomarker erfolgen könne und so aufwendigere und teurere Studien nötig seien.
„Der Anteil der Forschungsressourcen, der in den Bereich Depression fließt, ist in keiner Weise der Häufigkeit und Schwere dieser Erkrankung angemessen.“ Die Ablehnung neuer Substanzen führe dazu, dass die Möglichkeiten, für den einzelnen Patienten ein optimales Profil hinsichtlich Verträglichkeit und anderer Aspekte wie Medikamentenwechselwirkungen zu finden, eingeschränkt seien. „Im AMNOG-Prozess werden psychische Erkrankungen benachteiligt“, betonte Hegerl und warnte: „AMNOG führt zu Fehlallokation der Forschungsressourcen auf Kosten der depressiv Erkrankten.“
Nehmen und Geben
Joachim Maurice Mielert, ehemaliger Unternehmer und selbst Parkinson-Patient, regte auf dem Parlamentarischen Abend an, den Betroffenen und den Selbsthilfeorganisationen wie der Deutschen Parkinson Vereinigung mehr Gehör zu schenken und deren praktische Erfahrungen in die Meinungsbildung einfließen zu lassen. „Wir wollen nicht nur nehmen, sondern aktiv beteiligt werden und auch geben.“ Denn kaum einer der Akteure aus Wissenschaft, Politik und Gesundheitsökonomie habe selbst auch nur einen einzigen Tag lang Morbus Parkinson erlebt, jeder sei nur mit theoretischem Wissen ausgestattet.
„Für die Akteure im Gesundheitswesen bilden wir, die chronisch Erkrankten, gewissermaßen Grund-, Haupt- und Zusatznutzen in Union. Wir nehmen Forschungsresultate und die Umsetzung in Arznei- und Hilfsmittel dankbar wahr und entgegen, vermissen jedoch ganz ausdrücklich die Einbindung in Planungs- und Herstellungsprozesse für den Zusatznutzennachweis“, führte Mielert aus.
Er hoffe, dass man sich „auf der Ebene der Gesundheitsverwaltung nicht nur wohlfeile Gedanken um administrativ, politisch und ökonomisch formulierte, theoretische Zusatznutzen macht, sondern dass man hier gewillt ist, Menschen wie mir, Selbsthilfeorganisationen wie der Deutschen Parkinson Vereinigung, so viel Gehör zu schenken, dass unsere praktischen Erfahrungen in den Meinungsbildungsprozess hinsichtlich erreichbarer Zusatznutzen einfließen“.
Mielert kritisierte, dass die Begrifflichkeit „Zusatznutzen“ für den Normalpatienten wenig bis überhaupt nicht kommuniziert werde und sogar in Apotheken weder die systemischen noch die inhaltlichen Aspekte um den Zusatznutzen und das AMNOG bekannt seien.
Anpassung an Realität
Friedrich-Wilhelm Mehrhoff, Geschäftsführer der Deutschen Parkinson Vereinigung, verwies darauf, dass es seit dem Inkrafttreten des AMNOG 2011 kein innovatives Parkinson-Mittel mit neuem Wirkungsmechanismus gebe. Die Zusatznutzen-Definitionen seien inadäquat. Der Patientenvertreter plädierte für die Einführung eines „späten Nutzens“ als Kriterium, basierend auf jahrelanger Erfahrung und breiter Anwendung eines neuen Präparats, zumal es sich um eine chronische Krankheit handle.
In der Diskussionsrunde wurde angemahnt, dass bei zahlreichen AMNOG-Paragraphen Änderungen erforderlich seien. Korrigiert werden müsste der stark formalisierte Bewertungsprozess, zu dem Spezialisten aus Neurologie und Psychiatrie faktisch keinen Zugang haben. Auch die Regelung, wonach bei der Bewertung eines neu zugelassenen Arzneimittels ein Zusatznutzen im Einzelfall nicht akzeptiert wird, bedürfe der Modifizierung. Das gilt ebenso für die im AMNOG festgelegten Kriterien für den Zusatznutzennachweis, die in der jetzigen Form bei neuropsychiatrischen Arzneimitteln nicht anwendbar sind. Faktoren wie Langfristigkeit und Komplexität des Krankheitsverlaufs, die bei der Beurteilung therapeutischer Effekte in Neurologie und Psychiatrie von Bedeutung sind, haben im starren AMNOG-System keinen Platz.
Versorgungsprobleme hausgemacht
Prof. Dr. Gerd Laux, Vizepräsident von GESENT e. V., fasste zusammen, dass angesichts der Bedeutung neuropsychiatrischer Erkrankungen die Weiterentwicklung und Einführung innovativer verbesserter Medikamente essenziell sei. Die AMNOG-Kriterien für Zusatznutzen seien für die überwiegend chronischen neuropsychiatrischen Erkrankungen dringend zu revidieren und zu optimieren. Ein Beispiel sei das Antidepressivum Vortioxetin, eine Substanz mit neuartigem multimodalem Wirkungsmechanismus (Modulierung der Neurotransmission in mehreren Systemen), verbessertem Nebenwirkungsprofil (keine QTc-Verlängerung, keine sexuelle Dysfunktion) und positiven Daten bezüglich Verbesserung kognitiver Depressionssymptome. Die vorgelegten Studiendaten seien nicht berücksichtigt worden, und ein inakzeptabler Kostenerstattungspreis im Cent-Bereich noch unter gängigen Generika habe die Einführung in Deutschland verhindert.
Analoges Beispiel sei das atypische Antipsychotikum Lurasidon (Verträglichkeitsvorteile wie keine Veränderung metabolischer Parameter). Dem neuen Antipsychotikum Cariprazin sei zwar ein geringer Zusatznutzen attestiert worden, in der Praxis-/Versorgungsrealität erhalten Kassenärzte aber regelmäßig „Wirtschaftlichkeitsziele nach der aktuellen Wirkstoffvereinbarung“ mit Generika-Quoten und Mengenzielen von ihrer Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Hier werde dann mitgeteilt, dass beispielsweise Reagila (Cariprazin) einer Zielerreichung (Generika-Ziele für Psychopharmaka 84 bis 95 %) entgegenstehe. Das innovative, intranasale Antidepressivum Esketamin sei in den USA bereits zugelassen; ob es nach einer EU-Zulassung im AMNOG-Verfahren bestehen werde, sei eine sehr spannende Frage.
„Wir wollen in Fachkreisen, in der Öffentlichkeit, vor allem aber in der Politik das Bewusstsein dafür schärfen, dass eine Neufassung von Teilen des AMNOG unumgänglich geworden ist“, so GESENT-Vizepräsident Gerd Laux. „Bleibt das aus, droht in Deutschland eine schlechtere Versorgung der Patienten mit hochwirksamen neuropsychiatrischen Arzneimitteln als im Ausland!“
Wie notwendig Veränderungen sind, zeigte auch Prof. Dr. Thomas Müller, Chefarzt der Klinik für Neurologie des St.-Joseph-Krankenhauses Berlin-Weißensee und Mitglied des GESENT-Vorstands, am Rande der Veranstaltung: „Wir haben die unbefriedigende Situation, dass forschende Arzneimittelhersteller aufgrund der unsicheren Preisfindungssituation für Erkrankungen wie Schizophrenie, Depression, Schlaganfall, multiple Sklerose, Alzheimer- oder Parkinson-Krankheit und andere immer weniger Ressourcen zur Entwicklung innovativer Arzneimittel zur Verfügung stellen.“
BMG: Bewährtes Verfahren zur Nutzenbewertung und Preisbildung
Das BMG war beim Parlamentarischen Abend leider nicht vertreten. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der als Gesundheitspolitiker zuvor selbst am AMNOG mitgewirkt hatte, entsandte keinen Vertreter seines Hauses. Er veranlasste jedoch eine Stellungnahme, die durch die Pressestelle des BMG rechtzeitig zum Parlamentarischen Abend übermittelt wurde. Zusammengefasst bedeutet der Text, zumindest zwischen den Zeilen, dass aus Sicht des Ministeriums alles in Ordnung sei. Hier der Wortlaut der Stellungnahme des BMG:
„Die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung umfasst eine flächendeckende, innovative, sichere und bezahlbare Arzneimittelversorgung. Dazu gehört auch, dass neu zugelassene Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen den Patientinnen und Patienten in Deutschland unmittelbar nach Markteintritt zur Verfügung stehen. Die Entwicklung innovativer Arzneimittel und neuer Wirkstoffe trägt wesentlich zu einer besseren Gesundheitsversorgung bei.
Vor dem Inkrafttreten des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) durften pharmazeutische Unternehmer einen selbst festgelegten Preis für diese Arzneimittel fordern. Seit dem 1. Januar 2011 wird für jedes Arzneimittel mit neuem Wirkstoff sofort nach Markteintritt eine Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) durchgeführt. Ob ein Hersteller einen Zusatznutzen belegen kann und wenn ja, welchen Ausmaßes, ist maßgeblich für die anschließende Preisverhandlung zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem pharmazeutischen Unternehmer. In diesen direkten Verhandlungen wird auf Grundlage der Nutzenbewertung durch den G-BA ein nutzenadäquater Erstattungsbetrag verhandelt, der einen fairen Ausgleich zwischen Innovation und Bezahlbarkeit schafft. Der verhandelte Erstattungsbetrag gilt ab dem 13. Monat nach dem Markteintritt des Arzneimittels. Das mit dem AMNOG eingeführte und inzwischen bewährte Verfahren zur Nutzenbewertung und Preisbildung trägt entscheidend dazu bei, den Anstieg der Arzneimittelausgaben der Krankenkassen einzudämmen und eine Balance zwischen Innovation und Bezahlbarkeit bei neuen Medikamenten zu schaffen.
Seit 2011 wurde nur für fünf Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen zur Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen eine Nutzenbewertung durchgeführt. Als Ergebnis konnte der G-BA auf Grundlage der vom Hersteller vorgelegten Unterlagen lediglich bei einem Arzneimittel (Reagila®) einen Hinweis auf einen geringen Zusatznutzen feststellen. Für die verbleibenden Arzneimittel konnte auf Grundlage der vom Hersteller vorgelegten Unterlagen kein Zusatznutzen im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie belegt werden. Demgegenüber stehen beispielsweise 67 bewertete Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen für onkologische Erkrankungen, welche die größte Indikationsgruppe im Bereich der Nutzenbewertung darstellt. Die niedrigen Zahlen in der Indikation Psychiatrie korrespondieren mit im Vergleich zu anderen Indikationen niedrigen Zahlen an Neuzulassungen von Wirkstoffen zur Behandlung psychiatrischer Erkrankungen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, unter anderem sind für psychiatrische Erkrankungen wissenschaftliche Erkenntnisse zur Identifizierung von relevanten Patientengruppen, zu Biomarkern und zu molekularen Krankheitsmechanismen noch nicht im gleichen Maße erforscht und erkannt wie bei onkologischen oder immunologischen Erkrankungen. Diese wissenschaftlichen Fortschritte sind aber Voraussetzung für Erfolg versprechende klinische Entwicklung neuer Arzneimittel. Weiterhin liegen die Erfolgsquoten von klinischen Prüfungen als Voraussetzung für eine arzneimittelrechtliche Zulassung bei Wirkstoffen zur Behandlung psychiatrischer Erkrankungen niedriger als im Vergleich zu anderen Indikationsgruppen.
Im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (AMVSG) wurde 2017 beschlossen, die Vorschriften zur Vereinbarung von Erstattungsbeträgen auf der Grundlage einer Nutzenbewertung aufgrund der bisher gemachten Erfahrungen weiterzuentwickeln. Dem GKV-Spitzenverband und den pharmazeutischen Unternehmern wird hierdurch mehr Flexibilität ermöglicht, um zu sachgerechten Vereinbarungen zu kommen, die einen fairen Ausgleich zwischen Innovation und Bezahlbarkeit ermöglichen. Gilt ein Zusatznutzen als nicht belegt, kann künftig im begründeten Einzelfall von der Vorgabe abgewichen werden, dass der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen darf als der Preis der zweckmäßigen Vergleichstherapie. Dies kann in Einzelfällen für die Vereinbarung eines angemessenen Preises, insbesondere im Bereich der psychischen Erkrankungen und Krankheiten des Nervensystems, erforderlich sein.
Von dieser Neuregelung konnte für einen Übergangszeitraum auch für Arzneimittel Gebrauch gemacht werden, für die bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes ein Erstattungsbetrag vereinbart oder von der Schiedsstelle festgesetzt wurde, indem die Vereinbarung oder der Schiedsspruch von jeder Vertragspartei bis zum 30. Juni 2017 gekündigt werden kann. Diese Option bestand auch für Arzneimittel zur Behandlung psychischer Erkrankungen und Krankheiten des Nervensystems.
Nach Kenntnis des Bundesministeriums für Gesundheit wurden zwei Arzneimittel (Briviact® und Fycompa®, beide zur Behandlung der Epilepsie) im Rahmen dieser gesetzlichen Änderung wieder in den deutschen Markt eingeführt, nachdem der Hersteller sich zuvor dazu entschlossen hat, dieses Arzneimittel nicht mehr in Deutschland zu vertreiben.
Die Entwicklung des AMNOG-Prozesses wird vom BMG kontinuierlich beobachtet.“
Für die Verfasser: Ewald König, Postfach 8 01 11, 10001 Berlin, E-Mail: koenig@korrespondenten.com
Hintergrund: Was will die GESENT-Initiative erreichen?
GESENT e. V. ist die Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-Psychopharmako-Therapie. Sie ist eine unabhängige und gemeinnützige Organisation mit Sitz in Würzburg, die 2005 von Vertretern der Wissenschaft, des Gesundheitswesens und der Industrie gegründet wurde. Zweck des Vereins ist die Förderung der präklinischen und klinischen Entwicklung von Neurotherapeutika zum Nutzen der Krankenversorgung unter Berücksichtigung ethischer und wirtschaftlicher Prinzipien. Dafür bringt GESENT relevante Interessengruppen, insbesondere wissenschaftliche, staatliche und industrielle Organisationen und Kostenträger zusammen, um neue theoretische Erkenntnisse möglichst rasch und effizient für den therapeutischen Fortschritt nutzen zu können.
Die Initiative will die Bedingungen für die Bereitstellung neuer wirksamer Neuropsychopharmaka verbessern, da zwischen den Akteuren wie Krankenkassen, Zulassungsbehörden, Ärzten sowie Vertretern der Krankenhäuser, der Patienten und der Pharmaindustrie immer größere Divergenzen erkennbar seien. Ziel der GESENT-Initiative ist es, Ärzte, Apotheker, Politiker, Bevölkerung und Medienvertreter über die Problematik zu informieren. Ärzte aus Kliniken und Praxen sollten ebenso in Gremien mitwirken können wie Patienten, Betroffene und deren Angehörige mit ihren praktischen Erfahrungen, um das AMNOG für Neuropsychopharmaka zu verbessern.
GESENT-Präsident Professor Peter Riederer skizzierte GESENT als Plattform für die Zusammenführung unterschiedlicher Interessengruppen. Ohne Dialog und Kooperation aller Beteiligten könnten neue wissenschaftliche Erkenntnisse nicht rasch in therapeutischen Fortschritt umgesetzt werden. „Die einzelnen Player schotten sich immer mehr ab und sprechen verschiedene Sprachen.“
Gefragt, was die GESENT-Initiative erreichen soll, sagte Riederer: „Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. In diesem Sinne wollen wir mit unserer Initiative einen Prozess in Gang setzen, in dessen Verlauf regulatorische Anpassungen im Arzneimittelsektor erfolgen und die Versorgungssituation im Bereich neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen verbessert werden könnte. Die Zahl dieser Erkrankungen nimmt weltweit stetig zu.“ Untersuchungen des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie haben ergeben, dass bereits 38 % der EU-Bürger – das sind mehr als 165 Millionen Menschen – an mindestens einer neuropsychiatrischen Erkrankung leiden.
Obwohl in Deutschland Neuropsychopharmaka die am zweithäufigsten verordneten Arzneimittel seien, werde ihr therapeutisches Potenzial vielfach nur unzureichend genutzt, so Riederer. „Das zeigt sich zum Beispiel bei Patienten mit Demenz. Obwohl deren Zahl unaufhörlich wächst, erhalten nur etwa 300 000 – jeder Vierte – dieser Patienten wirksame Antidementiva.“ Es sei Tatsache, dass forschende Arzneimittelhersteller selbst für Substanzen mit gutem Zusatznutzen meist keinen wirtschaftlich sinnvollen Abgabepreis erzielen könnten.
Nach den neun Jahren, in denen das AMNOG in Kraft ist, habe man die gesetzlichen Regelungen auf Aktualität und Sinnhaftigkeit überprüfen können. Nun gebe es inzwischen genügend Spielräume für sachgerechte Anpassungen rechtlicher und Verfahrensregelungen. „Es war also Zeit, rechtliche und regulatorische Weichenstellungen bei der Versorgung von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen vorzunehmen. Entgegen anders lautenden Behauptungen gibt es keine einheitliche, international konsentierte wissenschaftliche Grundlage für die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln, die einer von uns angestrebten realitätsnahen Überarbeitung des AMNOG entgegenstehen würde“, teilte Riederer mit.
Sollte es in absehbarer Zeit nicht zu signifikanten Korrekturen des AMNOG für Medikamente in Neurologie und Psychiatrie kommen, wird sich der gegenwärtige Trend zum Nachteil der Patienten weiter verstärken. Deutschland fiele in einem zentralen Bereich der Humanmedizin weiter zurück und die Möglichkeiten der Anwendung fortschrittlicher Behandlungsmethoden würden weiter eingeschränkt. Dieses Szenario widerspreche dem ärztlichen Ethos, stets die bestmöglichen Therapien für die Patienten anzuwenden. In Konsequenz werde dies einen Verlust an Lebensqualität auf Seiten der Patienten bedeuten.
Betroffen seien aber auch die Ärzte durch die immer weitere Einschränkung der Therapiefreiheit. Ärzte und Patienten würden durch regulative Vorgaben noch stärker verunsichert als bisher schon. Langfristig drohten Kostenreduktion und Qualitätsverschlechterung zu Lasten der Patienten und deren Angehörigen.
Riederer: „Wer die Qualität der Patientenversorgung in Deutschland in Neurologie und Psychiatrie auf einem hohen Niveau haben will, muss es den Ärzten ermöglichen, ihren Patienten eine individuelle, auf die konkreten Bedürfnisse zugeschnittene Behandlung zuteilwerden zu lassen. Und nicht zuletzt: Kommen innovative Medikamente in Deutschland nicht auf den Markt, wird es in der Folge auch weniger Engagement der Pharmaindustrie geben, diese in Deutschland zu entwickeln.“
Psychopharmakotherapie 2020; 27(01)