Medikamentöse Depressionsbehandlung überraschend im Aufwind?


Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, München

Die medikamentöse Depressionsbehandlung hat in den letzten beiden Jahrzehnten immer wieder kritische Kommentierung erfahren, insbesondere in Hinblick auf die wiederholt infrage gestellte Wirksamkeit der Antidepressiva. Diese kritische Hinterfragung ist auch heute immer wieder zu hören und zu lesen. Im seinem Editorial von Heft 3/2019 der PPT hat sich Prof. W. Müller damit kritisch und engagiert auseinandergesetzt [8].

Es gibt aber auch eindeutige positive Botschaften, beispielsweise auf der Basis von Metaanalysen und Netzwerk-Metaanalysen der letzten Jahre, die die Wirksamkeit der Antidepressiva bei der Behandlung der Depression (major depressive disorder, MDD) auf der Basis der Zusammenfassung aller randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) – ein Großteil davon Placebo-kontrolliert – bestätigen. Viel Beachtung fand insbesondere die Netzwerk-Metaanalyse von Cipriani et al. (2018) [2], die im PPT-Editorial von Heft 2/2018 von mir kommentiert wurde [7]. Die Wirksamkeitsunterschiede der verschiedenen Antidepressiva/Antidepressiva-Gruppen sind in dieser und anderen Netzwerk-Metaanalysen, abgesehen von der sehr niedrigen Wirksamkeit von Reboxetin, nur geringgradig bis mittelmäßig. Ausgeprägter sind die Verträglichkeitsunterschiede und die damit zusammenhängenden „acceptability“-Differenzen, d. h. Unterschiede in den Non-Dropout-Raten.

Interessant ist, dass Metaanalysen offenbar nicht nur die Basis für die Evidenzgradierung in Leitlinien abgeben, sondern offenbar inzwischen auch den Verkaufserfolg von bestimmten Antidepressiva bestimmen können. Dies zeigte Frau Prof. Salanti (aus der Forschungsgruppe Cipriani) beim CINP-Kongress in Athen (Oktober 2019): Die frühere Antidepressiva-Netzwerk-Metaanalyse (Cipriani et al. 2009) ergab, dass Escitalopram und Sertralin hinsichtlich Wirksamkeit und Akzeptabilität am günstigsten abschnitten [1]. Unter zusätzlicher Berücksichtigung des günstigeren Preises wurde von den Autoren Sertralin als Mittel der Wahl für Großbritannien empfohlen. Diese Empfehlung führte zu einem erheblichen Verordnungsanstieg von Sertralin.

Immer wieder wurde versucht, die Relevanz von Dosierungsunterschieden bzw. Serumspiegelunterschieden der Antidepressiva in der Depressionsbehandlung zu evaluieren. Besonders das in Deutschland gut etablierte Drug-Monitoring leistete auf diesem Gebiet wertvolle praxisnahe Arbeit. Die PPT berichtet immer wieder über Resultate der Arbeitsgruppe „Therapeutisches Drug-Monitoring“. Inzwischen werden auch die Ergebnisse randomisierter, kontrollierter Doppelblindstudien zur Dosierung metaanalytisch zusammengefasst. Furukawa et al. (2019, aus der Gruppe um Cipriani) konnten in ihre Metaanalyse zur Dosierung von SSRI, Venlafaxin und Mirtazapin erstaunlicherweise 77 Studien einbeziehen. Die Schlussfolgerung lautet: Für die meisten SSRI sowie Mirtazapin und Venlafaxin bietet der untere Dosisbereich die optimale Balance zwischen Wirksamkeit, Verträglichkeit und Akzeptabilität (non-dropout) [3]. Diese sehr globale Schlussfolgerung bedarf aus der Sicht des Klinikers wie des klinischen Psychopharmakologen der kritischen Hinterfragung unter vielen Aspekten, beispielsweise Erstbehandlung vs. Behandlung therapieresistenter Patienten, Eindosierung vs. Dosissteigerung im Verlauf und andere.

Mit der bevorstehenden Zulassung neuer Antidepressiva wird immer wieder, wohl auch im Sinne eines Prämarketings, auf die unzureichende Wirksamkeit der vorhandenen Antidepressiva und besonders auf das Problem der Therapieresistenz/-refraktärität hingewiesen. Das ist einerseits richtig, andererseits führt es aber wieder zur Hinterfragung der Depressionsbehandlung mit Antidepressiva. Die insbesondere von US-amerikanischen Kollegen immer wieder in diesem Kontext referierten ungünstigen Ergebnisse der STAR-D-Studie, einer sogenannten „real world study“, verzerren aus der Sicht vieler deutscher Kollegen das Bild, da offenbar nicht eine repräsentative Stichprobe eingeschlossen wurde, sondern eine Gruppe refraktärer bzw. chronischer Patienten. Wir sollten eher auf Ergebnisse von Studien aus der realen Versorgungssituation in Deutschland zurückgreifen. Zu den in diesem Kontext zu berücksichtigenden naturalistischen Studien gehören verschiedene nichtinterventionelle Studien („non intervention study“ = NIS, früher Anwendungsbeobachtungen genannt), beispielsweise zur Monotherapie mit Escitalopram (Möller et al., 2007) [6] oder zur Monotherapie mit Agomelatin (Laux et al., 2011, 2013) [4, 5]. Da in nichtinterventionellen Studien von neuen Antidepressiva im ambulanten Feld sicherlich vorrangig Patienten eingeschlossen werden, die eine gute bis durchschnittliche Behandlungsprognose haben, ist es wichtig, als Gegenbeispiel Patienten aus der stationären Behandlung zu nehmen, die unter den Bedingungen in Deutschland größtenteils behandlungsresistent oder gar therapierefraktär sind (somit eher den STAR-D-Patienten vergleichbar). Mit den medikamentösen und sonstigen therapeutischen Möglichkeiten (z. B. Antidepressiva-Wechsel, Antidepressiva-Kombination, verschiedene Augmentationsstrategien) im Rahmen der stationären Behandlung gelingt es aber auch bei einem Großteil dieser Patienten, zu einem günstigen Therapie-Ergebnis zu kommen, wie die große naturalistische Studie des deutschen Kompetenznetzwerks Depression/Suizidalität gezeigt hat (Seemüller et al., 2010) [9]. Vereinfachend zusammengefasst kann man sagen, dass es in der ambulanten Behandlung bei 70 % der Patienten mit MDD zur Response und bei 50 % zur Remission kommt. Bei den prognostisch ungünstigen bzw. therapieresistenten, zur stationären Behandlung aufgenommenen Patienten (unter vielen Aspekten mit den STAR-D-Patienten vergleichbar!) kann mit den Möglichkeiten der stationären Behandlung nach im Durchschnitt etwa 60 Tagen ein ähnliches Ergebnis erreicht werden.

Dieser im Prinzip gute Behandlungserfolg soll nicht über die dringend erforderliche Verbesserung der antidepressiven Medikation hinwegtäuschen. Seit wenigen Jahren findet die Infusionstherapie mit Ketamin oder Esketamin (Antagonist am NMDA-Rezeptor) bei therapieresistenten oder therapierefraktären Depressiven wegen des sofortigen Wirkungseintritts, nicht nur des antidepressiven Effekts, sondern auch des antisuizidalen Effekts, große Beachtung. Die Firma Janssen hat inzwischen ein Esketamin-Intranasal-Spray entwickelt und aufwendig in klinischen Studien, vorrangig an therapieresistenten Patienten, als Add-on-Medikation zu einem SSRI/SNRI geprüft. Damit wurde nicht nur die spezielle Anwendungsform, sondern insgesamt das antiglutamaterge Wirkprinzip an großer Fallzahl geprüft. Das positive Gesamtergebnis dieser Studien führte vor einigen Monaten zur Zulassung in den USA (FDA-Zulassung). Vor wenigen Wochen hat auch das CHMP, das zuständige Gremium der EU-Zulassungsbehörde (EMA), ein positives Votum abgegeben, sodass in Kürze mit der Zulassung in der Indikation therapieresistente Depression zu rechnen ist und das Medikament dann auch in der EU eingeführt werden kann. Die Zulassung erfolgt für eine „add on“/Kombinations-Therapie mit einem SSRI/SNRI, eine Konsequenz aus der Studiendurchführung. Im klinischen Alltag wird diese Restriktion im Laufe der Zeit wahrscheinlich aufgeweicht werden. Neben der großen praktischen, klinischen Bedeutung ist wichtig, dass damit ein neuer Wirkungsmechanismus (NMDA-Antagonismus, antiglutamaterge Wirkung) in die Depressionsbehandlung eingeführt wird.

Es kommt offenbar wieder Schwung in die Entwicklung neuer Antidepressiva. Um die Freude über diese positive Entwicklung noch zu vermehren, sei abschließend darauf hingewiesen, dass es eine weitere innovative Entwicklung in der Depressionsbehandlung gibt: das Neurosteroid Brexanolon, das zunächst für die Post-partum-Depression als intravenöse Applikation entwickelt und inzwischen in den USA in dieser Indikation zugelassen wurde. Derzeit werden Studien mit einer peroralen Form an Patienten mit MDD durchgeführt. Das Besondere bei diesem Medikament ist das innovative Konzept, dass nach Erreichen der Remission in der Akut-Therapie eine medikamentöse Weiterbehandlung nicht mehr nötig sein soll. Dieses Konzept bedarf allerdings noch der empirischen Bestätigung.

Interessante Entwicklungen! Wer hätte das vor wenigen Jahren gedacht?? Weiter so!!

Literatur

1. Cipriani A, et al. Comparative efficacy and acceptability of 12 new-generation antidepressants: a multiple-treatments meta-analysis. Lancet 2009;373:746–58.

2. Cipriani A, et al. Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. Lancet 2018;391:1357–66.

3. Furukawa TA, et al. Optimal dose of selective serotonin reuptake inhibitors, venlafaxine, and mirtazapine in major depression: a systematic review and dose-response meta-analysis. Lancet Psychiatry 2019;6:601–9.

4. Laux G, et al. Antidepressive Therapie mit Agomelatin in der Facharztpraxis. Ergebnisse der VIVALDI-Studie. Psychopharmakotherapie 2011;18:18–26.

5. Laux G, et al. Agomelatin in der Depressionsbehandlung über 12 Monate. Follow-up der VIVALDI-Studie. Psychopharmakotherapie 2013;20:119–27.

6. Möller HJ, et al. Behandlung der Depression mit Escitalopram. Ergebnisse einer großen Anwendungbeobachtung. Psychopharmakotherapie 2007;14:149–56.

7. Möller HJ. Der Zauber der Netzwerk-Metaanalysen. Neueste NM ausreichend, um den Stand zur vergleichenden Wirksamkeit/Akzeptanz der Antidepressiva darzustellen? Psychopharmakotherapie 2019;25:51.

8. Müller WE. Quo vadis Arzneimittelkommission? Psychopharmakotherapie 2019;26:15–6.

9. Seemüller F, et al. Outcomes of 1014 naturalistically treated inpatients with major depressive episode. Eur Neuropsychopharmacol 2010;20:346–55.

Psychopharmakotherapie 2019; 26(06)