Simon Faissner und Ralf Gold, Bochum
Die multiple Sklerose (MS) ist eine chronische inflammatorische Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), die durch Demyelinisierung und damit einhergehend axonalen Schaden mit Neurodegeneration gekennzeichnet ist. Die Erkrankung manifestiert sich bei 85 % der Patienten als schubförmig-remittierende Form (RRMS), die durch mehr als ein Dutzend teils hoch effektiver Medikamente mittlerweile gut behandelt werden kann. Durch natürliche Verlaufsstudien ist mittlerweile gut bekannt, dass die RRMS ohne Therapie bei der Hälfte der Patienten nach 15 bis 20 Jahren in eine sekundär chronisch progrediente Verlaufsform (SPMS) übergeht [43], bei der Schubaktivität in den Hintergrund gerät und die Zunahme schleichender Behinderung vordringlich wird. Zudem gibt es 10 bis 15 % der Patienten, bei denen ein primär progredienter Verlaufstyp (PPMS) besteht, der unabhängig von Schüben ist. Bisher sind die Behandlungsoptionen der progredienten Formen der Erkrankung deutlich weniger erfolgreich und effektiv als die Therapeutika, die für die RRMS zugelassen sind. Die Ursachen hierfür sind multifaktoriell. Eine Haupterklärung liegt darin, dass neurodegenerative Vorgänge an Fahrt aufnehmen und Inflammation aus der Peripherie an Wichtigkeit verliert. Die bisher zugelassenen Medikamente können diese neurodegenerativen Aspekte jedoch nur unzureichend adressieren. Progrediente Formen der MS, hier als progrediente MS (PMS) zusammengefasst, sind durch das Ablaufen chronischer Inflammation hinter einer weitestgehend geschlossenen Blut-Hirn-Schranke durch Mikroglia, jedoch in geringerem Maße auch T-Zellen, sowie durch die Bildung Follikel-ähnlicher B-Zell-Strukturen gekennzeichnet [24]. Durch die Freisetzung reaktiver Sauerstoff- und Stickstoffmetaboliten kommt es zu mitochondrialem und axonalem Schaden mit konsekutiver Neurodegeneration. In den letzten Jahren wurden mit dem B-Zell-depletierenden Antikörper Ocrelizumab bei aktiver PPMS sowie dem S1P-Rezeptor-Modulator Siponimod bei SPMS positive Phase-III-Studien abgeschlossen, die zu der Zulassung von Ocrelizumab bei PPMS geführt haben. Siponimod ist von der FDA bereits seit März 2019 zugelassen und befindet sich gegenwärtig in der Zulassungsphase für SPMS in Deutschland.
Für die Diagnose eines chronisch progredienten Verlaufs der Erkrankung muss eine kontinuierliche Verschlechterung der MS über mindestens sechs Monate vorliegen. Schubereignisse sind hierbei mit bleibender Behinderung, gemessen mittels EDSS (Expanded disability status scale), assoziiert [26]. Es zeigt sich jedoch zunehmend, dass die Behinderungszunahme über einen längeren Zeitraum unabhängig von Schubereignissen oder der reinen MRT-Läsionslast ist und bereits bei Vorliegen einer RRMS eine sogenannte „stille Progression“ abläuft [8]. Globale Hirnatrophie sowie besonders Atrophie der grauen Substanz wird durch Verbesserung der MRT-Technik sowie -Protokolle zunehmend als Endpunkt von Studien untersucht [11].
In dieser Übersichtsarbeit werden wir die aktuellen Entwicklungen der Behandlung von progredienter MS zusammenfassen und das Management von Begleitsymptomen diskutieren.
Pathomechanismen von progredienter MS
Die Mechanismen von schleichender Behinderungszunahme wurden in den letzten Jahren intensiv durch tierexperimentelle Arbeiten sowie neuropathologische Studien untersucht. Mechanismen umfassen die chronische Inflammation hinter einer geschlossenen Blut-Hirn-Schranke durch Mikroglia. Aktivierte Makrophagen/Mikroglia finden sich in der sogenannten normal aussehenden weißen und grauen Substanz und korrelieren mit axonalem Schaden [22]. Außerdem kann die Freisetzung reaktiver Sauerstoff- und Stickstoffmetaboliten fokale axonale Degeneration verursachen, selbst wenn die Myelinscheide intakt ist [34]. Ein weiteres mit Progression assoziiertes Phänomen ist die Entwicklung von Follikel-ähnlichen B-Zell-Strukturen auf meningealem Gewebe, die mit einem früheren Erkrankungsbeginn, einer schnelleren Behinderungszunahme und einem früheren Todesalter assoziiert sind [20]. Dies wird unter anderem durch die subpiale Demyelinisierung der grauen Substanz und mikrogliale Aktivität in den Kortizes vermittelt [7, 20, 27]. Weitere Mechanismen umfassen die Ablagerung von Eisen in der normal aussehenden grauen Substanz, die mit Progression korreliert [18] und mit der Entwicklung von oxidativem Stress assoziiert ist [14]. Für eine ausführliche Übersicht von Pathomechanismen bei Progression siehe Lassmann und Kollegen [23, 24].
Therapieoptionen für progrediente MS
Bisher umfassten die Therapien für SPMS mit aufgelagerten Schüben die Interferon-beta-1b-Präparate Betaferon® sowie Extavia® und das Interferon-beta-1a-Präparat Rebif®, für die mittlerweile langjährige Erfahrungen vorliegen; oft treten jedoch deutliche Nebenwirkungen wie eine Zunahme der Spastik auf. Daneben ist das Zytostatikum Mitoxantron für die Therapie von nicht rollstuhlgebundenen MS-Patienten mit einem EDSS von 3 bis 6 als Eskalationstherapie bei Patienten mit sekundär chronisch progredienter MS sowie progressiv schubförmiger Verlaufsform mit anhaltender Krankheitsaktivität zugelassen (siehe DGN-Leitlinie). Aufgrund des Nebenwirkungsprofils mit Kardiotoxizität und Sekundärlymphomen sollte ein Einsatz gerade vor dem Hintergrund der zunehmend erhältlichen Alternativen kritisch hinterfragt werden. Im Folgenden werden wir die neuen Therapieentwicklungen zusammenfassen.
B-Zell Depletion
Die Wichtigkeit von B-Zell-„Nestern“ in den Meningen für die Zunahme von Behinderung wurde in den letzten Jahren zunehmend herausgestellt und untersucht. So konnte unter anderem nachgewiesen werden, dass diese Strukturen mit Demyelinisierung der grauen Substanz sowie der Aktivierung von Mikroglia assoziiert sind [7, 20, 27]. Die molekularen Nachweise des EBV-(Epstein-Barr-Virus-)Genoms sind eher als Artefakte zu werten. Die OLYMPUS-Studie, bei welcher der B-Zell-gerichtete monoklonale Antikörper Rituximab untersucht wurde, war zwar negativ bezüglich des Endpunkts „bestätigte Behinderungsprogression“ [19]. Es konnte jedoch nachgewiesen werden, dass Patienten, die jünger als 51 Jahre alt waren oder Gadolinium-aufnehmende Läsionen aufwiesen, von Rituximab profitierten. Gegenwärtig wird die kombinierte periphere und intrathekale Gabe von Rituximab in einer Phase-II-Studie untersucht (NCT02545959).
Die Nachfolgesubstanz, der humanisierte monoklonale Antikörper Ocrelizumab, ebenfalls gegen CD20 gerichtet, wurde in der großen ORATORIO-Studie bei PPMS untersucht [33]. Die Studie umfasste eine Patientenpopulation von 732 Patienten und untersuchte den primären Endpunkt „bestätigte Behinderungsprogression“. Nach 12 Wochen war das Risiko einer Behinderungsprogression um 24 % gegenüber Placebo reduziert (Hazard-Ratio [HR] 0,76; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,59–0,98; p = 0,03). Nach 24 Wochen bestand der Effekt weiterhin (HR 0,75; 95%-KI, 0,58–0,98; p = 0,04). Nach 120 Wochen fand man zudem einen positiven Effekt auf den 25-Fuß-Gehtest (T25FW) sowie auf die Hirnatrophie. So zeigte sich eine Verschlechterung des T25FW in der Ocrelizumab-Gruppe bei 38,9 % der Patienten gegenüber 55,1 % in der Placebo-Gruppe (p = 0,04). Außerdem fiel die Hirnatrophie geringer aus (0,9 % gegenüber 1,09 %; p = 0,02). Ocrelizumab wurde in der Studie meist gut vertragen. Nebenwirkungen, die in der Behandlungsgruppe vermehrt auftraten, umfassten Infusionsreaktionen, obere Atemwegserkrankungen sowie orale Herpesinfektionen. Die positiven Daten dieser Kernstudie führten zur Zulassung von Ocrelizumab durch die Arzneimittelbehörde der Vereinigten Staaten (FDA) und die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) im März 2017 als erste zugelassene Medikation für PPMS; ein Meilenstein für die MS-Therapie.
In der Tat zeigen Langzeitdaten der ORATORIO-Studie zunehmend eine langfristige Stabilisierung der behandelten Patienten. Von Wolinsky und Kollegen wurde untersucht, ob die Behandlung mit Ocrelizumab „No evidence of progression or active disease“ (NEPAD) oder „No evidence of progression“ (NEP) erzielen kann [44]. Hierbei handelt es sich um einen neuen kombinierten Endpunkt, bestehend aus vier Bereichen:
- keine Krankheitsprogression (EDSS nach 12 Wochen um ≥ 1/≥ 0,5 Punkte, falls der Baseline-Score bei ≤ 5,5/> 5,5 Punkten lag),
- keine Verschlechterung des T25FW und 9-Hole-Peg-Test (Steckbrett-Test für Geschicklichkeit) nach 12 Wochen um ≥ 20 %,
- keine MRT-Aktivität (keine neuen oder vergrößerten T2-Läsionen und keine Aufnahme des Kontrastmittels Gadolinium) und
- keine Schubereignisse.
Sowohl hinsichtlich NEPAD (29,9 % vs. 9,4 %; relatives Risiko 3,15; 95%-KI 2,07–4,79; p < 0,001) als auch hinsichtlich NEP (42,7 % vs. 29,1 %; relatives Risiko 1,47; 95%-KI 1,17–1,84; p < 0,001) zeigte sich ein signifikant positiver Effekt durch Ocrelizumab [44]. Auch das Risiko einer Behinderungszunahme der oberen Extremität, gemessen mittels 9-Hole-Peg-Test, war durch Ocrelizumab in einer Post-hoc-Analyse reduziert [12]. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund von Relevanz, dass der EDSS vor allem Behinderung der unteren Extremitäten mit der Fähigkeit zu gehen bewertet, die Funktion der oberen Extremität jedoch unterrepräsentiert ist. Das gute Sicherheitsprofil der Kernstudie konnte in einer Analyse von 1651 Patienten aus den OPERA-I- und II- sowie ORATORIO-Studien bestätigt werden. So wurden vornehmlich Infusions-assoziierte unerwünschte Ereignisse registriert, die von milder bis moderater Schwere waren [30].
Nachfolgepräparate wie der Immunoglobulin-1ĸ-(IgG1ĸ-)lytische Antikörper Ofatumumab, der subkutan appliziert wird, sind gegenwärtig in der Entwicklung. Nach der MIRROR-Studie bei schubförmiger MS [3] wird die Substanz aktuell in einer großen Phase-III-Studie bei RRMS untersucht (NCT03249714). Ein Endpunkt ist die „bestätigte Behinderungsprogression“ nach fünf Jahren. Aktuell wird Ofatumumab jedoch nicht bei PMS untersucht.
Modulation des S1P-Rezeptors
Der erste S1P-Rezeptor-Modulator Fingolimod spielt eine feste Rolle in der Behandlung von hoch-aktiver RRMS. Die Untersuchung von Fingolimod in der INFORMS-Studie bei PPMS war jedoch negativ [25]. Die S1P-Rezeptor-Familie umfasst fünf Subtypen, die an verschiedenen Zelltypen exprimiert werden, unter anderem am Herzen, und daher das Nebenwirkungsspektrum von Fingolimod wie Bradykardie und AV-Block erklären. Die Nachfolgesubstanzen sind deutlich spezifischer. Der S1P-Rezeptor-Modulator Siponimod (BAF312) ist ein selektiver S1P-Rezeptor-Modulator mit hoher Affinität an der Untereinheit 5 des S1P-Rezeptors. Pathomechanistisch ist mittlerweile eine Vielzahl an Effekten beschrieben, die durch das Medikament vermittelt werden. So führt Siponimod tierexperimentell in einem Mausmodell der MS, der experimentellen autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE), zu einer Hemmung des Lymphozytenausstroms aus dem Thymus und sekundär lymphatischen Organen [16] und verbessert den klinischen Verlauf der EAE, einhergehend mit verringerter Astrogliose und Mikrogliaaktivierung [15]. Zudem verursacht Siponimod Remyelinisierung [28] und gilt damit als interessantes Medikament, um neben den antiinflammatorischen Effekten auch neuroprotektiv zu wirken.
Siponimod wurde in mehreren klinischen Studien untersucht. Die Phase-II-Studie BOLD wurde bei Patienten mit einer RRMS durchgeführt und umfasste in zwei Kohorten 297 Patienten. Es zeigte sich ein dosisabhängiger Effekt der Medikation nach drei Monaten gegenüber Placebo hinsichtlich des Endpunkts kombinierter aktiver Läsionen nach drei Monaten mit einer Reduktion von 82 % (70–90) in einer Dosis von 10 mg/Tag [41]. Interessanter für PMS war die Phase-III-Folgestudie, die bei Patienten mit SPMS durchgeführt wurde und 1651 Patienten umfasste (EXPAND, NCT01665144). In der EXPAND-Studie bestand der primäre Endpunkt aus bestätigter Behinderungsprogression nach drei Monaten. Durch die Behandlung mit Siponimod in einer Dosis von 2 mg/Tag kam es zu einer 21%igen Reduktion des relativen Risikos für eine bestätigte Behinderungszunahme (p = 0,013). Auch nach sechs Monaten zeigte sich ein signifikanter Effekt (26 %; p = 0,0058). Neben dem positiven klinischen Effekt zeigte sich auch ein signifikant protektiver Effekt auf die Hirnatrophie. Im Mittel über 12 und 24 Monate war die prozentuale Hirnvolumenabnahme um 15 % reduziert (p = 0,0002). Das Risiko für das Auftreten einer Gadolinium-aufnehmenden Läsion war um 86 % reduziert (p < 0,0001). Insgesamt wurde die Medikation gut vertragen. Unerwünschte Nebenwirkungen, die signifikant häufiger in der Behandlungsgruppe als in der Placebo-Gruppe auftraten, umfassten Lymphopenien, Erhöhung der Lebertransaminasen, Bardykardien und Bradyarrhythmien bei der Erstgabe, Makulaödem, Blutdruckerhöhung, Varicella-Zoster-Virus-Reaktivierungen und Krampfanfälle. Das Risiko für Infektionen oder Neoplasien war hingegen nicht erhöht. Seit dem 27.03.2019 ist Siponimod durch die FDA für CIS, RRMS und aktive SPMS zugelassen (Filmtabletten). Aktuell läuft das Zulassungsverfahren durch die Europäische Arzneimittel-Agentur; die Zulassung wird für Ende 2019 erwartet.
Remyelinisierung
Myelin ist entscheidend für die schnelle Überleitung von Nervenimpulsen durch das ummantelte Axon sowie für die trophische Unterstützung desselben. Remyelinisierung läuft zwar spontan ab, nimmt jedoch im Alter ab. In den letzten Jahren ist für mehrere Medikamente gezeigt worden, dass sie in der Lage sind, Remyelinisierung zu verbessern. Ein Medikament in einer fortgeschrittenen Entwicklungsstufe ist der monoklonale Antikörper Opicinumab (BIIB033), der sich gegen den Hemmer der Oligodendrozyten-Differenzierung „Leucine rich repeat and Immunoglobin-like domain-containing protein 1“ (LINGO-1) richtet. Opicinumab wurde in einer Phase-II-Dosisfindungsstudie (SYNERGY) bei RRMS und SPMS in den Dosierungen 3, 10, 30 sowie 100 mg/kg Körpergewicht (i. v. alle 4 Wochen) untersucht. Die Patienten erhielten zusätzlich Interferon beta-1a intramuskulär (1-mal/Woche). Der primäre Endpunkt, bestehend aus Verbesserung eines mehrere Komponenten umfassenden Scores (EDSS, Timed 25-Foot Walk, 9-Hole-Peg-Test und 3-Second Paced Auditory Serial Addition-Test) nach drei Monaten, wurde nicht erreicht [32]. Opicinumab wurde zudem bei Patienten mit einer Optikusneuritis untersucht und in einer Dosis von 100 mg/kg alle vier Wochen sechsmal infundiert. Der primäre Endpunkt lautete Verbesserung der Latenzen der visuell evozierten Potenziale (VEP) und wurde ebenfalls verpasst (durchschnittliche Differenz nach 24 Wochen: –3,5 ms; p = 0,33 und nach 32 Wochen: –6,1 ms; p = 0,071) [5]. Es konnte ebenso kein Effekt auf die retinale Nervenfaserschichtdicke detektiert werden. Um potenzielle langfristige Effekte zu detektieren, wird die Studie aktuell über weitere zwei Jahre fortgeführt (RENEWed; NCT02657915). Eine kürzlich durchgeführte Analyse verschiedener das Sehen evaluierender Scores und Parameter (25-item National Eye Institute Visual Functioning Questionnaire, 10-item Neuro-Ophthalmic Supplement, and high-contrast visual acuity) zeigte nach 24 Wochen keine Verbesserung [36]. Die Phase-II-Studie SYNERGY, die bei RRMS durchgeführt wurde, zeigte keine Verbesserung eines mehrere Parameter umfassenden Endpunkts, sodass die Studie beendet wurde. Bisher sind die Ergebnisse nicht veröffentlicht.
Ein weiteres die Remyelinisierung verbesserndes Medikament ist das Antihistaminikum Clemastin, das in einem Modell toxischer Demyelinisierung im Tier, dem Cuprizone-Modell, Remyelinisierung verbessert [31]. Clemastin wurde in der Phase-II-Studie ReBUILD bei 50 Patienten mit einer MS und chronisch demyelinisierenden optischen Neuropathie hinsichtlich der Verbesserung der Latenzen der VEP untersucht. Tatsächlich zeigte sich eine signifikante Verbesserung gegenüber Placebo von 1,7 ms (95%-KI 0,5–2,9; p = 0,0048) [17]. Es kam jedoch ebenso zu einer Zunahme der Fatigue bei behandelten Patienten. Aktuell läuft die Phase-II-Studie ReCOVER, bei der Änderungen der P100-Latenzen im VEP über bis zu neun Monate evaluiert werden (NCT02521311).
Weitere Therapien in der Entwicklung
Neben den hier gezeigten Therapien, die teils zugelassen sind, sich teils in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium befinden, gibt es eine Vielzahl von Substanzen, die in präklinischen laborexperimentellen Studien sowie klinischen Studien untersucht werden. Therapieziele umfassen die Modulation von chronischer Inflammation durch Mikroglia, die Reduktion von oxidativem Stress, der durch Glia sowie die Ablagerung von Eisen vermittelt wird, die Modulation der Entwicklung eines Energiedefizits durch mitochondrialen Schaden und die Neuroprotektion, im Detail von den Autoren in einem anderen Artikel zusammengefasst [10]. Ein vielversprechender Ansatz ist der Phosphodiesterase-Inhibitor Ibudilast, der in Asien für Asthma und Schwindel nach einem Schlaganfall zugelassen ist. Ibudilast wurde in einer 255 Patienten umfassenden Kohorte von PPMS- und SPMS-Patienten untersucht. Der primäre Endpunkt war Veränderung des Hirnparenchymvolumens. Ibudilast führte zu einem um 2,5 ml verringerten Hirnparenchymverlust nach 96 Wochen [13].
Symptomatische Therapie von Progression
Neben der Pharmakotherapie besteht ein wichtiger Bestandteil einer ganzheitlichen MS-Therapie sowohl in einem frühen als auch in einem progredienten Stadium darin, Komplikationen durch präventive Strategien frühzeitig zu erkennen und therapeutisch zu adressieren. Physiotherapie auf neurophysiologischer Basis mehrmals die Woche stellt einen wichtigen Bestandteil der Prävention und zum Erhalt der motorischen Funktionen dar. In einer Metaanalyse von 18 Studien hatten sowohl aerobes Training als auch Physiotherapie einen positiven Effekt auf die physische Funktion, die mentale Leistungsfähigkeit und das Sozialleben; Yoga hingegen war nicht effektiv [1]. In einer Übersichtsarbeit der Cochrane-Datenbank, bei der 15 Übersichtsarbeiten mit 164 randomisierten kontrollierten Studien eingeschlossen wurden, zeigte sich ein positiver Effekt von strukturierten, multidisziplinären Rehabilitationsprogrammen und Bewegung in Form von sportlichem Training oder körperlicher Bewegung auf Mobilität, Muskelkraft und die aerobe Kapazität sowie die Lebensqualität [2]. Sportliche Intervention hat zudem einen positiven Effekt auf Schlaf, Depression, Parästhesien, Fatigue und Kognition bereits nach einer drei Wochen dauernden Intervention [38]. In einem späteren Stadium werden neben klassischer Krankengymnastik, Physiotherapie und Ergotherapie auch motorgetriebene Fahrräder eingesetzt.
Ein weiterer Schlüsselpunkt ist das Management von Spastik, sowohl um die Beweglichkeit zu erhalten als auch aufgrund des Effekts auf die Intimhygiene und die Blasenentleerung. Spastik der unteren Extremitäten korreliert negativ mit Gang und Mobilität [35]. Medikamentöse Antispastika, die eingesetzt werden, umfassen Baclofen, Tizanidin und das Mittel Nabiximols als Spray, welches Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) enthält. Daneben besteht die Möglichkeit der Direktverschreibung von Cannabis über die Bundesopiumstelle. Weiterhin kann ein Therapieversuch mit der intrathekalen Eingabe von Triamcinolon, einem kristallinen Cortison-Präparat, erfolgen. In einer kleinen Studie (n = 54 MS-Patienten) führte die Eingabe von Triamcinolonacetonid zu einer Besserung der Spastik [37]. Die Eingabe erfolgt üblicherweise in einer Dosis von 40 bis 80 mg an ein bis drei Tagen mit je einem Tag Pause und wird meist gut vertragen.
MS-Patienten sind häufig von einer zerebellären Ataxie betroffen, die üblicherweise bei willkürlichen Bewegungen auftritt und häufig mit Tremor assoziiert ist [42]. Die meisten pharmakologischen Ansätze, die eingesetzt werden, basieren auf kleinen Studien, die häufig negative Ergebnisse erzielt haben. Wirkstoffe umfassen Propranolol, Clonazepam, Levetiracetam und Carbamazepin, Dolasetron, Ondansetron und Cannabinoide [42]. Topiramat führte in einer kleinen Studie (n = 9) bei Patienten mit zerebellärem Tremor zu einer Verbesserung der Tremoramplitude [40]. Zudem gibt es Einzelfallberichte einer Besserung durch den Einsatz des Kaliumkanalblockers 4-Aminopyridin bei MS-Patienten mit Tremor [39].
Ein weiterer Bereich, der bei progredienter MS zunehmend in den Vordergrund tritt, betrifft Blasenentleerungsstörungen. Blasenentleerungsstörungen umfassen Dranginkontinenz und Entleerungsstörungen mit der Bildung von Restharn und betreffen bis zu 75 % der MS-Patienten [9]. Blasenstörungen entstehen meistens durch Konnexionsstörungen zwischen den pontinen und sakralen Blasenzentren durch spinale Läsionen [42]. Bei einer überaktiven Blase können anticholinerge Medikamente wie Oxybutynin eingesetzt werden, hier müssen jedoch negative Effekte auf die Kognition bedacht werden, weshalb Anticholinergika bei älteren Patienten und Patienten mit eingeschränkter Kognition mit Vorsicht eingesetzt werden sollten. Weitere Medikamente umfassen Tolterodin, Trospiumchlorid, Solifenacin, Darifenacin, Fesoterodin und Propiverin. Um eine Nykturie zu vermeiden, kann Desmopressin als nasales Spray eingesetzt werden. Dies führt zu einer deutlichen Reduktion der Miktionsfrequenz. Kontraindikationen umfassen unter anderem Nierenfunktionsstörungen und Herzinsuffizienz. Blasenstörungen begünstigen Harnwegsinfekte, die zu einer Verschlechterung der MS führen können. Um Harnwegsinfekte zu vermeiden, empfiehlt sich eine Harnansäuerung durch Methionin oder Cranberry-Präparate. Botulinumtoxin A kann im Rahmen eines individuellen Heilversuchs intravesikal appliziert werden. Hierunter kommt es zu einer signifikanten Verbesserung der Inkontinenzepisoden, der Miktionsfrequenz und der Nykturie mit einem mittleren Therapieeffekt von 9,7 Monaten [21]. Zudem kann bei schweren, pharmakoresistenten Störungen eine sakrale Neuromodulation der S3-Wurzel in Erwägung gezogen werden, die jedoch an einem erfahrenen Zentrum durchgeführt werden sollte.
Kognitive Störungen bei MS sind häufig (43–70 %) [6]. Betroffene Bereiche umfassen Gedächtnis, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, mentale Flexibilität und exekutive Funktionen [42]. Pharmakologische Interventionen zeigten kleine Effekte (Interferon beta) oder inkongruente Ergebnisse (Acetylcholinesterase-Inhibitoren, Memantin, Amantadin oder Ginkgo) [42], sodass gegenwärtig keine medikamentöse Behandlung zur Therapie kognitiver Störungen empfohlen werden kann (DGN-Leitlinie). Kleine Studien zeigen, dass ein intensives und spezifisches Aufmerksamkeitstraining eine Verbesserung bewirken kann [29]. Auch ein kurzzeitiges, sechs Wochen dauerndes kognitives Training führt zu einer Verbesserung verschiedener kognitiver Domänen und hat zudem einen positiven Effekt auf die Stimmung und Lebensqualität [4]. Generell empfiehlt sich eine allgemeine kognitive Aktivierung im Alltag, um die kognitive Leistungsfähigkeit zu erhalten.
Zusammenfassung
Die Behandlung der progredienten Formen der MS ist durch ein besseres Verständnis der Pathomechanismen in den letzten Jahren entscheidende Schritte vorangekommen. So steht für Patienten mit PPMS mit aktiver Erkrankung in Deutschland der monoklonale Antikörper Ocrelizumab zur Verfügung. Die Zulassung des neuen S1P-Rezeptor-Modulators Siponimod für SPMS wird für Ende 2019 erwartet. Außerdem gibt es eine Fülle von Substanzen, die sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden und chronische Inflammation, Neuroprotektion und Remyelinisierung adressieren. Daneben ist das Management bzw. die Behandlung von Begleitsymptomen bei langjähriger MS mit Progression von großer Bedeutung. Zukünftig ist ein multimodales Therapiekonzept denkbar, in welchem die verschiedenen Mechanismen von progredienter MS berücksichtigt und therapeutisch adressiert werden, um langfristig eine bessere Erkrankungsstabilität zu erzielen und bis zu einem gewissen Grad eine Regeneration zu ermöglichen.
Interessenkonflikterklärung
SF erhielt Reisekostenerstattung von Biogen Idec, Vortragshonorare von Novartis, Beratungshonorare von Celgene und Drittmittel von Novartis. Dies steht nicht in Zusammenhang mit diesem Manuskript.
RG erhielt Vortrags- und Beratungshonorare von Baxter, Bayer Schering, Biogen Idec, CLB Behring, Genzyme, Merck Serono, Novartis, Stendhal, Talecris und TEVA. Seine Klinik erhielt Drittmittelunterstützung von Bayer Schering, Biogen Idec, Genzyme, Merck Serono, Novartis und TEVA. Dies steht nicht in Zusammenhang mit diesem Manuskript.
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Jun.-Prof. Dr. med. Simon Faissner, Prof. Dr. med. Ralf Gold, St. Josef-Hospital, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, Gudrunstraße 56, 44791 Bochum, E-Mail simon.faissner@rub.de
Therapy of progressive multiple sclerosis
Multiple sclerosis (MS) is a chronic inflammatory-demyelinating disease of the central nervous system, characterized by the accumulation of axonal damage and neurodegeneration. Relapsing-remitting MS has more than a dozen authorized therapies available, which, however are much less effective during the progressive phase of the disease. Pathomechanisms of progression include chronic inflammation, mostly by microglia with release of reactive oxygen- and nitrogen species, the age-dependent accumulation of iron and the development of follicular-like structures in the meninges by B cells, altogether leading to axonal damage and neurodegeneration. Apart from the established medications for secondary-progressive MS interferon beta-1a and 1b and mitoxantrone the approval of the B-cell depleting antibody ocrelizumab for primary-progressive MS as well as the expected approval of the S1P receptor modulator siponimod for secondary-progressive MS increased the spectrum of therapies for progressive MS forms. In this review we will discuss current treatment options for progressive MS as well as management of accompanying symptoms.
Key words: secondary-progressive multiple sclerosis, primary-progressive multiple sclerosis, ocrelizumab, siponimod, neuroprotection
Psychopharmakotherapie 2019; 26(05)