Prof. Dr. med. Heinz Reichmann, Dresden
Sehr geehrte, liebe Leserinnen und Leser der Psychopharmakotherapie,
die Unternehmensberatung Roland Berger gibt der Neurologie die größten Zukunftschancen sämtlicher medizinischer Disziplinen. Dies beruht darauf, dass, wie wir alle wissen, der demographische Wandel zu immer mehr neurologischen Patienten führen wird und andererseits nach Jahren der klinisch basierten Diagnosen wir jetzt auf viel sichereren Beinen stehen. Die Diagnostik neurologischer Erkrankungen ist durch die Möglichkeiten der strukturellen und funktionellen Bildgebung, der neurophysiologischen Analyse und insbesondere auch der molekulargenetischen und molekularbiologischen Analysen deutlich sicherer geworden. Ein weiterer Grund, warum die Neurologie vermehrt in den Fokus der medizinischen Fächer rückt, ist die Tatsache, dass sie sich von einem deskriptiven Fach zu einem therapeutischen Fach gewandelt hat. Die aktuelle Ausgabe der PPT unterstreicht dies, wie ich meine, nachdrücklich.
Noch vor Jahren gab es für die progrediente multiple Sklerose keine verlässliche Therapie. Man spekulierte, ob Mitoxantron hilfreich sein könnte. Es gab aber doch erhebliche Zweifel, ob die primär und sekundär chronisch progrediente multiple Sklerose aufhaltbar und in Ansätzen therapierbar wäre. Wie Feistner und Gold, Bochum, eindrücklich in ihrer Übersichtsarbeit dokumentieren, hat sich dies unter dem Einsatz moderner B-Zell-gerichteter monoklonaler Antikörper, beispielsweise Ocrelizumab, deutlich verändert. Es gibt jetzt erste Hoffnungszeichen darauf, dass mit dieser Therapie auch diese schwerste Form der multiplen Sklerose mit gewissem Erfolg angegangen werden kann.
Aus dem Bereich der Epileptologie beschreiben Kay und Kollegen aus Frankfurt am Main die pharmakotherapeutischen Strategien in der Behandlung des Status epilepticus. Nach wie vor gehört der Status epilepticus zu den wichtigsten neurologischen Notfallsituationen und jede gute neurologische Intensivstation hat eine vorgegebene Behandlungsstrategie bei diesem gefährlichen Notfall. In der Arbeit wird sehr anschaulich das Pro und Kontra der zur Verfügung stehenden Pharmakotherapeutika, unter anderem Phenobarbital, Phenytoin, Valproinsäure, Levetiracetam, Lacosamid und Brivaracetam, diskutiert. Des Weiteren werden Mittel zur therapeutischen Intubationsnarkose wie Propofol, Midazolam, Ketamin und Thiopental diskutiert und eine 4-stufige Eskalationstherapie eindrücklich und gut nachvollziehbar beschrieben. Dieser Artikel ist sicherlich außerordentlich hilfreich für jeden, der eine neurologische Intensivstation betreibt.
Auch die Migräne-Prophylaxe ist ein Beispiel für die genannten Fortschritte in der Therapie neurologischer Erkrankungen. Antikörper, die selektiv das Calcitonin Gene-related Peptide adressieren oder den dazu gehörigen Rezeptor blockieren, sind eine neue faszinierende Möglichkeit zur Migräne-Prophylaxe. Nachdem die Migräne viele Mitbürger im arbeitsfähigen Alter betrifft, ist diese neue Ära der Antikörper-vermittelten Therapie der Migräne nicht nur für den einzelnen Patienten, sondern auch für unser Sozialsystem von hoher Relevanz. Jürgens und Kollegen aus Rostock und Bad Homburg zeigen in einer sehr klar geschriebenen Übersicht die neuen Optionen mit Galcanezumab. Hier halte ich insbesondere die Illustrationen für außerordentlich gelungen und hilfreich für jeden, der die Wirkweise der neuen Migräne-Antikörper seinen Patienten, Mitarbeitern oder Studenten nahebringen möchte.
Abgerundet wird diese neurologisch dominierte Ausgabe der PPT durch einen lesenswerten Beitrag in unserer Serie „Weiterbildungs-Curriculum Psychopharmakologie/Pharmakotherapie“ durch Schmauß und Kollegen, welche die Antipsychotika kritisch beleuchten, eine Falldiskussion aus der AMSP-Gruppe und letzten Endes durch einen sehr spannenden Beitrag zu CYP450-Wechselwirkungen.
Zusammenfassend glaube ich, dass auch diese Ausgabe der PPT lohnenswert zu lesen ist, weil sie uns wichtige Themen der Neurologie/Psychiatrie in gut strukturierter Weise nahebringt und Krankheiten diskutiert, die sehr häufig in unseren Praxen und Kliniken auftreten.
Psychopharmakotherapie 2019; 26(05)