Matthias Kirschner, Montreal/Zürich, und Erich Seifritz, Zürich
Die Schizophrenie ist eine der schwersten psychischen Erkrankungen, für welche eine heterogene Symptomatik mit Positivsymptomen, Negativsymptomen, kognitiven und affektiven Symptomen sowie daraus resultierenden Verhaltensstörungen charakteristisch ist [62]. Sie führt zu hohen sozioökonomischen Kosten, vor allem bedingt durch Arbeitslosigkeit, wiederholte Hospitalisationen, Invalidisierung und die immense psychosoziale Belastung der Patienten und deren Umfeld [28]. Die häufig rezidivierenden chronischen Verläufe erhöhen die Krankheitslast der Betroffenen und stellen eine große Herausforderung für die Gesundheitssysteme dar. Dabei sind selbst bei evidenzbasierter „Best-Practice“-Behandlung die Behandlungsergebnisse nach wie vor häufig unzureichend [8]. Die mittlere Genesungsrate, „Recovery“, lag in einer systematischen Übersicht und Metaanalyse von 2012 bei nur 13,5 % [30]. Zusätzlich zu den niedrigen Genesungsraten haben Patienten mit Schizophrenie in allen Altersgruppen eine deutlich höhere Sterblichkeit. Als Ursache dafür werden neben unnatürlichen Todesfolgen (z. B. Suizid) inbesondere das erhöhte Risiko für körperliche Komorbiditäten wie koronare Herzkrankheit, Schlaganfall, Typ-2-Diabetes, Atemwegserkrankungen und einige Krebsarten verantwortlich gemacht [46]. Weltweit sind etwa 0,4 % bis 0,75 % der Menschen an einer Schizophrenie erkrankt [60, 72]. Trotz der niedrigen Prävalenz zählt die Schizophrenie zu einem der 15 wichtigsten globalen Gründe für krankheitsbedingte Invalidität und Verlust von Lebensqualität [22]. Diese Daten zeigen auf dramatische Weise, dass trotz intensiver Forschung in den letzten Jahrzehnten keine durchschlagende Verbesserung der Diagnostik und der klinischen Behandlung der Schizophrenie erzielt werden konnte.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, eine Übersicht über die wesentlichen „Unmet Needs“, das heißt die dringend zu lösenden Herausforderungen im klinischen Management und der wissenschaftlichen Erforschung der Schizophrenie zu geben. Neben einer Zusammenfassung der aktuellen Literatur werden – sofern möglich – potenzielle Strategien und Wege für die klinische Behandlung und Forschung skizziert.
Diagnostik/Früherkennung
Auch mehr als 100 Jahre nach den Beschreibungen von Emil Kraepelin (1896) und der Einführung und Konzeptionalisierung des Begriffs Schizophrenie durch Eugen Bleuler (1908, 1911) wird die Diagnose dieser Erkrankung fast ausschließlich anhand klinischer Beobachtungen gestellt [3, 42]. Bisher konnte trotz intensiver Forschung, und nebenbei, zentraler strategischer Zielsetzung bei der Entwicklung des DSM-5, kein Biomarker mit diagnostischer, prognostischer oder präventiver Aussagekraft beschrieben werden [68]. Dies gilt nicht nur für die Schizophrenie, sondern für praktisch die gesamte Psychiatrie und steht im Gegensatz zu den allermeisten Disziplinen der modernen somatischen Medizin, für welche eine Kombination aus klinischer Untersuchung und Biomarkern Standard ist. Nicht zuletzt weil sich eine frühzeitige Diagnose und Behandlung positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken [45], stellt die Früherkennung eines der größten „Unmet Needs“ der Schizophrenie-Behandlung dar. Die Zeitdauer zwischen Beginn der Psychose und Erstkontakt mit dem Gesundheitssystem, die sogenannte „Dauer der unbehandelten Psychose“ (Duration of untreated psychosis, DUP), beträgt zwischen 22 und 150 Wochen [64]. Sowohl intrinsische Faktoren (z. B. Schweregrad der Symptome, Haltung der Patienten und des sozialen Umfelds) als auch extrinsische Faktoren (z. B. Zugang zur Behandlung, unspezifische Symptome, Stigma) sind für diese schädlich langen Zeiträume ohne Behandlung verantwortlich [51]. Obwohl in den letzten Jahren intensive spezialisierte Programme zur Früherkennung und Behandlung eingeführt wurden, konnte eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse keine allgemeine Wirksamkeit der bisher untersuchten kontrollierten Interventionen auf die Reduktion der DUP finden [66].
Behandlungsadhärenz
Eines der größten modifizierbaren „Unmet Needs“ in der Behandlung der Schizophrenie ist die unzureichende Behandlungsadhärenz nach der Akutintervention. Die Absetzraten von Antipsychotika sind hoch und lagen in klinischen Studien bei 74 % nach 18 Monaten für chronische Schizophrenie (CATIE, [48]) und bei 42 % nach 12 Monaten für Patienten mit Erstmanifestationen einer Schizophrenie (EUFEST, [34]). Man muss davon ausgehen, dass die Adhärenzrate in der klinischen Realität, das heißt außerhalb des kontrollierten Settings von wissenschaftlichen Studien, wesentlich niedriger liegt. In verschiedenen Übersichtsarbeiten zur medikamentösen Behandlungsadhärenz wurde gezeigt, dass über einen kürzeren Zeitraum nur 58 % der verordneten Antipsychotika eingenommen werden und 40 bis 50 % der Patienten ihre Medikamente nicht oder nur unregelmäßig einnehmen [44], die Complianceraten für längere Zeiträume fehlen, sind aber vermutlich noch wesentlich geringer. In einer großen finnischen Registerstudie (2588 Patienten) zeigten Tiihonen und Kollegen, dass mehr als die Hälfte der Patienten innerhalb der ersten 30 Tage nach Entlassung aus der ersten stationären Behandlung die verordnete antipsychotische Medikation nicht mehr fortführten [81]. Dies ist besonders schwerwiegend, weil ein frühzeitiges Absetzen der antipsychotischen Medikation mit erhöhten Rückfallraten, vermehrten Krankenhausaufenthalten und einer deutlich erhöhten Mortalität assoziiert ist [80, 81]. In einer kürzlich veröffentlichen populationsbasierten Registerstudie wurde zudem gezeigt, dass eine kontinuierliche antipsychotische Langzeitbehandlung (> 15 Jahre) nach Ersthospitalisation im Vergleich zu keiner antipsychotischen Behandlung oder vorzeitigem Absetzen mit dem niedrigsten Risiko für Rehospitalisierung und Mortalität verbunden war [80]. Es ist hervorzuheben, dass bezogen auf das Mortalitätsrisiko die Nutzen einer kontinuierlichen antipsychotischen medikamentösen Behandlung trotz potenzieller metabolischer Langzeitfolgen überwogen [24, 84]. Insgesamt deuten die Ergebnisse der Studie darauf hin, dass nachhaltige kontinuierliche antipsychotische Behandlung für die Mehrheit der Patienten mit der ersten Episode Schizophrenie vorteilhaft ist und bezüglich Mortalität protektiv wirkt [80].
Darüber hinaus konnte in zwei weiteren Arbeiten von Tiihonen und Kollegen gezeigt werden, dass Behandlungen mit Depot-Antipsychotika im Vergleich zur oralen Formulierung des gleichen Antipsychotikums zu 50 bis 65 % [81] bzw. 20 bis 30 % [82] niedrigeren Rückfall- und Rehospitalisierungsraten führten. Bei Patienten mit Erstmanifestation einer Schizophrenie wurden sogar noch deutlich bessere Effekte mit rund 85 % niedrigeren Rehospitalisierungen im Verlauf von zwölf Monaten beobachtet [78]. Die bessere Prognose unter langwirksamen Depot-Antipsychotika und Clozapin könnte dabei zum Teil durch die häufigeren und regelmäßigen Arzt-Patienten-Kontakte bedingt durch Medikamentenapplikation (Depotmedikation) und Blutkontrollen (Clozapin) erklärt werden [82]. Diese Ergebnisse sprechen für einen konsequenten Einsatz von Depot-Antipsychotika und von Clozapin früh im Krankheitsverlauf, und nebenbei für die niederschwellige und nachhaltige ambulante Verlaufsbehandlung und -begleitung der Patienten mit Schizophrenie sowie für Tarifsysteme, welche die nachhaltige Finanzierung überhaupt ermöglichen. Da die bisherige Evidenz aber vor allem auf retrospektiven Register- [81, 82] oder Längsschnittstudien mit relativ kurzem Beobachtungszeitraum [78] beruht, sind prospektive, randomisierte Langzeitstudien notwendig, um abschließend die Überlegenheit und Vorteile von Depot-Antipsychotika zeigen zu können. Obwohl die oben aufgeführten Studien bereits jetzt die Sicherheit einer langfristigen antipsychotischen Behandlung und insbesondere die Vorteile einer Depotmedikation aufführen, zeichnet die Behandlungspraxis häufig ein anderes Bild. In den meisten europäischen Ländern wurden in den letzten Jahren weniger als 20 % der Schizophrenie-Patienten mit Depot-Neuroleptika behandelt, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern gibt. Die Daten beispielsweise in der Schweiz deuten auf besonders niedrige einstellige Depotbehandlungsraten hin. Die Gründe für den medizinisch gesehen zu seltenen Einsatz von Depot-Antipsychotika sind vielfältig. Stigma und unerwünschte Nebenwirkungen für Patienten (Schmerzen, Angst vor der Injektion) einerseits, aber besonders das vorherrschende Krankheitsmodell, die negative Einstellung von Psychiatern und die mangelhafte Aufklärung von Patienten führen zu einem nach wie vor schlechten Image der Depotbehandlung [10, 25, 39]. So konnte eine systematische Übersichtsarbeit zeigen, dass die Mehrheit der befragten Psychiater einer Depotmedikation bei Ersterkrankten ablehnend und skeptisch gegenüber steht und dass diese Behandlungsform nach überwiegender Einschätzung nur chronischen Verläufen vorbehalten bleiben sollte [39]. In der Tat wurde nur etwa 10 bis 27 % der Patienten mit Erstmanifestation einer Schizophrenie überhaupt eine Depotmedikation angeboten [25, 31], wobei diese Angaben auf retrospektiver Befragung der Psychiater beruhen und die reale Anzahl im klinischen Alltag wahrscheinlich noch deutlich tiefer liegen dürfte (sog. Recall Bias und/oder Response Bias). Für eine Verbesserung der Therapieadhärenz müssen daher das negative Image und die Stigmatisierung von Depot-Antipsychotika (bei Patienten und Psychiatern) überwunden werden und Patienten in allen Krankheitsstadien der Schizophrenie in einem „Shared-Decision“-Prozess vollumfänglich über alle medikamentösen Therapiemöglichkeiten und deren potenzielle Vorteile informiert werden. In diesem therapeutischen Prozess gilt es inbesondere auch die subjektive Autonomie der Patienten zu thematisieren, die je nach Einstellung und Attribuierung durch Depotmedikamente als erhöht oder erniedrigt empfunden werden kann. Während die Optimierung von Depotbehandlungen einen Beitrag leisten kann, um die schlechte Therapieadhärenz zu verbessern, ist es unabdingbar, die einer schlechten Therapieadhärenz zugrunde liegenden krankheitsinhärenten und versorgungstechnischen Faktoren zu identifizieren und anzugehen.
In diesem Zusammenhang wurde eine eingeschränkte oder fehlende Krankheitseinsicht (Selbstkonzept) als wesentlicher Risikofaktor für schlechte Adhärenz beobachtet [59]. Mit der Krankheitseinsicht assoziiert und ebenfalls ein wichtiger Faktor für die Therapieadhärenz sind: die Einstellung gegenüber Medikamenten [15, 73], die therapeutische Allianz [12, 70] und der mit der Medikation verbundene subjektiv empfundene Zwang [12, 32]. Demgegenüber wurde gezeigt, dass der Einbezug der Patienten im Rahmen einer tragfähigen therapeutischen Beziehung mit einer verbesserten Therapieadhärenz bei schweren psychischen Störungen einhergeht [54, 58]. In einer kürzlich veröffentlichten Studie wurde gezeigt, dass Krankheitseinsicht, therapeutische Beziehung und traumatische Vorerfahrungen im Rahmen der psychiatrischen Behandlung aussagekräftige Prädiktoren für Medikamentenadhärenz waren [79]. Eine Verbesserung der Medikamentenadhärenz könnte demnach direkt über eine Reduktion der psychischen Folgen von traumatischen Erfahrungen während der Behandlung sowie eine Stärkung der Krankheitseinsicht erzielt werden [79]. All diese Überlegungen unterstreichen die zentrale Bedeutung der therapeutischen Allianz zwischen Arzt und Patient.
Negativsymptome und kognitive Störungen: Diagnostik und Behandlung
Die Prävalenz von persistierenden Negativsymptomen nach einer ersten psychotischen Episode beträgt 11 bis 37 % [21, 53]. Bei chronisch erkrankten Patienten liegen sogar in mindestens 50 % der Fälle Negativsymptome vor [4]. Kognitive Störungen treten bei praktisch allen Patienten mit Schizophrenien auf und äußern sich in einem Leistungsabfall von ein bis zwei Standardabweichungen in mehreren kognitiven Domänen [26, 35]. Sowohl Negativsymptome als auch kognitive Störungen treten bereits vor Ausbruch der ersten manifesten Psychose auf [35, 67] und haben erhebliche Auswirkungen auf das Funktionsniveau im Alltag, die sozialen Beziehungen, die berufliche Leistungsfähigkeit und die Lebensqualität [5, 20, 57, 77] und sind wichtige Prädiktoren für ein schlechtes Langzeit-Funktionsniveau, für niedrigere Remissionsraten und zeigen seltener spontane Verbesserungen im Krankheitsverlauf als Positivsymptome [2, 18, 74].
Im klinischen Alltag können besonders in akuten Fällen mit prominenter Positivsymptomatik sowohl Negativsymptome als auch kognitive Störungen leicht übersehen werden. Daher ist es notwendig, diese diagnostische Lücke durch gezielte neuropsychologische Testungen und detaillierte Exploration aller Symptomdimensionen einschließlich Fremdanamnese zu beheben. Der gegenwärtige „Goldstandard“ zur Erhebung kognitiver Störungen ist die sogenannte MATRICS (Measurement and treatment research to improve cognition in schizophrenia) Consensus Cognitive Battery (MCCB). Sie eignet sich aufgrund des Zeitaufwands – rund eine Stunde – insbesondere für Studien und spezielle klinische Fragestellungen [6, 65]. Ein für die klinische Routine kürzeres und einfaches Testwerkzeug von etwa zehn Minuten Dauer wurde von Fervaha und Kollegen entwickelt [17, 19], dessen Nutzen und Akzeptanz es im klinischen Alltag und Langzeitstudien aber noch zu untersuchen gilt. Zur Erfassung von Negativsymptomen wurden in den letzten Jahren zwei neue strukturierte Interviewleitfäden, die Brief Negative Symptom Scale (BNSS) [61] und das Clinical Assessment Interview for Negative Symptoms (CAINS) [43] vorgeschlagen, welche mit relativ wenig Zeitaufwand – 15 bis 30 Minuten – eine differenzierte Erhebung ermöglichen. Neben diesen beiden etablierten Fremdbeurteilungsskalen erscheint das kürzlich vorgestellte Selbstbeurteilungsinstrument „Self-Evaluation of Negative Symptoms“ (SNS) für ein Screening im klinischen Alltag vielversprechend [14]. Eine ausführliche Darstellung der Selbst- und Fremdbeurteilungsinstrumente zur Diagnostik von Negativsymptomen findet sich in der Übersicht von Lincoln und Kollegen [49].
Trotz der Möglichkeiten einer differenzierten Diagnostik sprechen Negativsymptome und kognitive Störungen nur unzureichend auf die verfügbaren Antipsychotika an [36–38]. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass mehr als 60 Jahre nach Entdeckung der antipsychotischen Wirkung von Chlorpromazin [13] der Hauptwirkungsmechanismus aller Antipsychotika nach wie vor hauptsächlich über eine Reduktion der dopaminergen Neurotransmission vermittelt wird [37]. Dabei besteht aufgrund der direkten Wirkung auf die Dopaminübertragung und indirekt durch die sedierende Wirkung insbesondere bei Überdosierung sogar die Gefahr der Symptomverschlechterung im Sinne der sogenannten Antipsychotika-induzierten sekundären Negativsymptome [40]. Eine günstige Wirkung auf Negativsymptome wird dabei durch die gegenwärtig verfügbaren Antipsychotika am ehesten sekundär durch eine Reduktion von Positivsymptomen (sekundäre Positivsymptom-induzierte Negativsymptome) vermittelt [40, 47].
Augmentationsstrategien mit Antidepressiva wurden in den letzten Jahren intensiv insbesondere zur Behandlung von depressiven Symptomen im Rahmen einer Schizophrenie untersucht. Die Ergebnisse einer 2016 veröffentlichen Metaanalyse zeigten geringe, aber positive Effekte von Antidepressiva zur Behandlung depressiver Symptome und Negativsymptome bei gleichem Risiko für einer Exazerbation der Psychose oder anderen Nebenwirkungen im Vergleich zu Placebo [23]. Eine andere Augmentationsstrategie zur Behandlung von negativen Symptomen ist die Verwendung von pro-dopaminergen Medikamenten. In einer systematischen Übersichtsarbeit untersuchten Lindenmayer und Kollegen die Verwendung von Methylphenidat, Amphetaminen und Modafinil/Armodafinil und kamen zu dem Schluss, dass die Verwendung von Stimulanzien vielversprechend sei, aber weitere Studien und mehr Evidenz für eine Empfehlung notwendig seien [50]. Zusätzlich konnte in einer Metaanalyse von 2014 ein geringer, aber signifikant positiver Effekt zur Behandlung der Negativsymptome für Augmentation mit Modafinil und Armodafinil gezeigt werden [1]. Das potenzielle Risiko einer Zunahme der psychotischen Symptome wurde aus der bisherigen Studienlage als niedrig beurteilt, sofern die Patienten stabilisiert und ausreichend mit Antipsychotika behandelt werden [50].
Zur Behandlung von kognitiven Störungen wurden in den letzten Jahren Medikamente mit Wirkspektrum in verschiedenen Neurotransmittersystemen untersucht. In einer Metaanalyse von 2018 wurden 93 Studien mit 5630 Patienten ausgewertet [75]. Über alle Substanzklassen hinweg wurde ein geringer Effekt auf die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten beobachtet. Eine getrennte Subanalyse für jedes Neurotransmittersystem zeigte für vorwiegend glutamaterge Wirkstoffe (z. B. Memantin) einen geringen signifikanten Effekt auf die Gesamtkognition und das Arbeitsgedächtnis sowie für Cholinesterase-Inhibitoren (ChEI) einen geringen Effekt auf das Arbeitsgedächtnis.
Gesamthaft ist die Studienlage sowohl für die medikamentöse Behandlung von Negativsymptomen als auch die Behandlung von kognitiven Störungen unzureichend und es fehlen ausreichend randomisiert-kontrollierte Studien insbesondere mit dopaminergen Substanzen [75]. Neben der Behandlung mit bereits etablierten Wirkstoffen wurden in den letzten Jahren verschiedene Strategien zur spezifischen Behandlung von Negativsymptomen und kognitiven Störungen erforscht [11]. Die initial positiven Ergebnisse für Substanzen mit glutamatergem Mechanismus wie dem NMDA-Rezeptor-Agonisten Bitopertin [83] oder dem metabotropen Muscarin-2/3-Rezeptor-Agonisten Pomaglumetad Methionil [76] konnten im Verlauf leider nicht bestätigt werden. Demgegenüber wurden kürzlich in einer Studie vielversprechende Effekte des partiellen Dopamin-2/3-Agonisten Cariprazin in der Behandlung von Negativsymptomen beschrieben [63]. Weitere Studien und insbesondere die klinische Erfahrung werden aufzeigen, ob sich dieser Befund bestätigt und ob es sich um einen Medikamentenklasseneffekt handelt.
Darüber hinaus nimmt die Weiterentwicklung nichtpharmakologischer Therapien eine wichtige Rolle in der Behandlung ein. In der Metaanalyse von Lutgens und Kollegen aus dem Jahr 2017 wurden moderate positive Behandlungseffekte für kognitive Verhaltenstherapie (KVT), soziales Kompetenztraining („Skills Training“), Arbeitstherapie und Sporttherapie gezeigt [52]. Allerdings wurden die meisten Studien nicht primär zur Behandlung von Negativsymptomen entwickelt und die Studienlage für spezifische Therapieformen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unzureichend. In diesem Zusammenhang zeigt eine neue Psychotherapiestudie von Favrod und Kollegen zur Behandlung von motivationalen Defiziten und Anhedonie vielversprechende Befunde [16]. Zur Behandlung von kognitiven Störungen und Verbesserung des Funktionsniveaus gibt es für kognitive Remediationstherapie vielversprechende Evidenz basierend auf verschiedenen Metaanalysen [56, 69, 85]. Neben den oben erwähnten psychotherapeutischen und psychosozialen Interventionen ist die Förderung, Integration und Rehabilitation der Patienten im Arbeitsalltag und der Gesellschaft eine zentrale Aufgabe, um sozialer Isolation und dadurch Verstärkung von Negativsymptomen entgegenzuwirken [40].
Kardiovaskuläres Risiko
Patienten mit Schizophrenie haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine um 10 bis 20 Jahre verkürzte Lebenserwartung [9, 84]. Als Hauptursache wird das erhöhte Risiko für koronare Herzkrankheiten, zerebrovaskuläre Erkrankungen und Herzinsuffizienz angenommen [9, 84]. Patienten mit Schizophrenie zeigen eine deutlich erhöhte Prävalenz für kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Rauchen, schlechte Ernährung, reduzierte körperliche Aktivität, Adipositas, Lipidämie, metabolisches Syndrom und Diabetes mellitus Typ 2 [24]. Die Ursachen für das erhöhte kardiovaskuläre Risiko sind komplex und beinhalten krankheitsinhärente Faktoren wie reduzierte körperliche Aktivität und mangelnde Fürsorge aufgrund von Negativsymptomen, sekundäre Selbststigmatisierung sowie erhöhten Nikotinkonsum [24]. Zusätzlich scheinen inflammatorische und andere immunologische Veränderungen in der Entstehung der Schizophrenie eine wesentliche Rolle zu spielen und könnten ebenfalls Einfluss auf das erhöhte kardiovaskuläre Risiko haben [24]. Als wichtigste krankheitsunabhängige Faktoren sind die Antipsychotika-induzierten Effekte auf den metabolischen Haushalt und Gewichtsregulation zu nennen [24]. Neue Forschungsergebnisse zeigen die Auswirkungen von Antipsychotika auf den Lipid- und Glucose-Stoffwechsel, welche zu einem erhöhten Risiko von Dyslipidämie, Insulinresistenz, Typ-2-Diabetes und metabolischem Syndrom und in der Folge zu kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität führen. Verschiedene Rezeptorsysteme wie Dopamin-2-, Serotonin-2-, Histamin-1- und Muscarin-3-Rezeptoren sowie genetische Veränderungen werden ebenfalls als wichtige Faktoren für das Antipsychotika-induzierte erhöhte kardiovaskuläre Risiko diskutiert [24]. Nichtsdestotrotz verbessern Neuroleptika nachgewiesenermaßen die kardiovaskuläre Risikokonstellation von Patienten mit Schizophrenie via ihrer positiven Effekte auf die Grunderkrankung Schizophrenie [80, 81], und somit die Lebenserwartung.
Personalisierte Medizin
Personalisierte Medizin, auch Präzisionsmedizin genannt, bezeichnet eine „auf die individuellen Bedürfnisse jedes Patienten abzielende Behandlungen auf der Grundlage genetischer, biologischer, phänotypischer oder psychosozialer Merkmale, die einen bestimmten Patienten von anderen Patienten mit gleichem klinischen Erscheinungsbild unterscheiden“ [33]. Genetische Immuntherapien sowie individuell auf den Patienten zugeschnittene Chemotherapien sind dabei nur zwei Beispiele, die verdeutlichen, dass die personalisierte Medizin in den anderen medizinischen Disziplinen längst etabliert ist [33]. Inwiefern aber die Behandlung von Schizophrenien bzw. die Psychiatrie im Allgemeinen von dieser rasanten Entwicklung profitieren können, bleibt gegenwärtig noch völlig ungewiss [7]. Die Translation von neurobiologischen Befunden in die Klinik wird dabei durch die multifaktorielle Ätiopathogenese und Heterogenität der Schizophrenie massiv erschwert [7, 68]. Um diese Kernproblematik zu überwinden, und weil die Assoziation Genotyp – Phänotyp noch weitgehend unverstanden bleibt, ist die Entwicklung von endophänotypischen Biomarkern für die differenzielle personalisierte Diagnostik, Behandlung, Prognose sowie Prädiktion unabdingbar [68].
Die aktuellen Diagnosesysteme ICD-10 bzw. -11 und DSM-5 wurden entwickelt, um basierend auf beobachtbaren klinischen Zeichen und Symptomen eine für die Klinik und Forschung allgemein brauchbare Definition der Schizophrenie zu entwickeln [29]. Diese bleibt aber explizit agnostisch bezüglich der Pathophysiologie und Prognose und illustriert eindrücklich die nach wie vor bestehenden nosologischen Schwierigkeiten. Während eine präzisere Symptomunterteilung die psychiatrische Diagnostik zwar grundsätzlich verbessern kann, werden Diagnosen, die allein auf der Beobachtung von klinischen Befunden und Symptomen beruhen, niemals die Spezifität erreichen, die sich in der restlichen Medizin als Standard zu entwickeln beginnt [29]. Letztlich gilt diese Problematik dabei keineswegs der Schizophrenie allein, sondern betrifft die psychiatrische Diagnostik generell. Um die dringende Notwendigkeit eines neuen Ansatzes zur Klassifizierung psychischer Störungen anzugehen, wurde vom amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH) das „Research Domain Criteria“-Projekt (RDoC; www.nimh.nih.gov/research-priorities/rdoc/index.shtml) ins Leben gerufen. Das RDoC-System soll dabei für die Forschung als strukturierende Matrix dienen, um diagnoseübergreifend die zugrunde liegenden biologischen Krankheitsprozesse von psychischen Störungen zu untersuchen [29]. Sein ultimatives Ziel ist eine „präzisere“ Medizin für die Psychiatrie – ein Diagnosesystem, das auf einem tieferen Verständnis der neurobiologischen, physiologischen und psychosozialen Grundlagen psychischer Erkrankungen basiert [27]. Diese umschriebenen und mit der Krankheit assoziierten Mechanismen würden dann die Grundlage für die personalisierte und spezifische Therapie bilden (Abb. 1).
Abb. 1. Schematische Darstellung zur Entwicklung einer „personalisierten“ Medizin der Schizophrenie [adaptiert nach und mit freundlicher Genehmigung von Chris Turck und Elisabeth Binder, MPI München]
Bezüglich der Entwicklung neuer medikamentöser Behandlungsoptionen lässt sich aus den in den vorherigen Abschnitten diskutierten „Unmet Needs“ in Bezug auf Früherkennung, Therapieadhärenz, Negativsymptome und kognitive Störungen und kardiovaskuläres Risiko folgende Forderung für die personalisierte Medizin ableiten: Zum einen werden pharmakologische Interventionen benötigt, welche den Krankheitsprozess bereits in der Prodromalphase, also vor Auftreten manifester klinischer Symptome, reduzieren oder sogar aufhalten können. Des Weiteren werden Pharmaka benötigt, die eine gute und nachhaltige antipsychotische Wirkung bei möglichst niedrigem Nebenwirkungsprofil entfalten. Als wichtige Beispiele sind hier das Antipsychotika-induzierte kardiovaskuläre Risiko, unter anderem vermittelt durch die häufige Gewichtszunahme, sowie die Antipsychotika-induzierten sekundären Negativsymptome zu nennen. Eine Reduktion der nach wie vor schweren Nebenwirkungen könnte dabei zu einer höheren Akzeptanz bei den Patienten führen und somit einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Therapieadhärenz liefern. In diesem Zusammenhang lösen besonders die häufig offensichtlichen Nebenwirkungen wie extrapyramidale, neurologische und metabolische (Adipositas) Veränderungen erhebliche soziale Exklusion und Selbststigma aus. Ein weiterer sehr zentraler Aspekt ist die Entwicklung von spezifischen Wirkungsmechanismen zur Behandlung der unterschiedlichen Symptomdimensionen mit besonderem Fokus auf Negativsymptomen und kognitiven Störungen. In den letzten Jahren wurden Wirkstoffe mit unterschiedlichem Wirkspektrum in den verschiedenen Transmittersystemen (Dopamin, Glutamat, Serotonin, GABA, Acetylcholin, Cannabinoid) sowie antiinflammatorische als auch antioxidative Ansätze untersucht (für eine Übersicht siehe Keshavan und Kollegen, [60]). Es bleibt abzuwarten, inwiefern diese Strategien die Entwicklung einer „personalisierten“ Medizin der Schizophrenie begünstigen werden.
Zusammenfassung und Ausblick
In der vorliegenden Übersichtsarbeit wurden folgende „Unmets Needs“ der Behandlung und Erforschung der Schizophrenie beschrieben:
- Frühzeitige Diagnostik
- Therapieadhärenz
- Diagnose und Behandlung von kognitiven Störungen und Negativsymptomen
- Kardiovaskuläres Risiko
- Personalisierte Medizin
Diese Ausführung kann keine vollständige Auflistung darstellen, sondern versucht vielmehr, auf zentrale Aspekte der Schizophrenie hinzuweisen. Gesamthaft verdeutlichen die hier aufgeführten „Unmet Needs“ der Diagnostik und Behandlung der Schizophrenie, vor welchen großen Herausforderungen Kliniker und Wissenschaftler gleichermaßen stehen. Die resultierende zentrale Frage lautet, wie Forschung und klinische Versorgung dazu beitragen können, dass die oben aufgeführten „Unmet Needs“ der Schizophrenie überwunden werden können.
Forschung
Für ein besseres Verständnis der komplexen und heterogenen Äthiopathogenese sind große multimodale (klinisch, biologisch, bildgebend, genetisch) „Big Data“ generierende Erhebungen im Rahmen von vernetzten Konsortien sowie langfristig angelegten Verlaufsstudien notwendig. Die technischen Voraussetzungen ermöglichen uns heutzutage, wie noch nie zuvor, große Informationsmengen zu speichern, weiterzuverarbeiten und in internationalen Kooperationen zu untersuchen. So wurde in den letzten Jahren eine Vielzahl multizentrischer Projekte wie zum Beispiel PRONIA (pronia.eu), PSYSCAN (psyscan.eu) und ENIGMA (enigma.ini.usc.edu) initiiert. Innovative Methoden aus der Neuroinformatik und „Computational Neuroscience“ können dabei helfen, präzisere Krankheitsmodelle für die Früherkennung und Verlaufsprognose zu generieren. Bereits jetzt zeigen vielversprechende Resultate zur Verlaufsprädiktion mithilfe von Maschinenlernen aus der PRONIA-Studie [41] das Potenzial für die klinische Behandlung und Versorgung auf. Eine wesentliche Rolle könnten darüber hinaus die rasanten Fortschritte in der Genetik wie die Entwicklung von „Next-Generation Sequencing“ (NGS), „Genomewide Association Studies“ (GWAS) und die „Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats-associated Nuclease 9“ (CRISPR/Cas9)-Methode spielen [87]. So konnten zum Beispiel in einer kürzlich publizierten GWAS zum ersten Mal spezifische polygene Komponenten für die einzelnen Symptomdimensionen der Schizophrenie identifiziert werden [71]. Wie bereits im Abschnitt „Personalisierte Medizin“ diskutiert, nimmt dabei die Identifizierung von Biomarkern für Diagnostik, Prognose und individuelle Therapieentwicklung eine herausragende Rolle für die personalisierte Medizin in der Schizophrenie ein [7, 29, 68].
Versorgungssysteme
Die Grundlage einer optimalen patientenzentrierten Behandlung ist eine ausreichende Finanzierung der psychiatrischen Versorgung, Aus-, Weiter- und Fortbildung von Fachpersonal und Forschung. Letztlich scheint es zentral, dass die Psychiatrie als Teil des medizinischen Versorgungssystems den ihrer medizinischen, aber besonders auch gesundheitsökonomischen Bedeutung entsprechenden Stellenwert ausbaut. Gesundheitsökonomische Studien haben klar aufgezeigt, dass Investitionen in die psychiatrische Versorgung volkswirtschaftlich lohnend und der Return on Investment mehrfach sind [55, 86]. Die Erforschung und Etablierung wirksamer Versorgungseinrichtungen sowie die Förderung des ärztlichen und multiprofessionellen Nachwuchses in der Psychiatrie ist von größter Bedeutung, um den Herausforderungen der bio-psycho-sozialen Komplexität psychischer Erkrankungen, insbesondere der Schizophrenie, gerecht zu werden.
Interessenkonflikterklärung
Dr. Kirschner wurde durch das National Bank Fellowship der McGill University und den Schweizer Nationalfond (P2SKP3_178175) unterstützt.
Prof. Seifritz hat Forschungsmittel des Schweizerischen Nationalfonds, der Universität Zürich sowie von Lundbeck Schweiz und Takeda erhalten. Zudem hat er für Beratertätigkeiten Honorare sowie für Weiter- und Fortbildungsveranstaltungen Educational Grants der Firmen AstraZeneca, Mepha, Novartis, Otsuka, Takeda, Eli Lilly, Janssen, Lundbeck, Novartis, Pfizer, Roche, Servier und Sunovion erhalten.
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Dr. med. Matthias Kirschner, Montreal Neurological Institute, McGill University, 3801 University St, Montréal QC Canada H3A 2B4, E-Mail: matthias.kirschner@mcgill.ca
Prof. Dr. med. Erich Seifritz, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Lenggstr. 31, 8032 Zürich, Schweiz, E-Mail: erich.seifritz@bli.uzh.ch
„Unmet needs“ in diagnostics and therapy of schizophrenia
Schizophrenia is one of the most debilitating mental disorders with an often chronic relapsing disease course. The consequences are both an immense psychosocial burden on patients and their environment as well as high socioeconomic costs, mainly due to unemployment, repeated hospitalizations and disability. Patients with schizophrenia are significantly more likely to suffer from cardiovascular comorbidities and have a significantly higher mortality risk compared to the general population. Despite intensive research in recent decades, only partial improvements in diagnosis and clinical treatment of schizophrenia have been achieved. This review summarizes the central “unmet needs” of diagnostics and treatment and discusses how innovative research approaches may foster progress for overcoming these key challenges in schizophrenia.
Key words: Schizophrenia, diagnostic, treatment adherence, cognitive deficits, negative symptoms, cardiovascular risk, personalized medicine, precision medicine
Psychopharmakotherapie 2019; 26(04):177-184