Reimund Freye, Baden-Baden
In der Folge einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder als Begleiterkrankungen treten Persönlichkeitsstörungen bei 62% der ASS-Patienten auf, Depression und Angst bei rund der Hälfte und eine ADHS immer noch bei 43% [1]. Ätiologisch handelt es sich sowohl bei der ASS als auch der ADHS um spezifische Reifestörungen des Gehirns, die meist multifaktoriell durch Genetik und Umweltfaktoren bedingt sind. Bei der ASS und ADHS müssen die charakteristischen Symptome seit der frühen Kindheit vorhanden sein. Um die Diagnose zu stellen, ist es notwendig, dass sie sich klinisch relevant im Alltagsleben der Betroffenen auswirken.
Bei der ASS imponieren eingeschränkte soziale Wahrnehmung, Kommunikationsprobleme, Rigidität und Bedürfnis nach Regelmäßigkeit und Routinen. Kommt es jedoch bei Menschen mit ASS zu Überforderungen, und dies kann beispielsweise eine Reizüberflutung sein oder auch eine nicht zu bewältigende emotionale Verarbeitung, kann es auch bei diesen Menschen zu Wutausbrüchen kommen, die als mangelnde Impulskontrolle interpretierbar sind. Ebenso treten beim ASS zuweilen dissoziative Zustände auf, die mit einem Defizit an Aufmerksamkeit verwechselbar sind.
Interpretation von ADHS und ASS als Persönlichkeitsvarianten
Allerdings fällt beim ASS die Hyperfokussierung bei bestimmten Themen auf, ebenso wie das repetitive Verfolgen von bestimmten Aktivitätsmustern, die in ständig wiederkehrende Routinen münden. Daraus erwächst aber zugleich die Stärke von Asperger-Patienten, nämlich ein Thema sehr gründlich zu bearbeiten.
Bei den sozialen Kontakten ist bei beiden Störungen die Unfähigkeit zu beobachten, mit Gleichaltrigen zu interagieren. Bei der ASS ist aber im Gegensatz zur ADHS oftmals gar nicht der Wunsch zu solchen Kontakten vorhanden. Zudem zeichnet sich die ASS durch mangelndes Verständnis der sozialen Signale aus. Dies ist aber nicht mit einer mangelnden Empathiefähigkeit zu verwechseln. Der ASS-Patient ist im Gegenteil zu sehr großem Mitgefühl in der Lage.
Beide klinischen Bilder können – sowohl bei Heranwachsenden als auch bei Erwachsenen – psychotherapeutisch und medikamentös gut beeinflusst werden. In der Regel kommen multimodale Therapieschemata zum Einsatz. Bei der ASS hat sich die FASTER-Gruppentherapie bewährt. Bei der adulten ADHS kann eine medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat (z.B. Medikinet® adult) psychotherapeutische und edukative Module sinnvoll unterstützen oder oftmals erst ermöglichen.
ADHS sowie ASS können ebenfalls als Persönlichkeitsvarianten verstanden werden, die ein bestimmtes Stärke-Schwäche-Cluster darstellen. Erst wenn dieses in der Entwicklungs- und Erwerbsbiographie als Ursache chronischer und gravierender Einschränkungen auffällig wird, sind Störungskriterien erfüllt, die dann entsprechende Therapiebemühungen auslösen sollten.
Wird in diesem Fall nicht behandelt – und die Störung als solche nicht verstanden –, kann dies mannigfache Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angsterkrankungen, Psychosen und Persönlichkeitsstörungen nach sich ziehen. Solche multiplen Krankheitsbilder müssen dann diagnostisch getrennt und jeweils spezifisch behandelt werden.
Zahlreiche Überlappungen mit bipolarer Störung
Einen wichtigen Anhaltspunkt für die Unterscheidung einer adulten ADHS von einer bipolaren Störung liefert die Anamnese. Denn im Gegensatz zur ADHS beginnt die bipolare Störung typischerweise in der späten Adoleszenz. Ansonsten finden sich auf der Symptomebene zahlreiche Überschneidungen zwischen den beiden Störungen. Neben depressiven Syndromen – sie existieren ebenfalls bei über 50% der adulten ADHS-Patienten – sind insbesondere in der hypomanen Phase der bipolaren Störung überlappende Symptome wie Logorrhö, Ablenkbarkeit, Antriebssteigerung, motorische Unruhe und Distanzlosigkeit zu finden [2].
Hilfreich für die Differenzialdiagnostik ist die Verlaufsform der Stimmungsschwankungen. Sie sind bei einer adulten ADHS eher hochfrequent und niedrig-amplitudig sowie meist situativ modulierbar. Bei der bipolaren Störung (Bip) hingegen sind Stimmungsschwankungen weniger durch äußere Auslöser angestoßen, ausgeprägter und langphasiger. Schwierig wird es allerdings bei Bip-Patienten mit Rapid-Cycling oder einer Bipolar-II-Störung. Weiter verkompliziert wird die Situation durch epidemiologische Studien, die eine Komorbidität beider Krankheitsbilder nahelegten, und zwar in der Größenordnung von 10 bis 20%. Dies wird auch durch familienbasierte Studien unterstützt, bei denen erstgradige Angehörige untersucht wurden und die ein gehäuftes Vorkommen beider Erkrankungen in ein- und derselben Familie belegen, was eine zumindest partiell identische genetische Aberration voraussetzen würde [3].
Die endgültige diagnostische Einschätzung einer möglicherweise zur bipolaren Störung komorbiden ADHS erfolgt idealerweise im euthymen Zustand durch einen diesbezüglich erfahrenen Arzt. Hinsichtlich therapeutischer Konsequenzen benötigen bipolare Patienten einen Stimmungsstabilisator, während die Therapie der Wahl bei klinisch relevanter ADHS ein Stimulans ist.
Treten beide Erkrankungen komorbid auf und ist eine Behandlung mit einem Stimulans indiziert, sollte diese – um einem Switch in eine manische Phase vorzubeugen – unter dem Schutz eines antimanischen Stimmungsstabilisators durchgeführt werden. Bei beiden Krankheiten unerlässlich sind Psychoedukation und -therapie, welche die medikamentösen Module ergänzen.
Substanzmissbrauch als Selbstmedikation
ADHS-Patienten zeigen oft eine hohe Affinität zum Suchtmittelmissbrauch. Dies kann als eine Art von Selbstmedikation angesehen werden. Denn bei den häufig missbrauchten Suchtmitteln, wie etwa Cannabis und Amphetaminen, kann im Niedrigdosisbereich von einer symptomreduzierenden Wirkung bei ADHS-Betroffenen ausgegangen werden.
Im Erwachsenenalter existieren dann zwei nebeneinanderstehende Störungsbilder, die sich gegenseitig beeinflussen. Eine Behandlung sollte sowohl die Abhängigkeitserkrankung als auch die ADHS in geeigneten Settings erfassen, um ein möglichst positives Behandlungsergebnis zu erzielen.
Quelle
Prof. Dr.med. Ludger Tebartz van Elst, Freiburg, Prof. Dr.med. Andreas Reif, Frankfurt/M., Leitender Oberarzt Andreas Steimann, Psychiatrisches Krankenhaus Rickling, Pressetalk „Adulte ADHS und Komorbiditäten erkennen und richtig behandeln, Berlin, 11. Oktober 2017, veranstaltet von MEDICE.
Literatur
1. Riedel A, et al. Psychiatr Prax 2016;43:38–44.
2. Simon V, et al. Br J Psychiatry 2009;194: 204–11.
3. Faraone SV, et al. Am J Psychiatry 2012;169: 1256–66.
Psychopharmakotherapie 2018; 25(01):44-50