Christian Otte, Berlin
Die Major Depression ist infolge ihrer hohen Lebenszeitprävalenz von etwa 15% und aufgrund der daraus resultierenden erheblichen Krankheitsbürde eines der vordringlichsten medizinischen Probleme des öffentlichen Gesundheitswesens [13, 14, 19]. Prognosen der Weltgesundheitsorganisation zufolge wird im Jahr 2030 die Depression weltweit die zweithäufigste und in den Industrieländern die häufigste Ursache für chronische Beeinträchtigung gemessen als sogenannte „disability-adjusted life years“ (DALY) sein. Gründe für diese hohe Krankheitslast sind neben dem häufig frühen Beginn der Krankheit eine hohe Rückfallrate sowie ein oft chronischer Verlauf der Erkrankung [15, 20]. So zeigen nur etwa 60% aller depressiven Patienten mit der ersten Behandlung eine Response (Verbesserung der depressiven Symptomatik um mindestens 50%) und sogar nur etwa 30% eine vollständige Remission [15, 16], sodass wirksame und gut verträgliche Behandlungsalternativen in der Therapie der Depression von großer Wichtigkeit sind.
Vortioxetin ist ein multimodales Antidepressivum, das als 5-HT3-, 5-HT7- und 5-HT1D-Rezeptorantagonist, als 5-HT1B-Rezeptor-Partialagonist, als 5-HT1A-Rezeptoragonist sowie als Inhibitor des 5-HT-Transporters wirkt [4, 17]. Vortioxetin wurde im Dezember 2013 von der Europäischen Kommission zur Behandlung der Depression zugelassen [7]. Eine aktuelle Metaanalyse [18] der insgesamt elf randomisierten kontrollierten Kurzzeit-Studien (6 bis 8 Wochen) mit über 5000 Patienten, die mit mindestens 5 mg/Tag Vortioxetin behandelt wurden, fand bei einer Dosis von Vortioxetin 20 mg/Tag eine mittlere Differenz zu Placebo von 4,6 Punkten in der Montgomery-Asberg Depression Rating Scale (MADRS). Zudem respondierten unter 20 mg/Tag Vortioxetin deutlich mehr Patienten als unter Placebo (51,6% vs. 36,7%) und auch die Remissionsrate war in der Vortioxetin-Gruppe signifikant höher als in der Placebo-Gruppe (32,3% vs. 23,8%). Interessanterweise wurde bei allen drei Zielvariablen der Effekt jeweils deutlich größer, wenn nur die Studien außerhalb der USA analysisiert wurden. Hinsichtlich der Verträglichkeit von Vortioxetin zeigte eine weitere Metaanalyse dieser Studien, die spezifisch die Sicherheit und Verträglichkeit untersuchte [1], dass Übelkeit und Erbrechen häufiger unter Vortioxetin als unter Placebo vorkamen. Hingegen unterschied sich Vortioxetin in dieser Metaanalyse nicht von Placebo hinsichtlich Insomnie, sexueller Dysfunktion, und Gewichtszunahme. Zudem zeigte sich kein Effekt von Vortioxetin auf Blutdruck, Herzrate, klinische Laborparameter oder EKG inklusive QTc-Zeit [1]. Diese Ergebnisse bestätigten sich auch in einer zusätzlichen Analyse der fünf vorliegenden offenen Langzeitstudien über 52 Wochen [1]. Weitere Metaanalysen deuten an, dass Vortioxetin möglicherweise etwas weniger wirksam ist als duale Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) [12], dafür allerdings im Vergleich zu den SNRI besser verträglich [11].
In Deutschland wurde im Rahmen des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG) vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) im Oktober 2015 kein Zusatznutzen des Vortioxetins gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie (Citalopram) gesehen [9]. Der G-BA folgte damit der Einschätzung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Bemängelt wurden vom IQWiG und G-BA insbesondere methodische Vorgehensweisen des vom Hersteller Lundbeck vorgelegten Dossiers zur Nutzenbewertung [8], sodass die Analysen für die Bewertung des Zusatznutzens für Vortioxetin aus Sicht des IQWiG und G-BA „nicht verwertbar“ seien. Nachdem dann im Juni 2016 der endgültige Erstattungspreis für Vortioxetin durch die AMNOG-Schiedsstelle auf das niedrigste generische Preisniveau festgesetzt wurde, sah sich der Hersteller außerstande, das Arzneimittel kostendeckend anzubieten, und nahm es im August 2016 außer Vertrieb. Parallelimporteure haben ebenfalls reagiert, sodass Vortioxetin in Deutschland nicht mehr zur Verfügung steht.
Vortioxetin bleibt auch nach dem Marktrückzug in Deutschland weiterhin zugelassen und verkehrsfähig und kann über Apotheken aus dem europäischen Ausland bezogen werden. Ausschließlich auf Einzelfallanfragen entscheiden Krankenkassen, ob die Kosten übernommen werden oder ob der Patient das Arzneimittel selbst bezahlen muss. Daher kam es bei vielen Patienten, die mit Vortioxetin behandelt wurden, zu einer Medikamentenumstellung. Die folgenden Kasuistiken schildern exemplarisch den Verlauf und zum Teil auch Probleme, die aufgrund beziehungsweise während der Umstellung von Vortioxetin auf andere Medikamente aufgetaucht sind.
Fallbericht 1
Der 39-jährige Patient stellte sich aufgrund einer schweren depressiven Episode im Rahmen einer rezidivierenden depressiven Störung vor. Parallel lag ein obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (OSA) vor bei Adipositas Grad II (Body-Mass-Index=37), außerdem eine Steatosis hepatis. Der Patient war bis zum Jahre 2000 alkoholabhängig und seitdem durchgehend abstinent. Die Erstdiagnose der rezidivierenden depressiven Störung wurde im Jahr 2000 im Anschluss an den Alkoholentzug gestellt und es gab vor der Aufnahme in die jetzige Klinik mindestens fünf schwere depressive Episoden und Behandlungen in verschiedenen anderen Kliniken bundesweit. Der Patient wurde während zweier stationärer Voraufenthalte jeweils mit Elektrokrampftherapie behandelt, die jedoch nur zu einer geringen Besserung der depressiven Symptomatik führten. Es gab zwei Suizidversuche in der Vorgeschichte in den Jahren 1999 und 2012.
Der Patient wurde stationär aufgenommen und es fanden sich im Rahmen der aktuellen schweren depressiven Episode kognitive Defizite in den Bereichen psychomotorische Geschwindigkeit, kognitive Flexibilität und figurales Gedächtnis. Der Patient wurde im Rahmen eines individuellen Heilversuchs mit sechs Ketamin-Infusionen über zwei Wochen (0,5 mg/kg Körpergewicht) behandelt. Zudem nahm er über mehrere Wochen am verhaltenstherapeutisch orientierten multimodalen Therapieprogramm mit Einzel- und Gruppentherapien teil. Im Anschluss an die Ketamin-Behandlung wurde er einschleichend auf Vortioxetin 20 mg/Tag eingestellt. Gründe für die Gabe von Vortioxetin waren die fehlende Gewichtszunahme bei einem Patienten mit Adipositas Grad II und obstruktiver Schlafapnoe, die fehlenden sexuellen Funktionsstörungen, die er unter anderen SSRI und SNRI beklagt hatte, und die kognitiven Defizite des Patienten.
Im Verlauf der stationären Behandlung kam es zur Vollremission der depressiven Symptomatik (MADRS-Score bei Entlassung =7) und der Patient wurde mit Vortioxetin 20 mg/Tag als Monotherapie, ambulanter Verhaltenstherapie sowie nächtlicher CPAP-(Continuous positive airway pressure-)Beatmung aufgrund der obstruktiven Schlafapnoe in die ambulante Weiterbehandlung entlassen. Dort wurde einige Monate nach der Entlassung mit Aripiprazol 15 mg/Tag augmentiert, nachdem sich seine depressive Symptomatik nach Trennung von der Partnerin verschlechtert hatte. Begründung der Aripiprazol-Augmentation waren zum einen ausgeprägte Grübelzwänge hinsichtlich der Trennung, zum anderen eine starke Antriebsstörung mit Schwierigkeiten, Aktivitäten des täglichen Lebens aufrechtzuerhalten. Unter dieser Medikation und begleitender Psychotherapie kam es erneut zu einer Besserung der depressiven Symptomatik.
Der Patient war dann sehr enttäuscht darüber, Vortioxetin absetzen zu müssen, da er nach eigenen Angaben mit dem Medikament „gut zurecht gekommen“ sei. Einerseits hatte er unter Vortioxetin und auch parallel zur Kombination mit Aripiprazol deutlich Gewicht verloren, das er zuvor über Jahre im Rahmen der depressiven Episoden zugenommen hatte (kaum noch Bewegung, dysfunktionales Essverhalten allein zu Hause, Medikation mit unerwünschten Arneimittelwirkungen Gewichtszunahme). Anderseits hatte er keinerlei sexuelle Funktionsstörungen, was für ihn nach den Vorerfahrungen mit anderen SSRI sehr wichtig war. Der Patient hatte in der Vergangenheit zahlreiche Antidepressiva und andere Substanzen zur antidepressiven Augmentation erhalten, die jeweils wegen Wirkungslosigkeit und/oder unerwünschten Arneimittelwirkungen (v.a. Gewichtszunahme) beendet wurden.
Aufgrund der komorbiden ausgeprägten Adipositas und der obstruktiven Schlafapnoe kamen nur wenige Substanzen zur Umstellung von Vortioxetin in Betracht. Um die Motivation für andere beziehungsweise weitere Medikation zu erhöhen, fiel die Wahl auf ein Antidepressivum, das der Patient bisher noch nie erhalten hatte und das mit seinem metabolischem Risikoprofil und seiner Steatosis hepatis kompatibel war. Er wurde daher überlappend von Vortioxetin auf Milnacipran 100 mg/Tag unter Beibehalten des Aripiprazols umgestellt. Als initiale Nebenwirkung unter/nach Umstellung zeigte sich eine innere Unruhe in den ersten ein bis zwei Wochen, die dann komplett sistierte.
Der Patient blieb nach der Umstellung zunächst unter dieser neuen Medikation stabil (MADRS-Scores ambulant zunächst zweiwöchentlich, dann vierwöchentlich immer um 8 Punkte). Acht Monate nach der Umstellung kam es jedoch zu einem Rezidiv der depressiven Symptomatik. Der Patient meldete sich telefonisch mit einem erneuten Aufnahmewunsch. Der Rückfall ist nicht eindeutig auf die Medikamentenumstellung zurückzuführen, jedoch ist diese ein möglicher Rückfall-begünstigender Faktor. Möglicherweise hätte durch eine stabile Medikation eine erneute stationäre Krankenhausbehandlung vermieden werden können.
Fallbericht 2
Die 60 Jahre alte Patientin stellte sich mit einer ersten schweren depressiven Episode vor. Die Symptomatik habe im 59. Lebensjahr der Patientin begonnen nach dem Tod des Ehemannes, der an Bronchialkarzinom litt und von der Patientin bis zum Schluss gepflegt wurde. Zuvor sei sie nie psychiatrisch auffällig gewesen. Die Familienanamnese war leer und es gab keine schweren körperlichen Erkrankungen, aber seit etwa drei Monaten einen schwer einstellbaren arteriellen Hypertonus, der zum Aufnahmezeitpunkt mit drei Antihypertensiva behandelt wurde. Seit dem Tod des Ehemannes vor sechs Monaten hatte sie eine ambulante Psychotherapie begonnen, die als hilfreich bezüglich der Trauer, jedoch als nicht ausreichend bezüglich der Depression betrachtet wurde. Führend in der Symptomatik war ein massiver Appetitverlust mit 10 kg Gewichtsverlust im letzten Jahr, der von der Patientin fast gar nicht wahrgenommen und eher bagatellisiert wurde. Zudem bestanden neben einer ausgeprägten Anhedonie eine deutlich erhöhte Erschöpfbarkeit mit „bleierner Schwere“ und subjektiv massivste Konzentrationsstörungen („manchmal glaube ich, ich werde dement“), die dazu geführt hätten, dass sie ihre Tätigkeit als Bibliothekarin nicht mehr ausführen könne.
Zu Beginn der ambulanten Behandlung zeigte sich ein MADRS-Score von 30 Punkten. Eine stationäre Aufnahme war von der Patientin nicht gewünscht, da sie „Kontakt mit unserem Zuhause“ nicht verlieren wollte und ihrem erwachsenen Sohn nach dem Tod des Vaters „nicht noch mehr zumuten“ wollte. Aufgrund der für die Patientin ganz im Vordergrund stehenden kognitiven Defizite, der erheblichen Erschöpfbarkeit und fehlenden Schlafstörungen wurde bei der sehr schlanken Patientin eine Therapie mit 5 mg/Tag Vortioxetin begonnen und nach zwei Wochen die Dosis auf zunächst 10 mg/Tag, später 20 mg/Tag gesteigert.
Diese Aufdosierung war in der ersten Woche assoziiert mit initialer Unruhe und milden passageren Magen-Darm-Beschwerden, die jeweils in der zweiten Woche sistierten. Es kam zu einer deutlichen Besserung der Symptomatik nach etwa drei bis vier Wochen, der MADRS-Score betrug vier Wochen nach Beginn der Therapie 18 Punkte. Im Verlauf kam es dann zu einer weiteren, kontinuierlichen Besserung. Der MADRS-Score lag nach acht Wochen bei 13 Punkten und nach weiteren sechs Wochen kam es zur Remission (MADRS-Score 7). Die Psychotherapie, die bereits vor Beginn der Pharmakotherapie vor etwa sechs Monaten begonnen hatte, lief parallel weiter.
Von der Patientin wurde besonders die Besserung der kognitiven Beeinträchtigungen als extrem erleichternd empfunden. Es kam zu einer Wiederaufnahme der Berufstätigkeit etwa vier Monate nach Beginn der Pharmakotherapie mithilfe des „Hamburger Modells“ unter Vortioxetin 20 mg/Tag und ambulanter Verhaltenstherapie. Die Patientin war zum Zeitpunkt des Vortioxetin-Rückzugs weiterhin in Remission (MADRS-Score 6). Sie war sehr ängstlich hinsichtlich des Absetzens („Kommen die Konzentrationsprobleme dann wieder?“), wollte jedoch bei anhaltender Remission nicht auf ein anderes Präparat wechseln („eigentlich geht es mir ja wieder gut“). Daher wurde in Absprache auf Wunsch der Patientin das Vortioxetin schrittweise reduziert und abgesetzt, sodass es im Verlauf zu einer Behandlung ohne medikamentöse Rezidivprophylaxe, aber mit weiter laufender Psychotherapie kam.
Die Patientin war zu Beginn des Ausschleichens seit zehn Monaten in Remission. Daher war auch nach aktuellen Leitlinienempfehlungen [5] bei einer ersten depressiven Episode der Versuch gerechtfertigt, die Pharmakotherapie zu beenden, insbesondere da die Patientin nicht auf ein anderes Präparat wechseln wollte und die laufende Psychotherapie auch eine relative Rezidivprophylaxe darstellt [2]. Ein erhöhtes Rückfallrisiko wurde von der Patientin im Sinne einer informierten Entscheidung in Kauf genommen. Das Ausschleichen des Vortioxetins verlief unproblematisch ohne Absetzphänomene.
Die Patientin ist zum Berichtszeitpunkt seit fünf Monaten medikamentenfrei und es kam bisher nicht zu einer deutlichen Verschlechterung der Symptomatik. Sie gibt jedoch an, sich zum Konzentrieren und Merken „stärker anstrengen“ zu müssen, sie sei aber weiterhin arbeitsfähig und es gehe ihr deutlich besser als zu Beginn der Pharmakotherapie („kein Vergleich“). Zusammenfassend handelte es sich um eine sehr erfolgreiche Behandlung der schweren depressiven Episode mit Vortioxetin, insbesondere hinsichtlich der kognitiven Defizite und dem sozialen Funktionsniveau (Arbeitsfähigkeit). Durch das Absetzen von Vortioxetin, das die Patientin gerne weitergenommen hätte, kam es zu einer leichten Verschlechterung der Symptomatik und zu einer statistisch erhöhten Rezidivwahrscheinlichkeit ohne medikamentöse Rezidivprophylaxe.
Fallbericht 3
Die 36-jährige Patientin stellte sich mit rezidivierender depressiver Störung, gegenwärtig schwere Episode in der Ambulanz vor. Zudem bestand eine Dysthymie (nach DSM 5: Chronisch persistierende depressive Störung) und eine vordiagnostizierte narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Die Symptomatik hatte im 17. Lebensjahr begonnen und wurde erstmalig im 24. Lebensjahr der Patientin diagnostiziert. Es gab zwei ambulante Psychotherapien, zunächst tiefenpsychologisch, anschließend verhaltenstherapeutisch. Insgesamt viermalig wurde die Patientin stationär in vier verschiedenen Kliniken behandelt. Die Familienanamnese für psychische Erkrankungen war positiv (Alkoholabhängigkeit des Vaters und Schizophrenie des Bruders). Die Patientin gab an, nie in voller Remission gewesen zu sein, sondern sie habe sich nur „unterschiedlich ausgeprägt schlecht“ gefühlt im Sinne einer „Double Depression“ nach ICD 10 oder einer chronisch persistierenden depressiven Störung nach DSM 5. Vorbehandlungen in den letzten Jahren erfolgten mit zahlreichen Antidepressiva und auch Lithium, die aber vor allem aufgrund der unerwünschten Wirkungen Sedierung und/oder Gewichtszunahme bzw. nicht ausreichender Besserung der Symptomatik beendet wurden.
Die Patientin wurde zur stationären Therapie ohne Medikation aufgenommen, der MADRS-Score bei Aufnahme betrug 24. Es handelte sich um eine sehr Medikamenten-kritische Patientin, die zunächst angab, „keine Medikamente mehr“ einnehmen zu wollen. Nach Beziehungsaufbau und Psychoedukation war sie schließlich einverstanden, es „nochmal zu versuchen“. Es wurde eine Medikation mit 5 mg/Tag Vortioxetin begonnen, das nach einer Woche bei guter Verträglichkeit auf 10 mg/Tag gesteigert wurde. Es kam zu keinen unerwünschten Arzneimittelwirkungen, insbesondere nicht zu einer Gewichtszunahme oder Sedierung, die jeweils von der Patientin besonders gefürchtet wurde. Bei initialer Schlafstörung wurde zusätzlich Trazodon 50 mg/Tag zur Nacht für die ersten zwei bis drei Wochen verabreicht. Diese Kombination wurde von der Patientin problemlos vertragen. Trazodon konnte dann im Verlauf ausgeschlichen werden, ohne dass es erneut zu Schlafstörungen kam.
Die Patientin wurde nach fünf Wochen stationärer verhaltenstherapeutisch orientierter multimodaler Einzel- und Gruppentherapien mit Vortioxetin 10 mg/Tag als Monotherapie nach Hause entlassen, der MADRS-Score betrug bei Entlassung 4 Punkte. Die Patientin gab an, sich erstmals seit Jahren gut zu fühlen. Die ambulante Weiterbehandlung erfolgte bei einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und es wurde eine erneute Psychotherapie (Schematherapie) begonnen.
Die Patientin hatte im Vorfeld der jetzigen Behandlung bereits mehrere Antidepressiva erhalten, die jeweils wegen Wirkungslosigkeit und/oder unerwünschten Arzneimittelwirkungen (v.a. Gewichtszunahme) beendet wurden. Die Patientin wollte initial nach aus ihrer Sicht „schlechten Erfahrungen“ mit früheren Antidepressiva zunächst kein neues, ihr unbekanntes Medikament mehr einnehmen und war umso zufriedener, dass sie keine Nebenwirkungen unter dem Vortioxetin verspürte und sich erstmals nach dem stationären Aufenthalt in Remission befand.
Umgekehrt war sie dann geradezu erbost darüber, Vortioxetin nicht mehr einnehmen zu können bzw. nicht mehr erstattet zu bekommen. Ein diesbezüglicher Versuch bei der Krankenkasse zur Kostenerstattung verlief erfolglos. Die notwendige Umstellung führte zu erheblichem Erklärungsbedarf bei einer sehr unzufriedenen Patientin, die den notwendigen Wechsel des Medikaments zunächst trotz ausführlicher Information und Aufklärung den Behandlern „anlastete“. Schließlich kam es zu einer gemeinsamen Entscheidung, es mit Trazodon-Monotherapie zu versuchen, da dies das einzige Medikament war, auf das sich die Patientin widerwillig einließ, weil sie es vom stationären Aufenthalt kannte.
Es kam dann zunächst zu Schwierigkeiten, auf eine ausreichende Dosis Trazodon zu kommen, da die Patientin bei Dosierungen oberhalb von 50 mg/Tag eine Tagesmüdigkeit angab. Daher wurde bereits bei Trazodon 50 mg/Tag zur Nacht das Vortioxetin auf 5 mg/Tag reduziert und nach weiteren zwei Wochen dann ganz abgesetzt. Die Patientin gab daraufhin sofort an, sich schlechter zu fühlen. Es war schwierig, hier zwischen einem echten Absetzeffekt und einem „Nocebo-Absetzeffekt“ bei bereits zuvor unzufriedener Patientin zu unterscheiden. Da die Patientin aber anhaltend angab, sich nach dem Absetzen des Vortioxetins schlechter zu fühlen, wurde Trazodon auf 100 mg/Tag zur Nacht als Monotherapie aufdosiert, was laut Patientin zwar einerseits zu Tagesmüdigkeit führe, anderseits „brauche ich das, um mich stabil zu fühlen“. Sie gab aber weiterhin an, sich unter Vortioxetin besser gefühlt zu haben, insbesondere hinsichtlich des Antriebs. Eine alternative Medikation wurde von ihr jedoch weiterhin abgelehnt. Der letzte ambulante MADRS-Score betrug 13 Punkte und lag damit deutlich höher als zur Entlassung bzw. als unter Vortioxetin-Monotherapie. Zusammenfassend kam es durch die Umstellung zu einem insgesamt deutlich erschwerten Verlauf der Behandlung mit zwar bisher fehlendem Rückfall in eine volle depressive Episode, aber deutlicher Verschlechterung nach Umstellung vor allem hinsichtlich des Antriebs.
Fallbericht 4
Die 55-jährige Patientin stellte sich mit einer schweren depressiven Episode bei Bipolar-II-Störung vor, gegenwärtig schwere depressive Episode. Die Erstdiagnose einer depressiven Störung erfolgte im 16. Lebensjahr der Patientin. Seitdem gab es mindestens acht mittelgradige bis schwere depressive Episoden und vier bis fünf hypomane Episoden mit vermehrtem Einkaufen und Überschuldung, sodass die Diagnose in Bipolar-II-Störung geändert wurde. Die Patientin wurde bisher dreimal stationär behandelt, die Scores in der Hamilton Depression Rating Scale (HDRS) in den verschiedenen Episoden lagen zwischen 26 und 45. Im jetzigen Aufnahmebefund ergab der MADRS einen Wert von 33 Punkten. Insgesamt handelt es sich um einen langjährigen Verlauf mit schwerwiegenden sozialen Folgen (private Insolvenz, Grundsicherung, soziale Isolation). Es gab einen Suizidversuch in der Vorgeschichte (2014).
Unmittelbar vor der Aufnahme wurde die Patientin lediglich mit Mirtazapin 30 mg/Tag behandelt. Diese Vormedikation wurde wegen mangelnder Wirksamkeit abgesetzt und zunächst durch Aripiprazol als Stimmungsstabilisator ersetzt. Die Aufdosierung erfolgte zunächst langsam mit 2,5 mg/Tag und langsamer Aufdosierung auf 15 mg/Tag.
Da die Patientin im ambulanten und stationären Rahmen in der Vorgeschichte viele antidepressive Medikamente mit nur unzureichender Wirksamkeit oder Nebenwirkungen erhalten hatte, fiel die Entscheidung für Vortioxetin. Dieses wurde bei guter Verträglichkeit langsam in 5-mg-Schritten auf 20 mg/Tag aufdosiert.
Die Stimmung besserte sich deutlich, bei jedoch weiter bestehender Tagesmüdigkeit und Antriebsstörung wurde zusätzlich Bupropion 150 mg/Tag eindosiert. Wichtig war hier, die Interaktion zwischen Vortioxetin und Bupropion zu beachten. Bupropion ist ein starker Inhibitor des CYP2D6, sodass es zu erhöhten Plasmaspiegeln von Vortioxetin kommt [3]. Daher wurde unter Plasmaspiegelkontrolle Vortioxetin auf 10 mg/Tag reduziert und Bupropion auf 300 mg/Tag aufdosiert.
Unter dieser Medikation mit Vortioxetin 10 mg/Tag, Bupropion 300 mg/Tag und Aripiprazol 10 mg/Tag kam es zu einer Response (>50%ige Verbesserung im MADRS-Score), jedoch zu keiner vollständigen Remission der Symptomatik (MADRS-Score 14 bei Entlassung). Die Patientin wurde dann ambulant durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und im Rahmen einer supportiven therapeutischen Gruppe betreut. Die Patientin war im ambulanten Verlauf die ersten sechs Monate unverändert bezüglich der depressiven Symptomatik teilremittiert, sodass zum Zeitpunkt der Außer-Verkehrsnahme das Vortioxetin langsam ausgeschlichen wurde.
Es erfolgten engmaschige wöchentliche Untersuchungen der Patientin, die diese regelmäßig wahrnahm. Etwa 14 Tage nach dem Absetzen zeigte sich eine deutliche Verschlechterung der Depression mit vermehrtem Weinen, Grübeln, Verstärkung der Antriebsstörung und auch Suizidgedanken (MADRS 30), sodass eine Augmentation mit Lithium erfolgte. Nach einer Woche gab es eine leichte Besserung der depressiven Symptomatik mit leichter Stimmungsaufhellung und Rückgang der Suizidgedanken. In den folgenden Wochen besserte sich auch die weitere depressive Symptomatik, allerdings blieb, wie unter der Vormedikation mit Vortioxetin, eine depressive Restsymptomatik mit Antriebsstörung und Einschränkung der Alltagsfähigkeiten erhalten (MADRS aktuell 18). Nach Ansetzen des Lithiums kam es zu einer Gewichtszunahme, die dazu geführt hat, dass die Patientin etwa 5 kg im Vergleich zur Vortioxetin-Therapie zugenommen hat.
Die erneute Verschlechterung der depressiven Symptomatik im ambulanten Verlauf steht in einem deutlichen zeitlichen Zusammenhang mit dem Absetzen von Vortioxetin. Gleichzeitig konnte durch nachfolgende Einstellung auf Lithium erneut eine Teilremission erreicht werden, eine erneute stationäre Aufnahme konnte so verhindert werden, allerdings unter Inkaufnahme einer deutlichen Gewichtszunahme (5 kg).
Diskussion
In den beschriebenen Fallberichten hatten sich die behandelnden Ärzte entweder aufgrund fehlender Wirksamkeit oder fehlender Verträglichkeit der Vorbehandlungen für eine Medikation mit Vortioxetin entschieden. Die überwiegend aus dem stationären Bereich stammenden Kasuistiken zeigen nun exemplarisch den Verlauf und zum Teil auch die Probleme, die nach der Außer-Vertriebnahme von Vortioxetin aus dem deutschen Markt während der Umstellung von Vortioxetin auf andere Medikamente oder nach dem Absetzen des Vortioxetins ohne neue Medikation aufgetreten sind. Neben der Verunsicherung bzw. Unzufriedenheit der Patienten über den Wechsel der Medikation waren dies in den beschriebenen Fällen Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, eine Verschlechterung der depressiven Symptomatik sowie ein erhöhtes Rückfallrisiko bei Ablehnen einer alternativen antidepressiven Rezidivprophylaxe durch die Patienten.
Aus klinischer Sicht ist es bedauerlich, dass Vortioxetin nicht mehr in der Routineversorgung zur Verfügung steht, da es nach aktuellen Metaanalysen hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit eine hilfreiche Alternative zu den derzeit erhältlichen Antidepressiva darstellt [1, 17, 18], insbesondere vor dem Hintergrund der unzureichenden Response- und Remissionsraten in der Therapie depressiver Patienten. Leider gibt es bis heute weder sichere Prädiktoren für das Ansprechen auf ein bestimmtes Medikament noch für die Verträglichkeit eines bestimmten Medikaments [15].
Eine Vielzahl verschiedener Substanzen zur Verfügung zu haben ist auch aus der Perspektive der evidenzbasierten Medizin (EbM) wünschenswert, da Vertreter der EbM inzwischen dafür plädieren, Netzwerk-Metaanalysen – also indirekte Vergleiche verschiedener Medikamente – als höchsten Evidenzgrad für die Erstellung von Leitlinien zu betrachten [10]. Eine derartige neue Metaanalyse für Antidepressiva wird derzeit erstellt [6]. Dies könnte theoretisch zu der kuriosen Situation führen, dass – je nach Ergebnis der Metaanalyse – Vortioxetin aufgrund seiner Wirkungen und Verträglichkeit einen hohen Stellenwert in der Behandlung der Depression bekommt, es aber auf dem deutschen Markt nicht mehr erhältlich ist, weil es vom IQWiG, eigentlich ebenfalls einem Verfechter der EbM, keinen Zusatznutzen bescheinigt bekommen hat.
Zusammenfassend sollen die obigen Kasuistiken verdeutlichen, dass aus klinischer Sicht eine möglichst große Auswahl an Substanzen wünschenswert ist, um möglichst viele individuelle Konstellationen (z.B. frühere Erfahrungen mit Medikamenten hinsichtlich Wirkung und Verträglichkeit, Grad der Therapieresistenz, medizinische Komorbiditäten) berücksichtigen und dadurch dem einzelnen Patienten gerecht werden zu können.
Interessenkonflikterklärung
CO hat Honorare für die Beratung oder Teilnahme an einem Advisory Board sowie für Vorträge, Stellungnahmen oder Artikel von Lundbeck und neuraxpharm erhalten.
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Prof. Dr. med. Christian Otte, Charité Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Campus Benjamin Franklin, Hindenburgdamm 30, 12203 Berlin, E-Mail: christian.otte@charite.de
Switching from vortioxetine to another medication. Experiences from case reports
Vortioxetin is a multimodal antidepressant that acts on the serotonin (5-HT) system as antagonist at 5-HT3-, 5-HT7- und 5-HT1D-receptors, as a partial agonist at the 5-HT1B-receptor, and as agonist at the 5-HT1A-receptor as well as inhibitor of the 5-HT-transporter. In December 2013, vortioxetine was approved for the treatment of major depressive disorder by the „European Medicines Agency (EMA)“. In Germany, within the regulatory framework of the „Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG)“, the „Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA)“ did not attest vortioxetine to have any additional beneficial effect as compared to a standard antidepressant (SSRI). The G-BA followed the recommendation of the „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)“. In June 2016, the AMNOG board of arbitration set the costs for vortioxetine on the level of the cheapest generic selective serotonin reuptake inhibitor (SSRI). In turn, the manufacturer (Lundbeck) retracted the medication from the German market for economic reasons. Thus, many patients needed to be switched from vortioxetine to other medication. The following case reports illustrate clinical experiences of switching vortioxetine to other medication. From a clinical point of view, a large armamentarium of antidepressants would be helpful to allow an individualized treatment for each patient as much as possible.
Key words: Vortioxetine, antidepressants, case series
Psychopharmakotherapie 2017; 24(04)