Spektren der Verordnung und Morbidität von Thrombozytenaggregationshemmern, Psychostimulanzien, Antidementiva


Korrektur und methodenkritischer Exkurs zur Aussagefähigkeit von Routinedaten

Jürgen Fritze, Frankfurt a. M., Claudia Riedel, Angelika Escherich, Peggy Beinlich, Karl Broich und Thomas Sudhop, Bonn

In einem vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekt wird in einer Vollerfassung der Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherung der Off-Label-Use häufig verordneter Arzneimittel ermittelt, um Erkenntnisse über Häufigkeit und Art mit Fokus auf seltenen Krankheiten gemäß dem Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) zu gewinnen. In diesem Journal wurde inzwischen über die Ergebnisse bei Thrombozytenaggregationshemmern, Psychostimulanzien und Antidementiva berichtet. Die dortige Aussage, jeweils weit über 99% der Patienten seien im Beobachtungszeitraum ausschließlich ambulant behandelt worden, ist unzutreffend. Zutreffend ist, dass zu weit über 99% der Patienten vom Vertragsarzt („ambulant“) kodierte Diagnosen vorlagen, beim Rest nur vom Krankenhaus („stationär“) kodierte Diagnosen. Beim Vergleich der ausschließlich ambulant kodierten mit den ambulant und stationär im selben Zeitraum für dieselben Patienten kodierten Diagnosen zeigte sich, dass der Off-Label-Use bei allen untersuchten Wirkstoffen formal deutlich höher lag, wenn nur die ambulant kodierten Diagnosen ausgewertet wurden. Die Unterschiede korrelierten mit der Anzahl Patienten, bei denen mindestens eine dem zugelassenen Anwendungsgebiet entsprechende Diagnose stationär kodiert worden war. Ausschließlich ambulant kodierte Diagnosen zu berücksichtigen, würde also den Off-Label-Use überschätzen. Den Publikationen lagen also zu Recht die ambulant und stationär kodierten Diagnosen zugrunde.
Schlüsselwörter: Antidementiva, Donepezil, Galantamin, Memantin, Nicergolin, Piracetam, Rivastigmin, Psychostimulanzien, Methylphenidat, Modafinil, Atomoxetin, Thrombozytenaggregationshemmer, Acetylsalicylsäure, ASS, Clopidogrel, Prasugrel, Ticagrelor, Off-Label-Use, Nationaler Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, NAMSE
Psychopharmakotherapie 2017;24: 166–8.

In diesem Journal haben wir Beiträge zu den Spektren der Verordnung von Thrombozytenaggregationshemmern, Psychostimulanzien und Antidementiva und der begleitenden Morbidität auf Basis einer Vollerfassung der Abrechnungsdaten der Gesetzlichen Krankenversicherung publizieren dürfen [1–3] und dabei im Sinne des Nationalen Aktionsplans für Menschen mit Seltenen Erkrankungen des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) insbesondere nach Motiven und Umfang von Off-Label-Use gesucht. In jeder dieser Publikationen findet sich der Satz „Jeweils weit über 99% der Patienten waren im Beobachtungszeitraum ausschließlich ambulant behandelt worden“ und jeweils in Tabelle 2 unter „ausschließlich ambulant“ die zugrunde liegenden Zahlen. Dieser Satz und das Wort „ausschließlich“ sind falsch. Richtig ist, dass die Formulierung des Datenbankabfrageskripts keine Aussage zu den Anteilen der stationär Behandelten erlaubt. Dies ist aufgefallen, nachdem inzwischen über 100 Wirkstoffe ausgewertet wurden und der entsprechende Auswertungsschritt „stereotyp“ Werte „weit über 99%“ lieferte, auch bei Krankheiten, bei denen das medizinisch unplausibel war.

Die Erklärung dieses Irrtums verlangt und erlaubt, einen tieferen Einblick in die Strategie der Datenbankabfrage zu wagen und dabei die Aussagefähigkeit von Routinedaten – hier der als Codes der ICD-10-GM verschlüsselten Diagnosen – zu beleuchten.

Das Datenbankabfrageskript zählt pseudonymisierte Patienten, denen ein spezifischer Wirkstoff (kodiert durch die in den entsprechenden ATC-Code übersetzte Pharmazentralnummer [PZN] des Fertigarzneimittels) vom Vertragsarzt („ambulant“) verordnet wurde und zu denen mindestens ein den In-Label-Use operationalisierender ICD-Code vorliegt, jeweils einmal. Der Patient wird nur einmal gezählt, auch wenn für ihn mehrere ICD-Codes vorliegen. Das Ergebnis ist die Anzahl der Patienten, denen der Wirkstoff gemäß Operationalisierung zulassungskonform (In-Label-Use, ILU) verordnet wurde.

Die Patienten, zu denen der ATC-Code und irgendein ICD-Code, der nicht einem der den In-Label-Use operationalisierenden ICD-Codes entspricht, vorliegen (aber kein den In-Label-Use operationalisierenden ICD-Code), werden unabhängig von der Anzahl der Diagnosen einmal gezählt und bilden die Gruppe mit apparentem Off-Label-Use (OLU). Liegt kein den In-Label-Use operationalisierender ICD-Code vor, dann werden die mit dem ATC-Code assoziierten anderen ICD-Codes mit der jeweiligen Anzahl der Patienten ausgewiesen. Durch Division der Zahl der Nennungen jedes dieser einzelnen ICD-Codes durch die Größe der OLU-Gruppe ergibt sich der Anteil der Patienten in der OLU-Gruppe, bei denen dieser ICD-Code kodiert worden war.

Liegt ein ATC-Code vor, aber kein ICD-Code, dann wird dieser Patient nicht gezählt, bleibt also unerkannt und unbekannt.

Die von der Datenaufbereitungsstelle nach §303d SGB V und gemäß Datentransparenzverordnung (DaTraV) vom Deutschen Institut für Medizinische Information und Dokumentation (DIMDI) gepflegte und bereitgestellte Datenbank als Basis der Auswertungen enthält ausschließlich diejenigen Daten, die der Kalkulation des morbiditätsadjustierten Risikostrukturausgleichs der gesetzlichen Krankenversicherung durch das Bundesversicherungsamt (BVA) zugrunde liegen. Die ICD-Codes sind gesondert als vom Vertragsarzt („ambulant“) beziehungsweise anlässlich eines stationären Aufenthalts vom Krankenhaus („stationär“) kodiert ausgewiesen.

Das Datenbankabfrageskript liefert die oben beschrieben Zahlen in Form zweier Datensätze. Der eine basiert allein auf den vom Vertragsarzt kodierten Diagnosen („ambulant“), der andere basiert sowohl auf den vom Vertragsarzt als auch den vom Krankenhaus kodierten Diagnosen („ambulant und stationär“). Die „ambulante“ Gruppe entspricht „weit über 99% der Patienten“ der Gruppe mit „ambulanten und stationären“ Diagnosen. Der kleine verbleibende Rest entspricht Patienten, für die keine (!) vom Vertragsarzt kodierte, aber eine vom Krankenhaus kodierte Diagnose vorliegt. Darüber hinaus bleibt möglich, dass es eine – hier unbekannte – Anzahl Patienten gibt, denen der ATC-Code zugeordnet wurde, also der Wirkstoff verordnet wurde, die aber nicht erfasst wurden, weil keine Diagnose kodiert wurde. Diese Anzahl dürfte gering sein. Dennoch stellen die in den Publikationen berichteten Behandlungsprävalenzen – wie dort diskutiert – „nur“ Näherungen dar, dies aber insbesondere weil infolge der Datenschutzregelung Nennungen zwischen 1 und 30 immer als 30 (oder unquantifiziert) ausgewiesen werden.

Den Publikationen lagen nur Auswertungen des Datensatzes mit „ambulanten und stationären“ Diagnosen zugrunde. Folglich waren die Informationen zu „weit über 99% der Patienten“ überflüssig, nachdem sie sich retrospektiv als fehlinterpretiert erweisen.

Infolge der Fehlinterpretation und ihrer Klarstellung wurde aber erkennbar, dass der Vertragsarzt – wenn auch bei weniger als 1% – einen Wirkstoff (ATC-Code) verordnete, ohne irgendeine Diagnose zu kodieren, oder aber dass die vom Vertragsarzt kodierte Diagnose im Zusammenhang mit der Datenzusammenführung vom Vertragsarzt bis zum Bundesversicherungsamt und von dort zur Datenaufbereitungsstelle beim DIMDI verloren gegangen sein mag. Damit stellt sich die – in unseren Publikationen bereits diskutierte – Frage der Aussagefähigkeit der Routinedaten.

Deshalb werden hier die Ergebisse der Auswertungen beider Datensätze (einerseits also nur „ambulant“ kodierte Diagnosen, andererseits „ambulant und stationär“ kodierte Diagnosen) synoptisch präsentiert (Tab. 1 und 2). Dabei wird nur der apparente Off-Label-Use berücksichtigt, also vor und ohne die in den Publikationen ausgewiesenen Rekonstruktionen für Unschärfen der Operationalisierungen, die für Nicergolin, Piracetam, Modafinil, ASS, Clopidogrel, Prasugrel und Ticagrelor notwendig waren. Denn der Bedarf an Rekonstruktionen steht in keinem Zusammenhang mit der Aussagefähigkeit der zugrunde liegenden Daten.

Tab. 1. Die Rohdaten (Anzahl Patienten) zu den Antidementiva, Psychostimulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern

ILU

ambulante & stationäre Diagnosen

OLU

ambulante & stationäre Diagnosen

Total

ambulante & stationäre Diagnosen

ILU

ambulante Diagnosen

OLU

ambulante Diagnosen

Total

ambulante Diagnosen

Anteil total ambulant an ambulant & stationär

Donepezil

82471

31625

114096

77430

36551

113981

99,90%

Galantamin

47819

16617

64436

45208

19169

64377

99,91%

Rivastigmin

66251

14708

80959

62714

18158

80872

99,89%

Memantin

99382

52572

151954

92948

58875

151823

99,91%

Nicergolin

5504

12155

17659

5085

12560

17645

99,92%

Piracetam

45199

85847

131046

41213

89709

130922

99,91%

Atomoxetin

29836

1897

31733

29600

2101

31701

99,90%

Modafinil

4372

6246

10618

4273

6328

10601

99,84%

Methylphenidat

290338

17712

308050

289237

18670

307907

99,95%

ASS

2294315

499071

2793386

2162995

627474

2790469

99,90%

Clopidogrel

657332

196805

854137

584315

268702

853017

99,87%

Prasugrel

32599

5424

38023

25300

12675

37975

99,87%

Ticagrelor

9588

469

10057

7382

2612

9994

99,37%

ILU: In-Label-Use; OLU: apparenter Off-Label-Use, also ohne Rekonstruktionen

Tab. 2. Die Unterschiede zwischen den beiden Datensätzen mit ausschließlich von Vertragsärzten kodierten Diagnosen („ambulant“) gegenüber sowohl ambulant als auch von Krankenhäusern („ambulant & stationär“) kodierten Diagnosen bei Antidementiva, Psychostimulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern

Nur stationäre Diagnose

Nur stationäre Diagnose [n]

Von OLU nach ILU umverteilt [n]

Von OLU nach ILU umverteilt

OLU ambulante & stationäre Diagnosen

OLU ambulante Diagnosen

Relativer Unter-
schied der OLU-
Raten

Donepezil

0,10%

115

4926

4,32%

27,72%

32,07%

13,56%

Galantamin

0,09%

59

2552

3,96%

25,79%

29,78%

13,39%

Rivastigmin

0,11%

87

3450

4,26%

18,17%

22,45%

19,09%

Memantin

0,09%

131

6303

4,15%

34,60%

38,78%

10,78%

Nicergolin

0,08%

14

405

2,29%

68,83%

71,18%

3,30%

Piracetam

0,09%

124

3862

2,95%

65,51%

68,52%

4,40%

Atomoxetin

0,10%

32

204

0,64%

5,98%

6,63%

9,80%

Modafinil

0,16%

17

82

0,77%

58,82%

59,69%

1,45%

Methylphenidat

0,05%

143

958

0,31%

5,75%

6,06%

5,18%

ASS

0,10%

2917

128403

4,60%

17,87%

22,49%

20,55%

Clopidogrel

0,13%

1120

71897

8,42%

23,04%

31,50%

26,85%

Prasugrel

0,13%

48

7251

19,07%

14,27%

33,38%

57,26%

Ticagrelor

0,63%

63

2143

21,31%

4,66%

26,14%

82,16%

n: Anzahl Patienten; ILU: In-Label-Use; OLU: apparenter Off-Label-Use, also ohne Rekonstruktionen

Der Off-Label-Use war bei allen Wirkstoffen höher, wenn nur die von Vertragsärzten kodierten Diagnosen („ambulant“) ausgewertet wurden, als wenn sowohl ambulante als auch stationäre Diagnosen ausgewertet wurden (Tab. 2). Die stationär kodierten Diagnosen entsprachen also häufiger einem In-Label-Use gemäß Operationalisierung der zugelassenen Anwendungsgebiete, sodass bei einem Anteil von 0,3% (Methylphenidat) bis zu 21,3% (Ticagrelor) die ambulante Off-Label-Diagnose durch eine stationäre In-Label-Diagnose ersetzt wurde. Die relativen Unterschiede zwischen beiden Datensätzen reichten dabei von 1,5% (Modafinil) bis zu 82% (Ticagrelor). Die relativen Unterschiede korrelierten hoch mit den Anteilen umverteilter Patienten (r =0,97). Da infolge der Formulierung des überaus komplexen Datenbankabfrageskripts die Zahl der stationär behandelten Patienten unbekannt blieb (aber grundsätzlich ermittelt werden könnte), kann ein Zusammenhang damit nur vermutet werden.

Die Unterschiede in den Raten des Off-Label-Use zwischen ambulanter Kodierung einerseits und ambulanter einschließlich stationärer Kodierung andererseits können aus formalen Gründen nicht verallgemeinernd dahingehend interpretiert werden, Krankenhäuser würden richtiger, spezifischer oder vollständiger kodieren; diese Hypothese lässt sich anhand von Routinedaten nicht prüfen. Wie berichtet, werden unspezifische Codes am häufigsten kodiert. Ob unspezifische Codes aber geeignet sind, einen In-Label-Use abzubilden, hängt davon ab, wie scharf das Anwendungsgebiet formuliert ist und wie trennscharf ein In-Label-Use durch ICD-Codes operationalisiert werden kann, also auch vom Differenzierungsgrad der ICD-10-GM im jeweiligen Code-Bereich.

Interessenkonflikterklärung

J.F. hat in den letzten fünf Jahren Honorare für Beratertätigkeit von Amgen, Janssen, Lilly, Lundbeck, Nestlé, Novartis, Pfizer, Roche, St. Jude Medical, 3M, Sanvartis, Teva und dem Verband der privaten Krankenversicherung e.V. erhalten.

Die anderen Autoren geben an, keine Interessenkonflikte zu haben.

Literatur

1. Fritze J, Riedel C, Escherich A, Beinlich P, et al. Thrombozytenaggregationshemmer: Spektrum der Verordnung und Morbidität. Psychopharmakotherapie 2017;24:8–20.

2. Fritze J, Riedel C, Escherich A, Beinlich P, et al. Psychostimulanzien: Spektrum der Verordnung und Morbidität. Psychopharmakotherapie 2017;24:56–62.

3. Fritze J, Riedel C, Escherich A, Beinlich P, et al. Antidementiva: Spektrum der Verordnung und Morbidität. Psychopharmakotherapie 2017;24:107–18.

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim, E-Mail: juergen.fritze@dgn.de


Dr. med. Claudia Riedel, Angelika Escherich, Peggy Beinlich, Prof. Dr. Karl Broich, Priv.-Doz. Dr. Thomas Sudhop, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Kurt-Georg-Kiesinger-Allee 3, 53157 Bonn

Antiplatelet drugs, psychostimulants, antidementia drugs – Spectra of prescribing and morbidities: Corrigendum and a methodological addendum addressing the reliability of billing data

In an ongoing project supported by the Federal Ministry of Health (BMG) off-label-use of pharmaceuticals with high prescription rates is investigated in a database comprising all citizens covered by public sick funds, i. e. almost 90% of the German population, with a focus on prevalences and indications as well as on the identification of off-label-use specifically addressing rare diseases in the context of the Action Plan of the National Action League for People with Rare Diseases (NAMSE). Recently, we had the opportunity to publish data on antidementia drugs, antiplatelet drugs and psychostimulants. We have reported that “far more than 99% patients had exclusively been treated as outpatients”. This information has been misleading. The appropriate interpretation should be that in far more than 99% patients a diagnosis coded by the office-based physician was available but for the remainder only a diagnosis coded by hospitals. The apparent rate of off-label-use based on the data set containing diagnoses coded only by office-based physicians formally was consistently and considerably higher than in the data set containing diagnoses coded by both office-based physicians and hospitals for the same patients in the same observation period. The relative differences of the rates highly correlated with the number of patients for whom diagnoses coded by hosiptals were available. Thus, off-label-use would be overestimated if considering only diagnoses coded by office-based physicians. This supports to have based the analyses on diagnoses coded by both office-based physicians and hospitals whenever available.

Key words: Antiplatelet drugs, acetylsalicylic acid, ASS, clopidogrel, prasugrel, ticagrelor, psychostimulants, methylphenidate, atomoxetin, modafinil, antidementia drugs, donepezil, galantamine, memantine, nicergoline, piracetam, rivastigmine, off-label-use, National Action League for People with Rare Diseases, NAMSE

Psychopharmakotherapie 2017; 24(04)