Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
In den letzten 15 Jahren hat sich die Prognose der schubförmigen MS dramatisch verbessert. Dies liegt daran, dass eine ganze Reihe von neuen Substanzen entwickelt wurde, die in die Immunologie der MS eingreifen und die Schubrate reduzieren. Darüber hinaus kommt es zu einer Abnahme klinisch stummer Entzündungsherde im Gehirn, die mit der Kernspintomographie nachgewiesen werden und zu einer Reduktion der progredienten Hirnatrophie. Nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie besteht die Basistherapie aus Interferon beta oder Fingolimod mit einer Eskalationstherapie zu Natalizumab oder Alemtuzumab bei Patienten mit weiterhin bestehender hoher Schubrate. Die neueren und besser wirksamen Immunmodulatoren Natalizumab und Alemtuzumab haben allerdings ein höheres Risiko schwerwiegender unerwünschter Arzneimittelwirkungen, bei Natalizumab insbesondere die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML). In den randomisierten Studien für die Zulassung wird entweder eine neue immunmodulatorische Therapie mit Placebo verglichen oder wie in den letzten Jahren eine neue immunmodulatorische Therapie mit Interferon beta. Vergleiche mehrerer immunmodulatorischer Therapien werden allerdings nur in großen Kohortenstudien gewonnen. Die MSbase Study Group untersucht in einer prospektiven Kohortenstudie Patienten mit schubförmiger (rezidivierender remitterender) MS. Für die vorliegende Studie wurden Daten aus 71 MS-Zentren in 21 Ländern gewonnen. Eingeschlossen wurden
- 2155 Patienten, die mit Interferon beta-1a (44 µg s.c. 3-mal pro Woche) behandelt wurden,
- 828 Patienten, die Fingolimod (0,5 mg oral 1-mal täglich) erhielten,
- 1160 Patienten, die mit Natalizumab (300 µg i.v. alle 4 Wochen) behandelt wurden und
- 189 Patienten, die den monoklonalen Anti-CD52-Antikörper Alemtuzumab erhielten (12–24 mg i.v. 1-mal täglich für 5 Tage [Zyklus 1] bzw. 3 Tage [Zyklus 2 nach einem Jahr]).
Um die Patienten vergleichen zu können, wurden Propensity-gematchte Patienten verglichen, das heißt Patienten mit identischen Krankheitsparametern zu Beginn der Therapie. Die Beobachtungzeit erstreckte sich vom 1. November 2015 bis zum 30. Juni 2016. Der primäre Endpunkt war die jährliche Schubrate, der sekundäre Endpunkt war das Risiko eines erneuten Schubs und die Behinderung.
Alemtuzumab hatte eine geringere jährliche Schubrate als Interferon beta-1a (0,19 vs. 0,53; p<0,0001) und Fingolimod (0,15 vs. 0,34; p<0,0001) und hatte eine ähnlich hohe Schubrate wie Natalizumab (0,20 vs. 0,19; p=0,78). Bezüglich des Behinderungsgrads durch die MS ergab sich zwischen den vier Therapien in dem kurzen Zeitintervall kein signifikanter Unterschied.
Kommentar
Diese große Registerstudie bei Patienten mit schubförmiger MS legt nahe, dass Alemtuzumab und Natalizumab bezüglich der Reduktion der Schubrate wirksamer sind als Interferon beta und Fingolimod. Das Register hat zwei schwerwiegende Mängel. Nebenwirkungen, insbesondere schwerwiegende Nebenwirkungen, wurden nicht systematisch erfasst. Darüber hinaus liegen keine Ergebnisse von Magnetresonanz(MR)-Untersuchungen vor, die heute als unabdingbar gelten, um jenseits der klinischen Schubrate die Krankheitsaktivität zu erfassen und das Fortschreiten der Erkrankung bezüglich einer progredienten Hirnatrophie zu belegen. Darüber hinaus war die Beobachtungszeit relativ kurz. Der behandelnde Neurologe kann aus dieser Studie zwar den überlegenen therapeutischen Nutzen von Alemtuzumab und Natalizumab gegenüber Interferon beta und Fingolimod ableiten, aber leider keine vernünftige Abschätzung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vornehmen.
Quelle
Kalincik T, et al. Treatment effectiveness of alemtuzumab compared with natalizumab, fingolimod, and interferon beta in relapsing-remitting multiple sclerosis: a cohort study. Lancet Neurol 2017;16:271–81.
Psychopharmakotherapie 2017; 24(04)