Matthias D. G. Lindenau, Hamburg*
Häufigkeit und Krankheitsdefinition
Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen weltweit mit einer geschätzten Lebenszeitprävalenz von 1% [28]. Neben der herkömmlichen Definition von Epilepsie als Krankheit mit rezidivierend unprovoziert auftretenden epileptischen Anfällen wurde die Erkrankung inzwischen umfassender definiert [5]:
Es handelt sich um eine Hirnerkrankung mit abnorm synchronisierter elektrischer Exzitabilität mit mindestens einem epileptischen Anfall und zudem einem über 60%igen Risiko, weitere Anfälle zu bekommen.
Außerdem wurden seltenere Formen wie Reflexepilepsien und die Voraussetzungen für die Feststellung einer Ausheilung festgelegt. Demnach gilt ein Epilepsiesyndrom wie beispielsweise die häufig im Kindesalter auftretende Rolando-Epilepsie als ausgeheilt, wenn Anfälle aufhören und das typische Lebensalter überschritten wurde. Für Epilepsien des Erwachsenenalters wird hingegen angenommen, dass eine Ausheilung nach zehn Jahren kompletter Anfallsfreiheit, hiervon fünf Jahre ohne Medikation, erreicht ist.
Durch die Änderungen der Alterspyramide der Gesellschaft in Deutschland und anderen Industrienationen wird die Häufigkeit von Epilepsien weiter zunehmen, da neben dem Erkrankungsgipfel im ersten bis zweiten Lebensjahrzehnt ein zweiter Häufigkeitsgipfel jenseits des 65. Lebensjahres zu beobachten ist [19]. Die maßgebliche Epilepsieursache im höheren Lebensalter sind vaskuläre Hirnerkrankungen. Erst danach folgen Tumoren, entzündliche oder neurodegenerative ZNS-Erkrankungen.
Trotz der steigenden gesellschaftlichen Bedeutung stehen seit einigen Jahren praktisch keine neuen pharmakologische Therapieoptionen zur Verfügung (Exkurs: Marktrücknahmen).
Exkurs: Marktrücknahmen
Den Arzneimitteln Perampanel (Fycompa®) und Retigabin (Trobalt®) wurde von Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) kein Zusatznutzen bescheinigt. Da aus Sicht der Hersteller auf dieser Basis kein angemessener Erstattungsbetrag ausgehandelt werden konnte, werden die Präparate von den Firmen nicht mehr in Deutschland vertrieben. Sie müssen aufwendig als Einzelimport bezogen und von der Krankenkasse genehmigt werden.
Ende Juni 2017 wird Retigabin weltweit vom Markt genommen.
Brivaracetam (Briviact®) wurde ebenfalls kein Zusatznutzen bescheinigt. Die Befürchtung, dass auch hier eine Marktrücknahme drohen könnte, hat sich aber nicht bestätigt: Der pharmazeutische Unternehmer teilte am 8. Mai mit, dass er sich mit dem GKV-Spitzenverband auf einen Erstattungsbetrag verständigt hat und Brivaracetam somit weiterhin erhältlich bleibt und im zugelassenen Indikationsbereich verordnet werden kann.
Epilepsierisiken und Fahreignungsregeln in Deutschland
Epilepsie ist durch Unfälle und den plötzlichen unerklärten Tod bei Epilepsie (SUDEP) eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung. Durch eine erfolgreiche antikonvulsive Therapie kann das Risiko erheblich reduziert werden. In einem aktuellen Cochrane-Review wird die SUDEP-Inzidenz mit 1 bis 2 pro 1000 Patientenjahre angegeben [15]. Das Risiko eines SUDEP wird durch eine erfolgreiche Therapie deutlich reduziert. Es wurden allerdings Einzelfälle von SUDEP nach Beendigung einer antikonvulsiven Therapie beschrieben, beispielsweise nach als erfolgreich eingeschätzter epilepsiechirurgischer Operation [16].
Anfallsfrei eingestellte Epilepsiepatienten dürfen in Deutschland entsprechend der Fahrerlaubnis-Verordnung [27] bzw. der Begutachtungsleitlinien zur Fahreignung [6] Fahrzeuge der Gruppe 1 (u.a. Führerscheinklasse B für Pkw <3,5 t) führen, wenn es keine weiteren neurologischen oder neuropsychologischen Einschränkungen der Fahreignung gibt. Dazu zählen unter anderen Ursachen auch Nebenwirkungen der Antikonvulsiva-Therapie. Bei Ausschleichen der Therapie mit dem letzten Medikament und drei Monate nach Therapiebeendigung sollen Patienten nicht fahren, da in diesem Zeitraum das Rückfallrisiko erhöht ist.
Anfallsfreiheit
Ziel einer medikamentösen Epilepsietherapie ist die komplette Anfallsfreiheit von allen individuellen Anfallstypen ohne relevante Nebenwirkungen der Therapie. Das gilt ebenso für operative Eingriffe nach Versagen medikamentöser Strategien bei Herdepilepsien.
Mit der Bonner Studie von Hoppe und Kollegen [9] gibt es publizierte Daten, dass Patienten systematisch die Zahl und Schwere ihrer Anfälle unterschätzen. Jeder behandelnde Arzt sollte diese Möglichkeit vom Patienten völlig unbemerkter Anfälle in Betracht ziehen und sorgfältig nach Hinweisen anhaltender Anfälle fahnden. Aufschluss gibt oft die Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben. Eine Alternative stellt die Langzeit-Video-EEG-Diagnostik dar, wenn begründete Zweifel an der angegebenen Anfallsfreiheit bestehen (z.B. bei anhaltendem Fokus oder epilepsietypischer Aktivität im Routine-EEG).
Anfallsfreiheit bei genetisch generalisierten Epilepsien (siehe Exkurs: Klassifikation) bedeutet Freiheit von Absencen, epileptischen Myoklonien und generalisierten tonisch-klonischen Anfällen. Diese sollte seit mindestens zwei bis fünf Jahren bestehen. Zudem sollten elektroenzephalographisch mit üblichen Provokationsmethoden (verringertes Schlafpensum vor einem EEG mit Hyperventilation und Fotostimulation) keine epilepsietypischen Muster nachweisbar sein [20]. Bei ausdrücklichem Patientenwunsch und auch unter Berücksichtigung fahreignungsrelevanter und beruflicher Aspekte kann bei einem derart günstigen Verlauf eine Dosisreduktion und Absetzen erwogen werden. Bisherige Untersuchungen gingen bei der JME allerdings von einem Rezidivrisiko von etwa 90% aus. Eine Untersuchung von Schneider-von Podewils und Kollegen [23] legt nahe, dass auch bei JME Heilungen vorkommen und damit ein Absetzen einer potenziell nebenwirkungsbehafteten Dauertherapie bei lange anfallsfreien Patienten indiziert sein kann. Bei generalisierten Epilepsien und Anfallsrezidiven nach Medikamentenreduktion gelingt meist die erneute Einstellung mit der bewährten Medikamentendosis [22].
Exkurs: Klassifikation
Bei Epilepsien wird unterschieden, ob die Anfälle aus epileptogenen Netzwerken einer Hemisphäre (fokale Epilepsien) oder aus epileptogenen Netzwerken beider Hemisphären (generalisierte Epilepsien) entspringen. Zudem wird eine weitere Gruppe epileptischer Spasmen abgegrenzt [1].
Zu den genetisch generalisierten Epilepsien mit Persistenz bis ins Erwachsenenalter zählen die juvenile Myoklonusepilepsie (JME), die generalisierte Epilepsie mit ausschließlich generalisiert-tonisch-klonischen Anfällen (teils in Form morgendlicher Aufwach-Grand-Mal) sowie die juvenile Absenceepilepsie (JAE). Hinzu kommen einige Patienten mit kindlicher Absenceepilepsie, die seit der Kindheit bis ins Erwachsenenalter therapiert wurden. Sie können zum Teil während Adoleszenz und Erreichen des Erwachsenenalters einen Syndromwandel mit Auftreten zusätzlicher Myoklonien oder Grand-Mal durchlaufen.
Neben der syndromalen Klassifikation werden die Epilepsien zudem hinsichtlich ihrer Ätiologie klassifiziert [1]. Bisher als idiopathisch bezeichnete Formen sollen nun genetisch genannt werden. In der Praxis erweist sich dieser Begriff jedoch teilweise als problematisch, da die Krankheiten beispielsweise nicht geklärten oder multiplen genetischen Einflussfaktoren unterworfen sind. Dies ist in der Patientenaufklärung komplizierter, als wenn eine klar definierte monogenetische Erkrankung festgestellt werden kann.
Bei den bisher symptomatisch genannten Epilepsien soll nun zwischen strukturell (z.B. infolge Tumor, vaskulärer Läsion, fokaler Dysplasie) und metabolisch (z.B. entzündlich) unterschieden werden. Dagegen wird empfohlen, die bisherige Ursache kryptogen (vermutete, aber mit bisherigen Methoden nicht nachweisbare epileptogene Läsion) zugunsten ungeklärte Ätiologie fallenzulassen.
Akut-symptomatische (epileptische) Anfälle
Der Begriff akut-symptomatisch gilt für Anfälle, die bei Hirnerkrankungen wie Trauma, Infarkt, Blutung oder auch Raumforderung beziehungsweise durch Provokationen auftreten. Darunter fallen Drogenkonsum, Alkohol- oder Medikamentenentzug. Die Definition erstreckt sich auf einen Zeitraum von einer Woche ab dem Akutereignis [4]. Durch Schlafmangel provozierte Anfälle sind oft, besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Erstmanifestation einer generalisierten Epilepsie.
Psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNEA)
Eine relevante Gruppe von Patienten mit Anfällen stellen Menschen mit nicht-epileptischen Attacken dar. Sie werden oft mit Epilepsie verwechselt und die entsprechenden Patienten daher häufig fälschlicherweise antikonvulsiv behandelt. Bei diesen Patienten sollte in der Regel eine Video-EEG-Diagnostik und stationäre Klassifikation der Anfälle erfolgen (wenn möglich auch mit begleitender Psychopathologie). Patienten mit ausschließlich PNEA sollen nicht antikonvulsiv behandelt werden. Hiervon ist keinerlei Wirkung zu erwarten, jedoch sehr wohl potenzielle Nebenwirkungen und unrealistische Erwartungen hinsichtlich der Medikation.
Von Anfallsfreiheit bei fokaler Epilepsie ist auszugehen, wenn weder Auren noch fokale oder generalisierte Anfälle vom Patienten oder fremdanamnestisch über mehrere Jahren zu eruieren sind.
Ein EEG ohne Fokus und ohne epilepsietypische Aktivität stützt die anamnestischen Angaben. Eine verlängerte Ableitung mit Aufzeichnung von Schlafphasen kann zudem hilfreich sein, vor allem bei Patienten mit Prädominanz von Anfällen im Schlaf. Nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff gelten folgende Faktoren als prognostisch günstig bezüglich anhaltender Anfallsfreiheit: Prompt nach OP tritt vollständige Anfallsfreiheit ein, postoperative EEGs sind unauffällig, es bestand histologisch eine nachweisbare und vollständig entfernte epileptogene Läsion (Tumor, Hippokampussklerose, umschriebene fokale kortikale Dysplasie).
Abb. 1. Angriffspunkte von Antiepileptika [mod. nach Mutschler Arzneimittelwirkungen kompakt. Wiss. Verl.-Ges., 2005] SV2A: Synaptic vesicle glycoprotein 2A
Gründe zum Absetzen der antikonvulsiven Therapie
Viele Patienten hegen Befürchtungen, eine wirksame, aber eventuell auch durch langfristige Nebenwirkungen gekennzeichnete Medikamententherapie auf unbestimmte Zeit nehmen zu müssen. Langfristige mögliche Nebenwirkungen sind Auswirkungen auf Körpergewicht, Organfunktionen (u.a. Leber, Niere, Blutbild), kognitive Prozesse, Stimmung und Knochengesundheit. Aber auch potenzielle Wechselwirkungen (u.a. mit hormonellen Kontrazeptiva) sowie Auswirkungen auf Fertilität und das teratogene Risiko bei Einnahme in der Schwangerschaft müssen bedacht werden. Mehrere Schwangerschaftsregister zeigen allerdings inzwischen übereinstimmend im Vergleich zur jeweils herangezogenen Normalpopulation für niedrige Dosierungen von Carbamazepin (bis 400 mg/Tag) und Lamotrigin (bis 300 mg/Tag) bei Empfängnis allenfalls gering erhöhte Fehlbildungsraten (von 1 bis 2% Hintergrundrisiko auf 2 bis 4% unter Therapie). Dies scheint auch für Levetiracetam und Oxcarbazepin bei allerdings noch geringeren Fallzahlen zu gelten. Deutlich erhöhte Fehlbildungsraten von 5 bis 24% für Valproinsäure sowie der Nachweis kognitiver Entwicklungsverzögerungen [18] haben in Deutschland in diesem Fall zu einem Rote-Hand-Brief und einer verschärften Risikoaufklärung von Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter geführt. Auch das in Deutschland weniger oft während der Schwangerschaft eingesetzte Phenobarbital ist mit einem deutlich erhöhten Fehlbildungspotenzial von etwa 8% intrauterin exponierter Kinder ungünstig.
Eine Beendigung der Antikonvulsiva-Therapie sollte typischerweise bei Kindern frühestens nach zwei Jahren, bei Erwachsenen frühestens nach vier bis fünf Jahren jeweils vollständiger Anfallsfreiheit erwogen werden [8].
Bei Erwachsenen sind Faktoren wie eine längere Epilepsiedauer, ein abnormer neurologischer Befund, ein verringerter IQ oder ein abnormes EEG sowie bestimmte Epilepsiesyndrome (z.B. JME) mit einer höheren Rückfallrate verbunden. Bei Kindern sind die Diagnose einer symptomatischen Epilepsie, Epilepsiebeginn in der Adoleszenz und eine längere Dauer bis zum Erreichen von Anfallsfreiheit prognostisch ungünstige Faktoren.
Selbst bei Patienten mit günstiger Prognose sind die Rückfallraten von Anfällen während des Absetzens oder nach Beendigung der Therapie mit 20 bis 25% nennenswert. Daher sollten alle Patienten bzw. Eltern/Betreuer vor Reduktion und Beendigung der Therapie eingehend über die potenziellen Auswirkungen aufgeklärt werden. Dazu gehören auch fahreignungsrelevante oder berufliche Aspekte eines Rückfalls.
Schnelles oder langsames Absetzen
Einige Antikonvulsiva weisen entweder wegen Gewöhnung (Barbiturate, Benzodiazepine) oder aufgrund ihres Wirkungsmechanismus (Vigabatrin als irreversibler Hemmstoff der GABA-Transaminase) bei schneller Reduktion oder schnellem Absetzen ein Risiko von sogenannten Entzugsanfällen auf. Bei solchen sollte eine langsame Reduktion und Beendigung über einige Monate hinweg erfolgen [8].
In Veröffentlichungen verschiedener pädiatrischer Studien war hingegen kein Unterschied zwischen schnell (4 bis 6 Wochen) oder langsam (9 bis 12 Monate) beendeter Antikonvulsiva-Therapie bezüglich der Rückfallhäufigkeit festzustellen [24, 26].
Ausreichende Daten für Erwachsene zum zeitlichen Verlauf der Reduktion und Absetzen fehlen bislang.
Ausgewählte Epilepsiesyndrome und Empfehlungen zum Absetzen der Therapie
Pädiatrische Epilepsien
CAE (childhood absence epilepsy). Bei typischem Beginn mit ausschließlich pyknoleptischen (pyknos: dicht; hier: häufig) Absencen im Schulkindalter und kompletter 2-jähriger Remission unter Antikonvulsiva-Therapie ist eine Therapiebeendigung meist erfolgreich. Nur einer von 16 Patienten in der Studie von Pavlovic und Kollegen [20] hatte einen Rückfall.
Rolando-Epilepsie. Eine Therapiebeendigung bei dieser fokalen altersgebundenen Epilepsie ist bei erfolgreich therapierten Patienten zu empfehlen, sobald sie dem typischen Alter entwachsen und anfallsfrei sind.
Juvenile Epilepsien
Juvenile Absenceepilepsie. Solange Patienten mit JAE nie einen Grand-Mal-Anfall hatten, kann eine Antikonvulsiva-Beendigung nach 2-jähriger Anfallsfreiheit erwogen werden. Es ist jedoch mit lediglich 50% anfallsfrei bleibender Patienten eine Ermessensfrage, ob der Versuch einer Therapiebeendigung unternommen wird. EEG-Kontrollen mit Provokationen sind sinnvoll, um beim Wiederauftreten epilepsietypischer Aktivität gegebenenfalls noch vor Auftreten erneuter Anfälle das Vorgehen nochmals zu bewerten.
Generalisierte Epilepsie mit generalisiert tonisch-klonischen Anfällen (GTCS). Die Rückfallrate betrug in der Untersuchung von Pavlovic [20] bei zehn eingeschlossenen Patienten 80%.
Juvenile Myoklonusepilepsie. Nur wenige Patienten mit JME haben ausschließlich Myoklonien. Sobald Grand-Mal-Anfälle vorgekommen sind, ist das Risiko einer erfolglosen Therapiebeendigung erhöht. Daher wurden beispielsweise in der doppelblinden und randomisierten Akershus-Studie [14] JME-Patienten ausgeschlossen. In der Arbeit von Pavlovic [20] hatten alle JME-Patienten Anfallsrezidive bei Therapiebeendigung. Schneider-von Podewils [23] berichtete über eine longitudinal über Dekaden verfolgte JME-Population mit 33 Patienten. Insgesamt mehr als die Hälfte erreichte Anfallsfreiheit – vier davon mit langfristig erfolgreicher Therapiebeendigung. Prognostisch günstig schien dabei das Auftreten von weniger Grand-Mal-Anfällen und rasch erreichter Anfallsfreiheit zu sein. Dagegen war das spätere Auftreten von GTCS (>12 Lebensjahre) mit anhaltender Therapienotwendigkeit assoziiert.
Epilepsiechirurgie
Operationen erfolgen zunehmend im Kindesalter. Da in diesem Abschnitt der Hirnreifung nachteilige kognitive Effekte einer prolongierten Antikonvulsiva-Therapie noch mehr als bei Erwachsenen befürchtet werden, stellten Boshuisen und Kollegen [3] 2012 nach einer ersten retrospektiven Untersuchung 2015 eine weitere nun prospektive TimeToStop(TTS)-Studie als randomisierte multizentrische europäische Studie vor. Nach kurativer OP erfolgt die Randomisierung in einen Arm mit einer schnellen Antikonvulsiva-Reduktion (4 Monate nach der OP über maximal 8 Monate) gegenüber einem zweiten Arm, in dem erst zwölf Monate nach der OP eine bis acht Monate dauernde Reduktion erfolgt. Beide Gruppen werden 12 und 24 Monate nach der OP neuropsychologisch untersucht. Die Outcome-Bewertung der zweiten Gruppe mit der später begonnenen Antikonvulsiva-Reduktion erfolgt acht Monate nach der früher begonnenen Gruppe.
Erwachsene mit akut-symptomatischen Anfällen
Bei Anfallsfreiheit und beispielsweise nach Sinusthrombose ohne Anhalt für Stauungsblutungen in der MRT-Kontrolle und normalem EEG-Befund kann nach drei Monaten meist die Antikonvulsiva-Prophylaxe ausgeschlichen und beendet werden. Auch bei akuten Anfällen aufgrund eines raumfordernden gutartigen Hirntumors wie eines Meningeoms kann bei Anfallsfreiheit und unauffälligen Befunden in EEG und MRT ein Absetzen erwogen werden.
Epilepsien mit Beginn im Erwachsenenalter
Die Autoren einer aktuellen Cochrane-Analyse stellen zusammenfassend fest, dass hinreichende Daten zum Absetzen von Antiepileptika im Erwachsenenalter mangels ausreichender kontrollierter randomisierter Studien nicht vorliegen [25].
Bei Erwachsenen mit unauffälligem MRT, nur wenigen Anfällen vor Therapiebeginn, unter Therapie normalisiertem EEG sowie regelrechtem neurologischen Befund und IQ, kann nach zwei bis fünf Jahren vollständiger Anfallsfreiheit eine Medikamentenreduktion und -beendigung erwogen werden [22].
Jedoch selbst bei günstigen prognostischen Faktoren beträgt die Rezidivrate 20 bis 25% und aufgrund der Fahreignungsregelungen müssen Wartezeiten von mehreren Monaten in Kauf genommen werden. Daher sollte die Entscheidung für oder wider eine Therapiebeendigung sorgfältig mit Patienten besprochen und abgewogen werden.
Nach erfolgreicher Epilepsiechirurgie. Mehrere Untersuchungen widmeten sich in den letzten Jahren der Frage einer Beendigung der Antikonvulsiva-Therapie nach erfolgreicher epilepsiechirurgischer Operation. Sie waren jedoch alle als nicht randomisierte kontrollierte doppelblinde Studien angelegt [2, 10]. Übereinstimmung herrscht über eine im ersten postoperativen Jahr fortgesetzte Therapie. In einer indischen Studie [21] hingegen werden eine frühere Reduktion und ein schnelleres Absetzen beschrieben. Auch sozioökonomische Probleme wie Medikamentenkosten führten zu dieser Untersuchung. Es handelte sich sowohl um erwachsene als auch pädiatrische Patienten mit mesiotemporalen Eingriffen bei Hippokampussklerose. Bei Anfallsfreiheit wurde bereits drei Monate postoperativ eine Umstellung von einer Zweifach- auf eine Monotherapie begonnen und nach einem Jahr vollständiger Anfallsfreiheit nach OP ein Absetzen begonnen. Auch nach ausschließlich frühen postoperativen Anfällen in den Wochen nach OP oder Auren ohne Beeinträchtigung des Bewusstseins konnte nach zwei Jahren eine Reduktion begonnen werden: Insgesamt 83% der 310 operierten Patienten wurden einem Absetzversuch unterzogen. Am Ende des Follow-up (8±2 Jahre) waren 163 Patienten (52,6%) durchgehend anfalls- und medikamentenfrei. Prognostisch ungünstige Faktoren in dieser Untersuchung wie auch in anderen waren eine lange Epilepsiedauer, ein höheres Lebensalter bei Operation und das Fehlen histologischer Veränderungen im entfernten Gewebe.
In anderen Untersuchungen (z.B. [2]) wird nach Anfallsfreiheit ohne Auren (Engel-Klassifikation Ia) im ersten postoperativen Jahr von einer Remission ausgegangen und dann je nach Patientenwunsch nach 12 bis 24 Monaten eine Vereinfachung oder das Ausschleichen beschrieben [29].
Gemittelt über die verschiedenen Ätiologien und Lokalisationen von Eingriffen ist die Chance einer erfolgreichen postoperativen Antikonvulsiva-Beendigung bei Temporallappen- oder Parietookzipitallappeneingriffen besser bei Vorhandensein einer definitiven und vollständig entfernten epileptogenen Läsion im Resektat. Dazu gehören das Kavernom, gutartige Hirntumoren, fokale Dysplasien oder die Hippokampussklerose. Weitere positive Prädiktoren für ein erfolgreiches Absetzen sind umgehend postoperativ eingetretene Anfallsfreiheit, postoperativ normalisiertes EEG und jüngeres Lebensalter. Allerdings ist selbst bei günstiger Konstellation obiger Faktoren die Prognose einiger Patienten nach Durchbruchsanfällen schlechter im Vergleich mit einer unveränderten postoperativen Therapie. Daher sollte die postoperative Therapie sorgfältig anhand der Patientenwünsche und eingehend abgewogener Risiken und Chancen individualisiert erfolgen [29].
Epilepsiechirurgische Eingriffe außerhalb des Temporallappens sind mit teils geringeren Aussichten auf vollständige Anfallsfreiheit (Frontallappenresektionen) verbunden oder aber werden seltener durchgeführt (parietale oder okzipitale Operationen).
Auch in den Industriestaaten mit seit Jahrzehnten bestehenden Epilepsie-Chirurgie-Programmen vergehen weiterhin noch fast 20 Jahre zwischen Epilepsiediagnose und operativem Eingriff [7]. Erst muss dieser enorme Zeitverzug und die damit fortgesetzte Epileptogenese verkürzt werden, bevor die Erfolge der Epilepsie-Chirurgie für mehr operierte Patienten nicht nur zur Anfalls-, sondern auch Medikamentenfreiheit führen.
Entzündliche („metabolische“) Epilepsie. Bei einer kurativ behandelbaren Epilepsie wie beispielsweise der Steroid-responsiven Enzephalopathie mit Antikörpern gegen Schilddrüse (SREAT) kann bei kompletter Remission zum Teil die Antikonvulsiva-Prophylaxe ausgeschlichen und beendet werden [13].
Oft benötigen Patienten mit antikörpervermittelten Epilepsien (autoimmun und paraneoplastisch) jedoch sowohl eine langfristige Immuntherapie als auch Antikonvulsiva zur Rezidivprophylaxe von Anfällen.
Patientenbeispiel 1
28-jährige sonst gesunde Frau mit Kinderwunsch und Valproat-Therapie (750 mg/Tag). Lediglich drei generalisiert tonisch-klonische Anfälle nach Schlafentzug und Alkoholkonsum als Jugendliche. Vor Ersteinstellung generalisierte epilepsietypische Aktivität im EEG. Anfallsfreiheit seit elf Jahren, trotz gelegentlicher nicht sichergestellter Adhärenz. Schläft regelmäßig (23:00 bis etwa 7:00 Uhr). Büroangestellte in Industriebetrieb, nicht auf PKW angewiesen. Beendigung der Valproat-Therapie in 250-mg-Schritten alle vier Wochen. Auch ohne Medikation anhaltend normales EEG, inklusive früh morgens nach nur sechs Stunden Schlaf und Hyperventilation sowie Fotostimulation. Intensive Begleitung in der Schwangerschaft und in der Postpartalperiode, um bei Verschlechterung des EEG oder sogar bei einem Rezidivanfall zum Schutz des Säuglings und der Patientin beispielsweise mit rasch aufdosierter Levetiracetam-Monotherapie zu reagieren (bisher nicht erforderlich, anhaltende Anfallsfreiheit seit Lebensstilanpassung inzwischen auch ohne Medikation).
Patientenbeispiel 2
30-jähriger Patient mit Hippokampussklerose links und therapieresistenten fokalen und sekundären generalisiert tonisch-klonischen Anfällen zwischen dem 4. und 26. Lebensjahr. Zustand nach links temporaler Polresektion und Amygdalohippokampektomie mit unmittelbar eingetretener Anfallsfreiheit nach Operation. Absolvieren einer großhandelskaufmännischen Ausbildung. Vereinfachung der Lacosamid-Lamotrigin-Kombinationstherapie auf Lamotrigin-Monotherapie ein Jahr nach OP. In postoperativen EEG-Kontrollen zunächst einzelne Sharp-Waves links temporal, die jedoch noch im ersten postoperativen Jahr verschwanden. Beendigung der Lamotrigin-Therapie ausschleichend über vier Monate im zweiten postoperativ anfallsfreien Jahr, da er sich „noch solange nicht gesundet fühle, solange er noch Tabletten nehmen müsse“. Führerscheinerwerb erst nach Therapiebeendigung erfolgt. Verlaufskontrolle seither über sechs Jahre postoperativ, davon über drei Jahre unmediziert ohne Rezidivanfälle.
Patientenbeispiel 3
19-jährige Abiturientin, die nun ein Studium beginnen will. Bisher vier schlafgebundene rasch generalisierte Anfälle zwischen 13. und 15. Lebensjahr, vor Therapiebeginn. Mit Oxcarbazepin 600 mg als Einmaldosis abends seit vier Jahren anfallsfrei. EEG unauffällig. MRT als unauffällig in Radiologiepraxis bewertet, bei Nachbeurteilung in der Epilepsieschwerpunktpraxis (durch Epilepsie-optimiertes Dünnschicht-MRT später bestätigt) jedoch noduläre Heterotopien in beiden Seitenventrikel-Hinterhörnern mit Ausdehnung entlang des rechten Unterhorns bis auf Höhe des Hippokampuskopfs. Da bei dieser ausgedehnten neuronalen Migrationsstörung Anfallsfreiheit oft nicht leicht zu erreichen ist und operative Möglichkeiten nicht in Betracht kommen, wird der Patientin gegebenenfalls zur Umstellung von Oxcarbazepin auf Levetiracetam geraten, mit dem ihr hormonelles Kontrazeptivum sicher wirksam wäre, nicht jedoch zur Antikonvulsiva-Beendigung.
Abkürzungsverzeichnis
CAE |
Childhood absence epilepsy |
EEG |
Elektroenzephalogramm |
GTCS |
Generalisierte Epilepsie mit generalisiert tonisch-klonischen Anfällen |
JAE |
Juvenile Absenceepilepsie |
JME |
Juvenile Myoklonusepilepsie |
MRT |
Magnetresonanztomographie |
PNEA |
Psychogene nicht-epileptische Anfälle |
SUDEP |
Plötzlicher unerklärter Tod bei Epilepsie |
Interessenkonflikterklärung
Matthias D.G. Lindenau hat Honorare für Vorträge, Stellungnahmen oder Artikel von den folgenden Firmen erhalten: Merck KGaA, UCB Pharma GmbH, Desitin Arzneimittel Hamburg, Actelion.
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*Modifizierter Nachdruck aus Arzneimitteltherapie 2017;35:104–11.
Dr. Matthias D. G. Lindenau, Praxis Bredow & Partner, Neurologie, Neuer Wall 19, 20354 Hamburg, und Oberarzt Evangelisches Krankenhaus Alsterdorf, Abteilung Neurologie & Epileptologie, Elisabeth-Flügge-Straße 1, 22337 Hamburg E-Mail: lindenau@neurologie-neuer-wall.de
Epilepsy: withdrawal of antiepileptic drugs
Epilepsy is one of the most common neurological diseases. Most patients need continuous therapy with antiepileptic drugs. The manifold etiologies lead to different therapy strategies as well as prognoses. Because of lacking randomized controlled studies a recent Cochrane analysis summarizes that an individualized consultation concerning antiepileptic drug withdrawal is appropriate.
Key words: Epilepsy, antiepileptic drugs, withdrawal
Psychopharmakotherapie 2017; 24(03)