Priv.-Doz. Dr. Dieter Angersbach, Wolfratshausen
Untersuchungen zur Akutbehandlung der bipolaren Depression wurden bisher entweder mit Patienten einer Bipolar-I-Erkrankung oder mit einer Mischpopulation von Patienten mit einer Bipolar-I-Depression, Bipolar-II-Depression und einer schizoaffektiven Störung durchgeführt. Die bisher einzige Studie zur Akutbehandlung einer Depression im Rahmen einer Bipolar-II-Störung war ein offener Vergleich von Venlafaxin mit Lithium [1], in dem Venlafaxin der Lithium-Behandlung überlegen war. Auf diese Untersuchung bezieht sich die Konsensuskonferenz zur Erstellung einer S3-Leitlinie zur Behandlung bipolarer Störungen [2]. Die Konferenz empfiehlt mit vorsichtiger Formulierung, dass bei Behandlung einer Depression im Rahmen einer Bipolar-II-Erkrankung auf der Grundlage einer einzelnen Studie Venlafaxin gegenüber Lithium bevorzugt werden kann. Die Autoren weisen darauf hin, dass diese Empfehlung der Konferenz eine Mehrheitsentscheidung war, bei der sich einige Mitglieder wegen der dürftigen Datenlage dieser Empfehlung nicht anschließen konnten. Von der alleinigen Gabe von Lithium zur Akutbehandlung der bipolaren Depression rät die Leitlinie an anderer Stelle ab.
Die nun vorliegenden Daten resultieren aus der ersten Doppelblindstudie zur Untersuchung der Wirksamkeit und Sicherheit einer Monotherapie mit einem Antidepressivum im Vergleich zur Monotherapie mit einem Stimmungsstabilisierer zur Akutbehandlung einer depressiven Episode der Bipolar-II-Störung. Die Studie wurde von 2009 bis 2013 in den USA durchgeführt.
Methoden
Eingeschlossen wurden ambulante Patienten im Alter von ≥18 Jahren mit der Diagnose einer Bipolar-II-Störung mit der aktuellen Episode einer Major Depression nach DSM-IV-TR und einem HAMD-17-Score von ≥16 (von maximal 53). Ausschlusskriterien waren unter anderen Manie oder Psychose in der Vorgeschichte, Substanzabhängigkeit oder -missbrauch innerhalb der letzten drei Monate und Non-Response bei einer Behandlung mit Venlafaxin oder Lithium in der gegenwärtigen Episode. Geeignete Patienten wurden im Verhältnis von 1:1 randomisiert einer Behandlung mit Lithium oder Venlafaxin zugeteilt.
Die Venlafaxin-Behandlung wurde mit einer täglichen Dosis von 37,5 mg eingeleitet, die innerhalb der ersten Behandlungswoche auf 75 mg/Tag erhöht und in wöchentlichen 75-mg-Schritten auf die Höchstdosis von 375 mg/Tag in Woche 4 gesteigert wurde. Diese Dosis blieb dann in den nächsten acht Wochen konstant, durfte aber bei Unverträglichkeit bis auf 75 mg/Tag gesenkt werden. Patienten, die auch diese minimale Dosis nicht vertrugen, mussten die Studie abbrechen.
Die Lithium-Behandlung wurde mit der Dosis von 300 mg/Tag begonnen, die innerhalb der ersten Woche auf 600 mg/Tag gesteigert wurde. Durch weitere Dosiserhöhungen in den ersten vier Wochen wurde ein Serum-Lithium-Spiegel zwischen 0,8 bis 1,5 mmol/l angestrebt. Bei Unverträglichkeit konnte der Spiegel auf einen Mindestwert von 0,5 mmol/l gesenkt werden.
Primärer Wirksamkeitsparameter war die Responserate. Response war definiert als Reduktion des HAMD-17-Scores bei Einschluss um ≥50% plus ein Score auf der Clinical Global Impression Scale, Teil Schweregrad (CGI-S), von 1 (nicht krank), 2 (grenzwertig krank) oder 3 (leicht krank). Sekundäre Parameter waren unter anderen die Remissionsrate (Remission definiert als Reduktion des HAMD-17-Scores auf ≤8 und ein Score auf der CGI-S von 1 oder 2), die Änderung des HAMD-17-Scores und des Scores der Young Mania Rating Scale (YMRS) vom Einschluss bis zum Endpunkt sowie die Frequenz der syndromalen hypomanen (nach DSM-IV-Kriterien) und subsyndromalen hypomanen Episoden (<4 Symptome mit einer Dauer von<4 Tagen). Die Wirksamkeitsparameter wurden bei Einschluss und nach den Behandlungswochen 1, 2, 4, 6, 8, 10 und 12 erhoben.
Ergebnisse
Patienten. Insgesamt wurden 129 Patienten eingeschlossen (Lithium-Gruppe: n=64, Venlafaxin-Gruppe: n=65). Das mittlere Alter war 42,9 Jahre, der mittlere HAMD-Score lag bei 20,1±3,8. Die mittlere maximale Venlafaxin-Dosis betrug 256,55 mg/Tag, der mittlere maximale Lithium-Serumspiegel 0,94 mmol/l.
Von den Venlafaxin-Patienten beendeten 15,4% die Studie vorzeitig, während in der Lithium-Gruppe 43,8% der Patienten die Behandlung abbrachen (p=0,0004).
Wirksamkeit. Bei 67,7% der Patienten der Venlafaxin-Gruppe und 34,4% der Lithium-Gruppe trafen die Kriterien für eine Response zu (p=0,0002). Die Remissionsrate in der Venlafaxin-Gruppe war 58,5%, in der Lithium-Gruppe 28,1% (p=0,0007). Im Vergleich zu Lithium führte Venlafaxin signifikant stärker zur Abnahme des HAMD-Scores (p<0,0001; Abb. 1) und auch alle anderen sekundären Wirksamkeitsparameter waren im Vergleich zu Lithium unter Venlafaxin signifikant verbessert.
Abb. 1. Die Änderung der mittleren HAMD-Scores in beiden Behandlungsgruppen im Verlauf der Studie (p<0,0001) [Amsterdam et al. 2016]
Hypomane Symptome. Es zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen in den Änderungen der YMRS-Scores im Anteil der Patienten mit einem YMRS-Score von ≥8 und in der Häufigkeit und Dauer syndromaler und subsyndromaler Episoden. Weiterhin wurden keine klinisch bedeutsamen Unterschiede in Änderungen des Blutdrucks und des Körpergewichts beobachtet.
Es gab in jeder Gruppe drei Studienabbrüche wegen unerwünschter Ereignisse. Unter Venlafaxin waren dies Flush, Übelkeit, Sedierung, Agitation und Tachykardie, in der Lithium-Gruppe führten Nervosität, Kopfschmerz, Gewichtszunahme und Tremor zum Abbruch. Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse traten nicht auf. Nach Ansicht der Autoren zeigt die Studie eine im Vergleich zu Lithium signifikant größere Wirksamkeit von Venlafaxin bei gleicher Verträglichkeit und bestätigt damit die Ergebnisse der früheren offenen Studie.
Kommentar
Wegen der Gefahr eines Stimmungsumschwungs besteht eine weit verbreitete Zurückhaltung, Antidepressiva in Monotherapie zur Behandlung depressiver Episoden bei bipolaren Störungen einzusetzen. In der Regel werden sie deshalb gemeinsam mit einem Stimmungsstabilisierer gegeben. Die vorliegende Studie spricht nun dafür, dass eine Monotherapie mit einem neueren Antidepressivum bei einer Bipolar-II-Störung verträglich und wirksam ist und es bei guter antidepressiven Wirksamkeit nicht zu mehr Switches in die Hypomanie kommt als unter dem Stimmungsstabilisierer Lithium. Allerdings ist es wegen des Fehlens einer Placebo-Gruppe schwer zu beurteilen, wie wirksam die antidepressive Behandlung in dieser Studie wirklich war und ob Lithium überhaupt wirksam war. Zur Beurteilung des Behandlungserfolgs sollte man auch den Schweregrad der Erkrankung der Patienten in Betracht ziehen. Nach dem niedrigen HAMD-Score zu urteilen, waren die Patienten dieser Studie im Durchschnitt nicht schwer, sondern nur mäßig krank. Zudem deutet die geringe Switch-Rate unter der Behandlung darauf hin, dass die eingeschlossenen Patienten eine geringe Anfälligkeit für einen Stimmungsumschwung hatten. Es bleiben also weiterhin Fragen zur Wirksamkeit und Sicherheit einer Monotherapie der Bipolar-II-Depression offen.
Quelle
Amsterdam JD, et al. Short-term venlafaxine v. lithium monotherapy for bipolar type II major depressive episodes: effectiveness and mood conversion rate. Br J Psychiatry 2016;208:359–65.
Literatur
1. Amsterdam JD, et al. Comparison of short-term venlafaxine versus lithium monotherapy of bipolar II major depressive episode: a randomized open-label study. J Clin Psychopharmacol 2008;28:171–81.
2. DGBS e.V. und DGPPN e.V. S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen. Langversion 1.0, Mai 2012.
Psychopharmakotherapie 2016; 23(06)