Kommentar zur S3-Leitlinie „Demenzen“


Ralf Ihl, Krefeld/Düsseldorf

Psychopharmakotherapie 2016;23:118–9.

Wieder eine neue S3-Leitlinie. Diesmal wurde die S3-Leitlinie „Demenzen“ erneuert. Mit jeder Publikation neuer Leitlinien mehren sich die damit verbundenen Probleme. So erscheinen sie meist mit einer Latenz von zwei Jahren zur letzten Erfassung neuerer Literatur und sind damit streng genommen schon zum Erscheinungsdatum veraltet. Schwierig ist es, ihren Stellenwert zu bestimmen. So erscheinen zu Themen wie der Demenz Leitlinien verschiedenster Gruppierungen auf nationaler wie internationaler Ebene. Parallel entstehen Leitlinien zu Gedächtnisstörungen oder zum Stellenwert diagnostischer Verfahren ebenfalls im Programm der AWMF. Die Aussagen sind durchaus nicht immer deckungsgleich. Die Bedeutung im klinischen Alltag ist kaum größer als die einer Meinungsäußerung – wie sich bei genauerer Betrachtung zeigt, zu Recht.

Der Methodikteil der Leitlinie beschreibt die Grundlage für die später getroffenen Aussagen. Hier wird deutlich, dass Aussagen früherer Leitlinien und Metaanalysen eine wesentliche Basis für Schlüsse der Leitlinie darstellen. Dieses Vorgehen wird zwar als evidenzbasiert beschrieben, ist aber alles andere als das [2, 3]. Fehler in den zugrunde gelegten Metaanalysen und Reviews können sich fortpflanzen und zu überraschenden Aussagen führen. So verharrt gemäß der S3-Leitlinie „Demenzen“ die Zahl der Menschen mit Demenz in Deutschland jeglicher epidemiologischer Betrachtung zum Trotz seit der ersten Demenzleitlinie der DGPPN auf 1,2 Millionen Erkrankten (S. 23). Wissen benötigt eine detaillierte Datenkenntnis. Aus zweiter Hand ist sie nicht zu gewinnen.

Im Diagnostikteil der S3-Leitlinie wird ein Dilemma der Demenzforschung deutlich. In immer kürzen Abständen ändern sich diagnostische Systeme und ätiologische Zuordnungen. Die Definitionsschwierigkeiten beginnen bereits bei der erstbeschriebenen Patientin Alzheimers, Auguste Deter, die nicht den häufig benannten „Biomarker“ Apolipoprotein E mit dem Allel ε4 aufwies, sondern homozygot ε3. Konsequenterweise müsste diese Konstellation jetzt als Kriterium für das Vorliegen einer „Alzheimer-Krankheit“ angesehen werden. Wirklich neu ist auch der Ansatz nicht, apparative Parameter als Biomarker einzusetzen, wenn Arbeiten zur Elektrophysiologie oder zur Bildgebung aus den 1980er-Jahren zu Rate gezogen werden. Das Aufspreizen in immer weitere diagnostische Untergruppen ohne hinreichende pathophysiologische Grundlage führt zu dem wesentlichen Ergebnis, dass frühere Studien ohne derartige Unterteilungen mit neueren Studien mit anders selektierten Gruppen nicht mehr vergleichbar sind. Auch ist die Argumentation der Leitlinie nicht stringent. Bei den später folgenden Beurteilungen unterschiedlicher Therapien spielen die weit aufgefächerten diagnostischen Möglichkeiten keine Rolle mehr.

Sehr erfreulich ist das Statement, dass Betroffene und Angehörige ein Recht auf transparente und umfassende Information zu den Befunden haben, die es in Kooperation mit der Kompetenz anderer Professionen multiprofessionell zu vermitteln gilt. Wenig fundiert, teils fehlerhaft und ohne Kenntnis mancher vorgestellter Tests ist hingegen, was zu kognitiven Kurztests, Schweregraden und Neuropsychologie vorgestellt wird. Hier würde die Literatur weitaus spezifischere und besser fundierte Aussagen zulassen. Recht einfache nichtinvasive diagnostische Hilfen, die in der Praxis sehr hilfreich wären (z.B., dass ein unauffälliges EEG bei der Abgrenzung von Demenz und depressiver Pseudodemenz eher für eine depressive Pseudodemenz, ein verlangsamtes eher für eine Demenz spricht), schaffen es nicht in eine Empfehlung, ohne dass das Ergebnis begründet würde. Zu den weiteren diagnostischen Untersuchungen gibt es weitere separate Leitlinien, was das Zurechtfinden nach Hilfen für die Praxis nicht erleichtert.

Bei der medikamentösen Behandlung der kognitiven Störungen der Alzheimer-Krankheit ergeben sich im Vergleich zur ersten DGPPN-Leitlinie zur Demenz keine relevanten Unterschiede. Die Argumentation folgt zwar nicht an allen Stellen einem einheitlichen Bewertungsmaßstab, was die Einschätzung zur Wirksamkeit jedoch nur wenig beeinträchtigt. Unberücksichtigt bleibt zum Beispiel, dass die benannten Studien jeweils andere Testversionen des ADAS-cog-Tests verwendeten. Nur ein Teil von Vergleichs- und Kombinationsstudien wird einbezogen, sodass die Aussagen zum Vergleich oder zur Kombination nur eingeschränkt verwertbar sind. Für die Praxis werden die drei Cholinesterasehemmer, Memantin und Ginkgo biloba (EGb761) als wirksam beurteilt.

Unstimmig wirkt, dass bei Ginkgo biloba (EGb761) darauf verwiesen wird, dass die Studien bei Patienten mit neuropsychiatrischen Störungen (NPS) durchgeführt wurden, im Abschnitt 3.2 zu NPS die Substanz aber nicht mehr auftaucht. Das begriffliche Nebeneinander von NPS und BPSD (Behavioral and psychological symptoms of dementia) wird leider nicht aufgelöst. In klinischen Studien wird meist von NPS gesprochen, die mit dem neuropsychiatrischen Inventar (NPI) gemessen werden. In der Leitlinie werden die BPSD mit dem NPI gemessen. Eng verknüpft mit NPS sind Empfehlungen zum Einsatz von Neuroleptika. Die Aussagen zu Neuroleptika entsprechen dem arbiträren Vorgehen in der Praxis. Zu Beginn (3.2.3) steht der Hinweis, dass anticholinerg wirksame Substanzen (wie Neuroleptika) zu vermeiden sind, dann wird auf die zusätzlich erhöhte Mortalität unter Neuroleptika und diverse andere Nebenwirkungen hingewiesen, um Neuroleptika direkt danach für die Behandlung zu empfehlen (z.B. Empfehlungen 61–69). Erfreulicherweise sind aber auch Alternativen angedacht, wie Carbamazepin oder Antidepressiva. Hier fällt allerdings auf, dass zentrale Literatur mit weiterführenden Aussagen nicht berücksichtigt wurde [1].

Eine wesentliche Veränderung zu früheren Einschätzungen bringt die positive Bewertung einer großen Anzahl von psychosozialen und weiteren nichtinvasiven Interventionen. Leider wird hier im Wesentlichen nur auf Übersichtsarbeiten Bezug genommen. Psychotherapie und psychosoziale Interventionen stehen gleichwertig nebeneinander, unterschiedliche Kompetenzen verschwimmen begrifflich wie inhaltlich. Spannend werden die Entscheidung zur personellen Umsetzung der Erkenntnisse im Rahmen der Diskussionen um die PsychPV werden, da sie mit einer Kostensteigerung verbunden sind. Zusammen mit u.a. den Anforderungen der Arbeitszeitverordnung und dem in den neuen PsychKGs geforderten Mehr an sprechender Psychiatrie hat sich hier ein hoher Handlungsbedarf aufgebaut.

Zu Risikosenkung, Prävention und frühen Stadien von Demenzen nimmt die S3-Leitlinie kaum noch Bezug auf Studien und deren Qualität, kommt aber doch zu Empfehlungen, was ein starkes Vertrauen in die Autoren fordert, das Vertrauen aber auch gleichzeitig schwächt.

Zusammenfassend bleibt die Frage, ob Leitlinien wirklich ein transparenter Weg aus der unüberschaubaren Datenflut der Wissenschaft sind. Sie ist mit einem klaren Nein zu beantworten. Leitlinien ersetzen weder Lehrbücher noch die Lektüre wissenschaftlicher Artikel. Das Lesen wird durch die Flut der Artikel verunmöglicht (30000 allein zur Demenz pro Jahr). Eine Lösung könnte eine internetbasierte, durch Wissenschaftler gepflegte, kommentierbare, internationale, kostenfrei nutzbare Datenbank darstellen. Einen ersten Aufschlag gab es bereits im Kompetenznetz Demenz. Um ihn aufzugreifen und weiterzuentwickeln, bedarf es eines Impulses der Fachverbände. Sich auf den Leitlinien auszuruhen wäre kein guter Rat.

Literatur

1. Gauthier S, Cummings J, Ballard C, Brodaty H, et al. Management of behavioral problems in Alzheimer’s disease. Int Psychogeriatr 2010;22:346–72.

2. Möller HJ, Maier W. [Problems of evidence-based medicine in psychopharmacotherapy: problems of evidence grading and of the evidence basis for complex clinical decision making]. Nervenarzt 2007;78:1014–27.

3. Rosenthal R, DiMatteo MR. Meta-analysis: recent developments in quantitative methods for literature reviews. Annu Rev Psychol 2001;52:59–82.

Die Leitlinie im Volltext:

www.dgn.org/images/red_leitlinien/LL_2015/PDFs_Download/ 038013_S3-LL-Demenzen-240116.pdf

Prof. Dr.med. Ralf Ihl, Klinik für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Diessemer Bruch 81, 47805 Krefeld, und Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf, E-Mail: ralf.ihl@t-online.de

Psychopharmakotherapie 2016; 23(03)