Abdol A. Ameri, Weidenstetten
Depressionen sind komplexe Krankheitsbilder mit einer multifaktoriellen Ätiopathogenese. Die traditionelle Sichtweise einer zugrundliegenden Dysbalance der serotonergen und noradrenergen Neurotransmission kann dieser Komplexität nicht gerecht werden. Nach den Worten von Prof. Dr. Walter E. Müller, Frankfurt, geht man derzeit davon aus, dass es bei depressiven Erkrankungen nicht nur zu einer Störung des zentralnervösen Neurotransmitter-Stoffwechsels kommt, sondern in bestimmten Hirnregionen auch zu einer Beeinträchtigung struktureller und neuroplastischer Prozesse [7]. Die Verbesserung der gestörten Neuroplastizität durch Stimulation von adaptiven Veränderungen auf struktureller Ebene, beispielsweise Zunahme der Synapsendichte, Verbesserung der Dendritenmorphologie oder adulte Neurogenese, scheint eine gemeinsame Endstrecke der Wirkung von Antidepressiva zu sein. Unterschiede zwischen den verschiedenen Wirkstoffgruppen bestehen hingegen in Bezug auf die primären Wirkungsmechanismen, über die dann bestimmte intrazelluläre, konvergierende Signalkaskaden ausgelöst werden, welche letztendlich zu adaptiven, plastischen Veränderungen führen.
Modulation der glutamatergen Neurotransmission
Die meisten der verfügbaren Antidepressiva greifen direkt in die Neurotransmission von Serotonin und Noradrenalin ein. Diese Wirkungsmechanismen sind im Wesentlichen auch für die Entwicklung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen verantwortlich und stellen somit einen wichtigen Aspekt der differenzialtherapeutischen Entscheidungen dar.
Tianeptin (Tianeurax®) ist ein Antidepressivum mit einem bislang einzigartigen Wirkprinzip. Im Gegensatz zu trizyklischen Antidepressiva und zu SSRI verstärkt Tianeptin die Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt und senkt somit die Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt [6]. Das erklärt, dass unter Tianeptin nahezu keine der für SSRI typischen sexuellen Funktionsstörungen auftreten [5]. Gleichzeitig führt die Substanz zu einer Normalisierung der bei Depressionen gestörten glutamatergen Neurotransmission, was sich wiederum günstig auf die Neurogenese und die gestörte Neuroplastizität im Hippocampus und in der Amygdala auswirken kann [6].
Effektiv in der Akut- und Langzeittherapie
Seine akute und rezidivprophylaktische Wirksamkeit hat Tianeptin in einer Reihe von randomisierten doppelblinden Placebo- und aktiv kontrollierten Studien unter Beweis gestellt. In zwei multizentrischen Placebo-kontrollierten sechswöchigen Studien bei depressiven Patienten im Alter von 18 bis 60 Jahren führte Tianeptin (25 bis 50 mg/Tag) zu einer Reduktion des MADRS(Montgomery-Åsberg Depression Rating Scale)-Scores um 44% (vs. 28% unter Placebo; p<0,05) [1] bzw. um 54% (vs. 38% unter Placebo; p<0,01) [2]. Eine Verbesserung zeigte sich bereits an Tag 7 der Therapie.
Im Vergleich zu SSRI konnte eine mindestens äquivalente Wirksamkeit von Tianeptin gezeigt werden, was durch die Ergebnisse einer Metaanalyse von fünf direkten Vergleichsstudien über jeweils sechs Wochen mit Tianeptin versus SSRI (Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin) bei insgesamt 1348 Patienten bestätigt wird [5]. Auch in der Erhaltungstherapie und in der Rezidivprophylaxe hat sich die Substanz bewährt. In einer Langzeitstudie erhielten 268 Patienten mit einer mittelschweren bis schweren depressiven Episode zunächst über sechs Wochen Tianeptin. Danach wurden die Responder (Reduktion des HAMD-Gesamtwerts um >50%) randomisiert und doppelblind entweder mit Tianeptin weiterbehandelt (n=111) oder auf Placebo umgestellt (n=74) und für weitere 16,5 Monate beobachtet. Der Anteil der Patienten mit Rückfallereignissen (Rückfälle und Wiedererkrankungen) war im Tianeptin-Arm signifikant niedriger als im Placebo-Arm (16 vs. 36%; p<0,002) [3] – und zwar unabhängig von der Zahl der Episoden in den letzten fünf Jahren vor Einschluss in die Studie (Abb. 1).
Abb. 1. Wirkung von Tianeptin (25–50 mg/Tag) im Vergleich zu Placebo auf die Zahl von Rückfällen und Wiedererkrankungen in Abhängigkeit von der Anzahl der vorausgegangenen depressiven Episoden. In beiden Gruppen war der Unterschied zwischen Tianeptin und Placebo statistisch signifikant (p<0,002) [nach 3]
Günstiges Interaktionsprofil
Tianeptin hat ein günstiges Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil. Es ist gewichtsneutral und löst keine Verlängerung der QTc-Zeit aus. Vorteile gegenüber SSRI sind die bessere gastrointestinale Verträglichkeit der Substanz sowie das geringere Risiko für sexuelle Funktionsstörungen [1, 2]. Da Tianeptin nur in einem vernachlässigbaren Ausmaß über das hepatische Cytochrom-P450-System metabolisiert wird, weist es in dieser Hinsicht ein geringes Interaktionsrisiko auf [4]. Der Wirkstoff sollte nicht mit einem MAO-Hemmer kombiniert werden. Die empfohlene Dosierung beträgt dreimal 12,5 mg/Tag. Bei älteren und niereninsuffizienten Patienten wird eine Dosisreduktion auf zweimal 12,5 mg/Tag empfohlen [4]. Bei Patienten, die von einem SSRI oder Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) auf Tianeptin umgestellt werden, sollten diese Substanzen zuvor ausschleichend abgesetzt werden, um Absetzphänomene zu vermeiden.
Quelle
Dr. Rudolf Herbst, Wörrstadt; Prof. em. Dr. Walter E. Müller, Frankfurt; Prof. Dr. Hans-Peter Volz, Werneck; Pressegespräch „2 Jahre Tianeptin in Deutschland: Praxiserfahrungen mit einem neuen Wirkprinzip“, München, 2. Juli 2015, veranstaltet von Neuraxpharm Arzneimittel GmbH.
Literatur
1. Cassano GB, et al. A double-blind comparison of tianeptine, imipramine and placebo in the treatment of major depressive episodes. Eur Psychiatry 1996;11:254–9.
2. Costa e Silva JA, et al. Placebo-controlled study of tianeptine in major depressive episodes. Neuropsychobiology 1997;35:24–9.
3. Dalery J, et al. Efficacy of tianeptine vs. placebo in the long-term treatment (16.5 months) of unipolar major recurrent depression. Hum Psychopharmacol 2001;16(Suppl 1):S39–47.
4. Fachinformation Tianeurax®, Stand: März 2013.
5. Kasper S, Olié JP. A meta-analysis of randomized controlled trials of tianeptine versus SSRI in the short-term treatment of depression. Eur Psychiatry 2002;17(Suppl 3):331–40.
6. McEwen BS, et al. The neurobiological properties of tianeptine (Stablon): from monoamine hypothesis to glutamatergic modulation. Mol Psychiatry 2010;15:237–49.
7. Pittinger C, Duman RS. Stress, depression, and neuroplasticity: a convergence of mechanisms. Neuropsychopharmacology 2008;33:88–109.
Psychopharmakotherapie 2015; 22(05)