Gabriele Blaeser-Kiel, Hamburg
Gemäß der S3-Nationalen Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“ können aus klinischen Vergleichstudien sichere Nachweise zur Überlegenheit eines Wirkstoffs oder einer Wirkstoffgruppe kaum abgeleitet werden [1]. Diese Aussage wird jedoch nicht von allen Experten geteilt. Ihr Argument: Bei den Studiendaten handelt es sich um Mittelwerte, und fehlende Signifikanz bedeutet im Praxisalltag nicht gleiche Wirksamkeit – besonders unter der Prämisse einer symptomorientierten Therapie.
Chronischer Stress als Auslöser der Burnout-typischen Depression
Die Depression ist ein multifaktorielles Geschehen. Ebenso vielfältig wie die Pathogenese, bei der neben einer genetischen Vulnerabilität vor allem psychosoziale Faktoren und neurobiologische Störungen eine Rolle spielen, ist die Klinik mit ihrer patientenindividuellen Psychopathologie. Von den psychosozialen Komponenten kommt dem „Stress“ eine immer größere Bedeutung zu. Nach einer von der Techniker-Krankenkasse in Auftrag gegebenen Forsa-Umfrage leidet in Deutschland etwa jeder fünfte Mann und jede vierte Frau unter dem Gefühl der chronischen Überforderung [2].
Ob sich daraus eine psychische Störung entwickelt, hängt davon ab, wie der Betroffene das Maß der erhöhten Anforderungen wahrnimmt – als positiv und stimulierend oder als negativ und zermürbend. Merkmale einer stressinduzierten Depression – von hilfesuchenden Patienten vielfach als „Burnout“ beschrieben – sind zum einen die emotionale Erschöpfung mit dem Gefühl, ausgelaugt und dem Alltag nicht mehr gewachsen zu sein, und zum anderen eine Depersonalisierung mit dem Verlust von Freude, Interesse und Motivation sowie einer distanzierten und zynischen Haltung gegenüber dem sozialen Umfeld.
Anhedonie spricht besser auf Agomelatin als auf SSRI/SNRI an
Um Patienten von den Kernsymptomen der Burnout-typischen Depression zu befreien, haben sich Antidepressiva, die maßgeblich über die Serotonin-Wiederaufnahmehemmung (SSRI) wirken, als weniger geeignet erwiesen als Substanzen, die auf das dopaminerge und noradrenerge Systems abzielen. Als vielversprechend gilt der Einsatz von Agomelatin (Valdoxan®) mit seinem von allen anderen Antidepressiva abweichenden pharmakodynamischen Profil. Die antidepressive Wirkung von Agomelatin beruht auf dem Zusammenspiel von Agonismus an den Melatonin-MT1/MT2-Rezeptoren und dem Antagonismus am postsynaptischen 5-HT2C-Rezeptor. Infolge dieses Synergismus kommt es zu einem Anstieg der noradrenergen und dopaminergen Neurotransmission, spezifisch im präfrontalen Kortex – also dem für die Steuerung emotionaler und kognitiver Prozesse zuständigen Gehirnareal [3].
Ein Beleg dafür, dass Agomelatin die negativen Emotionen ebenso zuverlässig verbessert wie eines der „klassischen“ Antidepressiva, aber den Patienten eine höhere Chance auf die Wiedererlangung ihrer Lebensfreude und sozialen Funktionsfähigkeit bietet, ist eine Vergleichsstudie mit dem Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Venlafaxin. Bei gleicher Wirkung auf die mit HAMD (Hamilton depression rating scale) und HAMA (Hamilton anxiety rating scale) abgefragten Depressions- und Angstsymptome zeigte Agomelatin eine klare Überlegenheit bei der Anhedonie. Der Unterschied zwischen den beiden Therapieprinzipen auf der SHAPS (Snaith Hamilton pleasure scale), die als Goldstandard zur Beurteilung von positiven Emotionen wie Freude, Vergnügen, Lust und Interesse gilt, war bereits nach der ersten Woche signifikant [4].
Erhalt normaler psychobiologischer Funktionen
Die Behandlung mit serotonergen Substanzen geht darüber hinaus mit dem nicht unerheblichen Risiko einher, dass sich trotz Remission der depressiven Stimmungslage die Emotionalität im Sinne einer gefühlsmäßigen Abstumpfung und Distanziertheit gegenüber positiven oder negativen Ereignissen und sozialen Interaktionen verschlechtert [5]. Es ist ein vielfach beschriebenes Phänomen, dass Patienten unter der Einnahme eines SSRI oder SNRI ihre Emotionen gegenüber früher als weniger vielfältig und nicht mehr so intensiv erleben. Die Hoffnung, dass die Patienten unter Agomelatin signifikant seltener von einem „emotional blunting“ betroffen sind als unter einem SSRI, lässt sich aus dem doppelblinden Vergleich von Agomelatin und Escitalopram ableiten, bei dem zur Evaluation auch der speziell diesen Aspekt bewertende „Oxford Depression Questionnaire“ eingesetzt worden war [6].
Zum Gelingen der antidepressiven Therapie trägt auch eine gute Verträglichkeit bei. Diesbezüglich gilt Agomelatin ebenso als gute Wahl. Die typischen Nebenwirkungen anderer Antidepressiva wie vor allem Gewichtszunahme, Sedierung, Agitation, Schlafstörungen oder Mundtrockenheit, die häufig von den Patienten mit Absetzen der Medikation quittiert werden, sind nicht zu erwarten [7]. Besonders kontraproduktiv für das Wiedererlangen eines positiven Selbstwertgefühls sind Störungen des Sexuallebens. Anders als häufig unter der Therapie mit serotonergen Antidepressiva beobachtet, werden Libido, Potenz und Orgasmusfähigkeit durch Agomelatin nicht beeinträchtigt [8].
Quelle
Priv.-Doz. Dr. med. Michael Landgrebe, Agatharied, Prof. Dr. med. Thomas Herdegen, Kiel; Satellitensymposium „Update Psychiatrie für die Hausarztpraxis“, veranstaltet von Servier Deutschland GmbH im Rahmen des 121. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) Mannheim, 19. April 2015.
Literatur
1. S3-Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression. www.dgppn.de/publikationen/leitlinien.html
2. www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/590188/Datei/115474/TK_Studienband_zur_Stressumfrage.pdf
3. Racagni G, et al. Mode of action of agomelatine: synergy between melatonergic and 5-HT2C receptors. World J Biol Psychiatry 2011;12:574–87.
4. Martinotti G, et al. Agomelatine versus venlafaxine XR in the treatment of anhedonia in major depressive disorder: a pilot study. J Clin Psychopharmacol 2012;32:487–91.
5. Price J, et al. Emotional side-effects of selective serotonin reuptake inhibitors: qualitative study. Br J Psychiatry 2009;195:211–7.
6. Corruble E, et al. Efficacy of agomelatine and escitalopram on depression, subjective sleep and emotional experiences in patients with major depressive disorder: a 24-wk randomized, controlled, double-blind trial. Int J Neuropsychopharmacol 2013;16:2219–34.
7. Bauer M, et al. World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) guidelines for biological treatment of unipolar depressive disorders, part 1: update 2013 on the acute and continuation treatment of unipolar depressive disorders. World J Biol Psychiatry 2013;14:334–85.
8. Serretti A, et al. Treatment-emergent sexual dysfunction related to antidepressants: a meta-analysis.J Clin Psychopharmacol 2009;29:259–66.
Psychopharmakotherapie 2015; 22(04)